Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Nr. 9470. Wien, Dienstag, den 6. Januar 1891 Hanslick, Eduard Wilfing, Alexander FWF Der Wissenschaftsfond.
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Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Herausgegeben von Wilfing, Alexander Projektmitarbeiterinnen Bamer, Katharina Pfiel, Anna-Maria Elsner, Daniel Austrian Centre for Digital Humanities and Cultural Heritage Wien 2024

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Maschinenlesbares Transkript der Kritiken von Eduard Hanslick.

Nr. 9470. Wien, Dienstag, den 6. Januar 1891 Hanslick, Eduard Neue Freie Presse Morgenblatt Herausgegeben von Etienne, Michael Friedländer, Max Wien 06.01.1891
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Concerte.

Ed. H. Die „Peer Gynt“ betitelte Orchester-Suite von Grieg ist nicht in dieser Form und Absicht entstanden. Ursprünglich theatralischem Zwecke dienstbar, sollte sie — wie Beethoven’s Egmont- und Weber’s Präziosa-Musik — das dramatische Gedicht von Ibsen, „Peer Gynt“, illustriren. Eine Bühnenaufführung dieses im Grunde unmöglichen Dramas soll in Christiania oder Kopenhagen wirklich ver sucht worden sein. Grieg hat sich rechtzeitig beeilt, seine Musik durch eine Concert-Bearbeitung vor dem voraussicht lichen Schicksal des Stückes zu retten. Die Musik kennt nicht den anständigen Scheintod eines „Buchdramas“; eine Partitur, die blos gelesen und nirgends aufgeführt wird, ist und bleibt wirklich todt. Vielleicht wird in nicht langer Zeit Ibsen’s „Peer Gynt“ nur noch in der Grieg’schen Compo sition fortleben, die nach meiner Empfindung in jedem ihrer Sätze mehr Poesie und Kunstverstand birgt, als das ganze fünfactige Ungeheuer Ibsen’s. Es ist dies eines der ab stoßendsten Bündnisse, das phantastisch ausschweifende Will kür mit innerer Herzenskälte, modernster Pessimismus mit abergläubiger Mystik geschlossen haben. Wer ist Peer (Peter) Gynt? Zu Anfang des Stückes ein zwanzigjähriger norwe gischer Bauernjunge, der durch Verlogenheit und Rauflust seine alte Mutter zu Tode kränkt, überall Unfrieden und Schrecken verbreitet, so daß im Dorfe Alles scheu vor ihm ausweicht. Ungebeten drängt er sich zur Hochzeitsfeier der schönen Ingrid, die einen solideren Freier ihm vorgezogen, bemächtigt sich gewaltsam der Braut und trägt sie „wie ein Kalb“ eiligst über die Berge. Nach einer wilden Hochzeitsnacht mit ihr verstößt er die Jammernde hohnlachend. Ein anderes Mädchen, Solveig, das ihn trotz seiner Verwilderung liebt, verläßt er gleichfalls, nachdem er eine auf der Straße auf gelesene „Troll-Prinzessin“ verführt hat. Auf einem wilden

Eber reitet er mit dieser in die Höhle ihres Vaters, wo die Gnomen und Erdmännchen allerlei häßlichen Aberwitz mit ihm treiben und ihn schließlich zur Höhle hinausprügeln. So wechseln Wirklichkeit und Märchenspuk unaufhörlich in Ibsen’s Stück. Peer Gynt, der nach dem Zeugnisse der eigenen Mutter „nur Lügen spann, wo er ging und stand, der nie mals ein tauglich Werk vollendet“, hat blos Eines im Kopf: zur höchsten Macht zu gelangen. Er will Kaiser werden, „Kaiser der ganzen Welt“! Von Norwegen versetzt uns der Dichter ganz plötzlich an die Küste — von Marokko. Hier sehen wir unseren Peter als einen „hübschen Herrn von mittlerem Alter, elegant gekleidet, eine goldene Lorgnette auf der Brust“. Er gibt ein Diner im Palmenhain; ein Franzose, Monsieur Ballon, ein Deutscher, Herr v. Eberkopf, ein Engländer, Mr. Cotton, und ein Schwede, Trumpeterstrale, sind seine Gäste — witzlose Caricaturen der vier Nationen. Peer Gynt, der plötzlich aus dem Naturburschen ein blasirter moderner Speculant gewor den ist und über Alles mit naserümpfender Ironie und Selbstgefälligkeit aburtheilt, hat durch Sklavenhandel Reich thümer gewonnen. Er plant neue schändliche Unternehmungen und vertraut sie seinen vier Freunden. Diese haben nichts Eiligeres zu thun, als heimlich mit seinem Schiff und seinem Gelde abzusegeln. Peer Gynt bleibt arm und hilflos allein. Auf einem Baume kämpft er mit wilden Affen. Dann stiehlt er ein Pferd und ein türkisches Festgewand und spielt sich vor den Arabern auf den Propheten auf. Die Tochter eines Beduinenhäuptlings, Anitra, erregt sein Wohlgefallen und, wie es scheint, seine Literaturkenntniß, denn er citirt in deutscher Sprache Goethe’s Vers vom Ewig-Weiblichen. Anitra reitet mit ihm auf demselben Schimmel durch die Wüste; sie schmeichelt ihm seine Kostbarkeiten und Waffen ab und jagt mit seinem Roß davon. Nun kann der über listete Peter wieder einen langen pessimistischen Monolog halten. Am Nil, wo die Memnonssäule ihm eine Strophe vorsingt — „Vergangenheitsmusik“, wie er in sein Taschenbuch notirt — begrüßt ihn der Director eines Irrenhauses, Herr Be griffenfeld, führt ihn in seine Anstalt und sperrt ihn ein.

Man macht sich keine Vorstellung von der breiten, witzlosen Abgeschmacktheit dieser Scene, in welcher der verrückte Director die Hegel’sche Philosophie persiflirt und ein Wahnsinniger die nationalen „Sprachstreber“ in Norwegen. Die nächsten Scenen spielen auf einem Seeschiffe; ein furchtbarer Sturm bricht los, Peter Gynt rettet sich auf einem Nachen, von dem er einen armen Teufel herabgestoßen, und landet als achtzig jähriger Greis in Norwegen. Die treue Solveig erwartet ihn in derselben Hütte, wo er sie vor sechzig Jahren schnöde ver lassen, und schlummert ihn mit einem Wiegenliede ein. Wahrscheinlich bedeutet das Peter’s Tod, denn das Stück ist hier zu Ende.

Anfangs eine Art bäuerlicher Siegfried ohne freie Heiter keit, dann ein Stück Manfred ohne geistige Macht, ein Stück Don Juan ohne Poesie und Schönheitssinn, ein Stück Mephisto ohne Humor, schließlich ein erbärmlicher moderner Geldmensch ohne einen Funken von Gemüth — das ist der Held der größten dramatischen DichtungIbsen’s. Um diesen Mittelpunkt der Handlung, welche uns die Folgen des „Uebermaßes von Phantasie“ veranschaulichen soll, wirbeln wie körperlose Schneeflocken eine Menge unverständlicher Figuren und grotesker Episoden hin und her. Der Leser greift sich zeitweilig an den Kopf, ob er verrückt geworden sei. Der deutsche Uebersetzer, L. Passarge, der noch in der Vorrede zur ersten Auflage über die unlösbaren Räthsel dieses Stückes geklagt, erzählt zur zweiten Auflage, erst sieben Jahre später habe Ibsen selbst ihm einige dieser Räthsel aufgelöst, vor Allem das wichtigste: „Peer Gynt ist der Repräsentant des norwegischen Volkes!“ Ein angenehmes Drama, das solch authentischer Auslegungen bedarf, und ein schönes Compliment für das norwegische Volk. Ganz merkwürdig ist die Verschiedenheit des „Peer Gynt“ von den übrigen bekannten Stücken Ibsen’s. Während diese eine fast pedantische Einheit von Zeit und Ort ein halten und sich nicht aus den vier Wänden des bürgerlichen Lebens herauswagen, treiben im „Peer Gynt“ die Jahr zehnte und die Welttheile phantastisch durcheinander. In allen zur Aufführung gelangten Schauspielen Ibsen’s herrscht der

scharfe, unbarmherzig logische Verstand, welchen der Dichter wie einen Spürhund ausschickt, um herauszuwittern, wo irgend eine Falschheit, Verworfenheit, Lüge und Fäulniß vergraben liegt. Im „Peer Gynt“ hat dieser strenge, ordnende Verstand zu Gunsten einer zügellosen Willkür abdicirt und gleicht einem der kleinen Luftballons, dem man aus Spaß den Faden abgeschnitten hat. Die Schlußmoral bleibt freilich immer dieselbe: was besteht, ist werth, daß es zu Grunde geht. Georg Brandes, der geistvolle Literatur-Historiker und gewiß beste Kenner seines Volkes, sagt einmal: „Die dänischen Schriftsteller haben in der Regel den Vorzug, die Ausschweifungen des Geschmacks und der Phantasie zu ver meiden, in welche die deutschen häufig verfallen. Sie haben das Sicherheitsgefühl, welches angeborenes Gleichgewicht und angeborenes Phlegma verleihen; sie sind niemals verwegen, cynisch, rebellisch, wild phantastisch, rein abstract oder rein sinnlich; sie stürmen nie den Himmel, sie fallen nie in einen Brunnen. Das ist’s, was sie bei ihrer Nation so populär macht.“ Von alledem ist Ibsen’s „Peer Gynt“ das gerade Gegentheil. Man sieht, wie Vieles sich auch im Charakter der dänischen Literatur verändert hat.

Nun zu Grieg’s Musik. Sie besteht aus vier Tanz stücken und je einem Vorspiel zu den fünf Acten des Dramas. Im Philharmonischen Concert bekamen wir nur vier von diesen neun Stücken zu hören. 1. Das Vorspiel zum vierten Act, „Morgenstimmung“, eine freundliche Idylle, mit tanzen den Lichtern von Flötentrillern auf der leichten, gleichmäßigen Wellenbewegung. 2. Der zierliche Tanz der schlanken Beduinentochter Anitra; reizend in der Erfindung und zauberhaft instrumentirt. 3. Ein wehmüthig stilles Adagio in A-moll auf den Tod von Peer Gynt’s Mutter; die schlichte, liedmäßige Weise durch einige geistreiche Harmonien gehoben. Endlich 4. der ungemein charakteristische, schwer fällig barocke Tanz der Zwerge in der Höhle der „Troll- Prinzessin“. Die übrigen Stücke, die durchaus interessant, doch überwiegend von zerrissener Form sind (wie der Seesturm“, die Scene zwischen der flehenden Ingrid und dem unerbittlichen Peer Gynt, das Vorspiel zum „Hoch

zeitshof“) hat man, als für sich schwer verständlich, von der Concert-Aufführung ausgeschlossen. Letztere gehört zu den feinsten Cabinetsstücken, welche die Kunst Hanns Richter’s und seiner Philharmoniker uns geliefert hat. Das Publicum wollte nicht aufhören, zu applaudiren, und schien ein da capo erzwingen zu wollen. So gern wir die Grieg’sche Suite wie der hören möchten, dem Dirigenten können wir nur beistimmen, wenn er seinem Grundsatze, nicht zu wiederholen, treu bleibt. Die Zuhörer hatten sich für Grieg an Beifall so verschwende risch ausgegeben, daß uns für das Schicksal der darauffolgenden Novität, einer Symphonie von Dvořak, beinahe bang wurde. Als letzte Nummer auf den gefährlichsten Platz gestellt, hat sie trotzdem mit den echtesten Mitteln gesiegt. Das Werk, von Anfang bis zum Ende unverkennbarer Dvořak, ist doch grundverschieden von seinen beiden ersten, in Wien be kannten Symphonien. Sie klingt freundlicher, klarer, popu lärer als die erste, pathetische in D-dur und die zweite wildromantische in D-moll. Die (noch ungedruckte) neue Symphonie, op. 88, steht in G-dur; der Hörer dürfte füglich auch G-moll sagen, denn in dieser Tonart beginnt der erste Satz (Allegro con brio) und verweilt darin volle sechzehn Tacte lang; dann erst intonirt die Flöte das allerliebste Thema in G-dur. Und doch sind jene sechzehn Moll-Tacte wieder mehr, als eine bloße Introduction, sie bilden ein gesangvolles Thema für sich, das nach dem Seitenthema in H-moll vollständig wiederkehrt. Dvořak liebt es, mit vielen Motiven zu arbeiten, was eine Fülle von Ideen, aber häufig auch eine eigenthümliche Unruhe in seine Stücke bringt. Das erste Allegro, sowie das Adagio seiner neuen Symphonie fließen zwar in Einem Zug ohne Tact- oder Tempowechsel dahin, haben aber trotzdem durch den Wechsel verschiedenartiger Empfindungen etwas Rhapsodisches. Originell wie der erste Satz in seiner jugend lichen Frische ist auch das Adagio in seiner sanften Beschau lichkeit. Auch hier gibt es für den Hörer etwas zu rathen. Das Adagio beginnt mit einer Melodie in Es-dur, deren Ende erst in die Haupttonart C-moll einbiegt; überwiegend bewegt sich aber das Stück in C-dur und schließt auch so.

Reizend wirkt das zweite Thema, eine getragene Melodie der Flöte, welche die Geigen in rasch absteigenden Sext-Accorden staccato begleiten. Dann werden die Rollen gewechselt: die Violinen bringen den Gesang, Flöten und Clarinetten die begleitende Staccato-Figur. Im Scherzo, einem Allegretto in G-moll, herrscht weniger Frohsinn oder Humor, als viel mehr die ruhige Grazie des Menuetts. Nach dem Trio wird herkömmlicherweise das Scherzo wiederholt, aber anstatt da mit zu schließen, stürzt sich der Componist — „der Wenzel kommt!“ — kopfüber in einen polkaartigen derben Bauern tanz. Dvořak hätte vielleicht wohlgethan, diese überflüssige Coda, die mehr böhmisch als schön ist, ganz zu unterdrücken. Der einheitlichste und wirksamste Satz ist das Finale. Von einem Trompetensignal angekündigt, das gleichsam Habt Acht! ruft, tritt ein anmuthiges, gebundenes Thema auf den Plan, eine liedartige Melodie in zwei achttactigen Theilen, deren jeder repetirt wird. Man merkt, daß es auf Variationen ab gesehen ist, und in der That folgen solche in gleichem sym metrischen Rahmen. Das Thema, in den drei Tönen des G-dur-Dreiklangs aufsteigend, ist aus dem Hauptmotiv des ersten Satzes gebildet. Mit rauschendem Jubel bricht es zeit weilig im Fortissimo des ganzen Orchesters los, eine Art glänzendes „Tutti“ von packender Gewalt. Das ganze Finale ist trotz seiner feinen harmonischen und contrapunktischen Arbeit von unmittelbarer Wirkung. Ueberhaupt läßt sich auch diesem Werke Dvořak’s, das zu seinen allerbesten zählt, nachrühmen, daß es nirgends pedantisch ist und doch in seiner Ungebundenheit nichts weniger als naturalistisch. Dvořak ist ein ernsthafter Künstler, der viel gelernt hat und doch über dem Gelernten seiner Naivetät und Frische nicht verlustig geworden ist. Aus seinen Werken spricht eine originelle Per sönlichkeit, und aus dieser Persönlichkeit weht der erfrischende Athem des Unverbrauchten und Ursprünglichen. Sie sind bald üppiger, bald unscheinbarer, bald höher, bald niedriger gewachsen, aber gewachsen sind sie alle. Und dieses natürliche blühende Wachsthum ist es, was in unserer Zeit der vor herrschenden Reflexion uns rasch gewinnt und willig festhält.