Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Nr. 9515. Wien, Samstag, den 21. Februar 1891 Hanslick, Eduard Wilfing, Alexander FWF Der Wissenschaftsfond.
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Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Herausgegeben von Wilfing, Alexander Projektmitarbeiterinnen Bamer, Katharina Pfiel, Anna-Maria Elsner, Daniel Austrian Centre for Digital Humanities and Cultural Heritage Wien 2024

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Maschinenlesbares Transkript der Kritiken von Eduard Hanslick.

Nr. 9515. Wien, Samstag, den 21. Februar 1891 Hanslick, Eduard Neue Freie Presse Morgenblatt Herausgegeben von Etienne, Michael Friedländer, Max Wien 21.01.1891
font-style:italic; font-weight:bold; Deutsch Transkribus OCR und Lektorat. Transformierung der Daten des Transkribus TEI-Export mit "editions.xsl". Formatierung und Referenzen eingefügt. Letztkorrektur für Zwischenrelease.
Hofoperntheater. („Die Flüchtlinge“, komische Oper in drei Acten von Bernhard Buchbinder, Musik von Raoul Mader.)

Ed. H. Nach einem von den Deutschen gewonnenen Gefecht werden mehrere französische Officiere als Gefangene fortgeführt. Zweien von ihnen gelingt es, zu entwischen. Der erste, Prinz Lambignac, flüchtet sich in eine Villa, wo er zwei liebenswürdige Mädchen, Bertha und Gusti, Tochter und Nichte des pensionirten Obersten Bander, antrifft. Sie lassen sich nach einigem Sträuben erweichen, den feind lichen Officier zu verstecken. Es ist höchste Zeit, da der deutsche Sergeant Eisenrost bereits mit seiner Mannschaft anrückt, um dem Entflohenen nachzuspüren. Bertha drängt diesen in die Garderobe ihres auf einer Reise befindlichen Vaters, von wo er in dessen Uniform und Perrücke als — Oberst Bander herauskommt. Inzwischen hat der zweite Flüchtling, Adjutant Dumont, sich gleichfalls in die Ban der’sche Villa gerettet. Nach Lambignac’s Beispiel bemächtigt auch er sich einer Uniform und Perrücke des Alten und wird schnell von den Mädchen für den Bruder des Obersten aus gegeben. Im zweiten Acte finden wir das Personal vermehrt durch ein ältliches Fräulein Emma v. Gleichen und einen geckenhaften Baron Lippnick, Bertha’s Verlobten. Die Gesellschaft ergeht sich sehr heiter beim Kaffee im Garten. Die verkleideten Officiere, Beide bereits gründ lich verliebt in die Tochter und Nichte des Hauses, machen zum Scheine der alten Jungfer den Hof und schlagen ihr sogar eine Entführung vor, um in ihrem Wagen sicher über die Grenze zu gelangen. Gleichzeitig be reden die Mädchen den Baron Lippnick, zum Scherz auch eine Uniform (die dritte!) des alten Obersten anzuziehen und diesem in der spaßhaften Verkleidung entgegenzugehen. Wäh rend das Alles eiligst ins Werk gesetzt wird, erscheint un erwartet der wirkliche Oberst Bander, der nun drei Doppel gänger vor sich sieht. Im dritten Act wird dem Oberst weisgemacht, Lambignac sei sein alter Kriegskamerad Larassi, der sich mit dem Adjutanten eingefunden habe, um die allein stehenden Mädchen zu beschützen. Der Sergeant Eisenrost, im Grunde ein Schafskopf, hält sich für einen feinen Diplo

maten — wie man den häufig gerade auf diejenigen Eigen schaften pocht, die man am wenigsten besitzt. Er hat sich durch zwei Acte hindurch narren lassen und geht noch im dritten in die Falle, als die beiden französischen Officiere in Bauernkleidung ihn um einen Passirschein bitten, den er ohneweiters ausfolgt. Die beiden Flüchtlinge sagen eben ihren Geliebten ein letztes, schmerzliches Lebewohl, da stürzt plötzlich ein Soldat — wir haben ihn längst erwartet — auf die Bühne und bringt die Nachricht, daß der Friede geschlossen sei. Und dieser Friede verschafft uns seinerseits die beglückende Aussicht auf eine Doppelheirat.

Die Flüchtlinge“ kann man ohneweiters eine Faschings posse nennen. Die Unwahrscheinlichkeiten und Widersprüche der Handlung sind so riesig, daß man trotz des Kriegs gewitters und der steten Lebensgefahr der beiden Officiere keine einzige Scene ernst nehmen kann. Die Blindheit und Dummheit aller durch die Verkleidungs-Comödie Gefoppten überschreitet jedes erdenkliche Maß. Die Figur des gefährdeten Liebhabers, der, als alter Oberst verkleidet, über Gicht klagt und hustet, man kennt sie hinlänglich aus Kotzebue’s und anderen Possen. Aber auf einmal vier solche asthmatische Heldengreise auf der Bühne zu sehen, das ist mehr, als man billigerweise erwarten kann. Wenn wir an das Libretto nur die Ansprüche einer Posse stellen, so können wir dem Verfasser das Lob nicht versagen, daß er das bunte Durch einander gewandt und lustig arrangirt hat. Ausschließlich auf Situations-Komik bedacht und stets auf der Jagd nach neuen Ueberraschungen, konnte er sich um die Charakteristik der einzelnen Personen nicht viel kümmern. Die beiden galanten Officiere, der bärbeißige Oberst, die verliebte alte Schachtel, der dumm pfiffige Sergeant, der näselnde, geschniegelte Baron — es sind lauter wohlbekannte Physiognomien. Die beiden Schloß fräulein rechnen wir nicht dazu, da sie eigentlich gar keine Physiognomie haben. Der erste Act wirkt recht erheiternd, im zweiten stockt die Handlung schon empfindlich, um im dritten beinahe einzuschlafen. Ohne diese Längen würde der anspruchslose Schwank einen noch größeren Lacherfolg erzielen, da der Verfasser sich weislich hütet, den Zuschauer durch pathetische Anwandlungen aus der einzig zweckmäßigen Faschungsstimmung zu reißen.

Die Musik ist von Herrn Raoul Mader, einem in Wien als Clavierlehrer und Gesangs-Correpetitor geschätzten,

auch persönlich liebenswürdigen jungen Mann. Als Com ponisten kannte ich ihn bis heute nur durch einige Lieder, die mir, offen gestanden, wenig Vertrauen einflößten. Schon aus den Titelblättern dieser einzeln erschienenen Lieder strömt ein eigenthümlich fader, süß-säuerlicher Geruch, welchem der schmachtende musikalische Inhalt völlig entspricht. „Bei dir allein!“, Herrn Hofopernsänger Winkelmann gewidmet. Wärst du mein eigen!“ Herrn Hofopernsänger Sommer zugeeignet. „Dich will ich ewig lieben!Herrn Kammersänger G. Müller gewidmet. „Schläfst du, Liebchen, schläfst du schon?“ Herrn Hof opernsänger Schrödter gewidmet. Ich weiß wirklich nicht, ob das Liebchen schon schläft; wenn nicht, so braucht sie sich’s nur noch einmal vorsingen zu lassen. Es sind durch aus Lieder, die, mit den gewöhnlichen musikalischen Flossen ausgestattet, im seichtesten Sentimentalitäts-Wasser plätschern. Zeitweilig stecken etliche dankbare hohe Brusttöne ihre Noten köpfe heraus, nach dem Applaus des verehrlichen Publicums auslaugend. Die sehr seltene Auszeichnung, daß vor einem noch durch keinerlei größere Arbeit legitimirten jungen Com ponisten gleich die Pforten des Hofoperntheaters aufspringen, mußte das Publicum natürlich mit erwartungsvoller Neu gier erfüllen. Dasselbe wird mit Befriedigung wahrgenommen haben, daß Herr Mader in den „Flüchtlingen“ nur selten in seinen Schlafenden-Liebchen-Ton verfällt, vielmehr sich überwiegend einer bequemen Heiterkeit befleißt, einer Hei terkeit, die in ihren Höhepunkten an jene Berliner Lieute nante erinnert, die „beinahe Sect bestellt hätten“. Er scheint mehr aus Rücksicht für seine Gäste lustig zu sein, als aus innerem Drange. Jedenfalls verdient Herr Mader das Lob, daß er zwar stellenweise sentimental, aber nicht geradezu pathetisch, tragisch, wagnerisch wird; er will uns nie zeigen, daß er sehr gut eine heroische große Oper schreiben könnte, was er, wie ich vermuthe, auch wirklich nicht kann.

So wie das Textbuch billigerweise nur als Posse zu beur theilen ist, so wird man die Musik der „Flüchtlinge“ vielleicht am richtigsten zur Operette rechnen. An und für sich bedeutet das durchaus keinen Tadel. Es gibt sehr gute Operetten, und ich möchte für mein Theil lieber die Partitur zur „Schönen Helenageschrieben haben, als den „Tribut von Zamora“; lieber die Fledermaus“ als den „Vasall von Sziget“. Das Wichtigste ist immer das Talent, das sich in diesem oder jenem

Genre voll bewährt. Die Frage, ob ein erstes Kunstinstitut Operetten aufführen dürfe oder nicht, wird davon nicht be rührt. Der Begriff der Operette ist übrigens ein schwankender. Manche „komische Oper“ aus unserer Väter Zeit würde heute nur zu den Operetten gezählt werden, und die neuesten Wiener „Operetten“ mit ihren blechgepanzerten Finales und Heldentenor-Partien hätten vor fünfzig Jahren „Opern“ ge heißen. Die wesentlichsten Merkmale der Operette: eine possen haft komische Handlung, gesprochener Dialog und popu läre, in knappste Formen gefaßte Melodie, stellen sie der Oper gegenüber, textlich wie musikalisch, auf ein ästhetisch niedrigeres Niveau. Dieses Niveau und nicht der größere oder kleinere Umfang ist entscheidend. Die „Cavalleria rusticana“ ist ein einactiges Bauern stück, und doch wird Niemand sie eine Operette nennen, selbst wenn sie im Carl-Theater gespielt würde. Mader’s Flüchtlinge“ hingegen füllen drei Acte und beschäftigen die besten Kräfte der Hofoper, dennoch sind sie Operetten-Musik. Wir finden darin alle in der Wiener Operette typisch ge wordenen Effecte: fast jedes im 4/4 Tact beginnende Ge sangstück mündet in ein langsam wiegendes Walzertempo, das als Refrain zum Ueberdruß wiederholt wird; die Form des Strophenliedes macht sich auch in den Ensembles breit u. s. w. Auf diesem Boden bewegt sich Mader als ein leichtes, gut geschultes Talent, das einfache Musikformen ge schickt handhabt, dem Charakter der Personen und Situationen im Allgemeinen gerecht wird, sehr stimmgemäß für den Ge sang und zweckmäßig für das Orchester setzt. Was man schwer vermißt, ist die Originalität der Erfindung. Ich ent sinne mich keines einzigen Themas in den „Flüchtlingen“, das mir als neu, packend, geistreich aufgefallen wäre. Eben sowenig bietet der dramatische Ausdruck oder die Structur der musikalischen Formen irgend einen neuen, frappanten Zug. Die Ensemble-Nummern, die einen breiter ausgeführten Bau erheischen, sind größtentheils auf Lortzing’schen Scha blonen zugeschnitten. Das gibt der Musik ein etwas ver staubtes Aussehen, denn bei aller Vorliebe für Lortzing scheint es mir doch bedenklich, fünfzig Jahre nach dem „Czar und ZimmermannLortzingisch zu schreiben. Es fehlt aber der Musik Mader’s nicht blos die Originalität, es fehlt ihr auch an Temperament. Von einem jungen Componisten herrüh

rend, klingt diese Musik doch gar nicht jugendlich. Wie schwunglos und umständlich rückt sie in stets gleichem vier tactigen Rhythmus vor, wie zaghaft im Komischen, wie flau in der Liebe. Wie klebt das Alles ohne innere musikalische Triebkraft an dem monotonen Metrum des Textes! Es ist nichts geradezu schlecht oder häßlich in dieser Partitur, nichts unehrlich, gekünstelt oder geheuchelt; aber es ist Alles — Nichts. Wenn ich einige kurze Conversationsstellen, wie z. B. das erste Auftreten der beiden Mädchen, ausnehme, und hin und wieder einen gelungenen Anfang, wie den des Lach terzetts, so bin ich fast am Ende mit der Aufzählung der Lichtblicke. Vielleicht wäre noch Einzelnes hervorzuheben, aber der Stempel des Ordinären und Geistlosen, der dem Ganzen aufgedrückt ist, macht es mir beim besten Willen unmöglich, tiefer ins Detail einzugehen.

Die wohlwollende Absicht der Direction, zwei jungen Wiener Talenten den Weg in die Oeffentlichkeit zu bahnen, ist gewiß nicht anzufechten. Auch sei nochmals ausdrücklich wiederholt, daß das Publicum des ersten Abends die „Flücht linge“ überaus günstig aufgenommen hat. Ein solcher Er folg, selbst bei einer für den Componisten liebevoll vorein genommenen Hörerschaft, bedurfte freilich der Mithilfe einer so ausgezeichneten Aufführung wie die des Hofoperntheaters. Große Ansprüche macht zwar die Mader’sche Oper weder an die Stimmen noch an die Gesangskunst der Darsteller, desto mehr aber an ihr schauspielerisches Talent, ihre Be weglichkeit, Anmuth und Laune. Welche deutsche Opernbühne wäre wol im Stande, für die sechs komischen Männer- Rollen dieses Stückes sechs gute Schauspieler herauszustellen, wie es die Herren Schrödter, Mayerhofer, Rei chenberg, Stoll, Horwitz und Felix sind? Dazu eine köstliche komische Alte wie Frau Ida Bayer, und zwei so reizende, jugendliche Sängerinnen wie Fräulein Re nard und Fräulein Forster? Es schadet diesen Beiden nichts, daß ich sie in der Eile zuletzt genannt habe; sie bleiben doch die Ersten, die echten Perlen auf einer leider werthlosen Krone. Da schließlich die Novität sehr hübsch scenirt und von Herrn Director Jahn mit jener hingeben den Sorgfalt dirigirt ist, die er jedem von ihm protegirten Werke zuwendet, so muß die Aufführung der „Flüchtlingezu den allerbesten des Hofoperntheaters gezählt werden.