Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Nr. 9525. Wien, Dienstag, den 3. März 1891 Hanslick, Eduard Wilfing, Alexander FWF Der Wissenschaftsfond.
Georg-Coch-Platz 2 1010 Wien Österreich Wien
Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Herausgegeben von Wilfing, Alexander Projektmitarbeiterinnen Bamer, Katharina Pfiel, Anna-Maria Elsner, Daniel Austrian Centre for Digital Humanities and Cultural Heritage Wien 2024

Sie dürfen: Teilen — das Material in jedwedem Format oder Medium vervielfältigen und weiterverbreiten

Bearbeiten — das Material remixen, verändern und darauf aufbauen und zwar für beliebige Zwecke, sogar kommerziell.

Der Lizenzgeber kann diese Freiheiten nicht widerrufen solange Sie sich an die Lizenzbedingungen halten. Unter folgenden Bedingungen:

Namensnennung — Sie müssen angemessene Urheber- und Rechteangaben machen, einen Link zur Lizenz beifügen und angeben, ob Änderungen vorgenommen wurden. Diese Angaben dürfen in jeder angemessenen Art und Weise gemacht werden, allerdings nicht so, dass der Eindruck entsteht, der Lizenzgeber unterstütze gerade Sie oder Ihre Nutzung besonders.

Keine weiteren Einschränkungen — Sie dürfen keine zusätzlichen Klauseln oder technische Verfahren einsetzen, die anderen rechtlich irgendetwas untersagen, was die Lizenz erlaubt.

Hinweise:

Sie müssen sich nicht an diese Lizenz halten hinsichtlich solcher Teile des Materials, die gemeinfrei sind, oder soweit Ihre Nutzungshandlungen durch Ausnahmen und Schranken des Urheberrechts gedeckt sind.

Es werden keine Garantien gegeben und auch keine Gewähr geleistet. Die Lizenz verschafft Ihnen möglicherweise nicht alle Erlaubnisse, die Sie für die jeweilige Nutzung brauchen. Es können beispielsweise andere Rechte wie Persönlichkeits- undDatenschutzrechte zu beachten sein, die Ihre Nutzung des Materials entsprechend beschränken.

Maschinenlesbares Transkript der Kritiken von Eduard Hanslick.

Nr. 9525. Wien, Dienstag, den 3. März 1891 Hanslick, Eduard Neue Freie Presse Morgenblatt Herausgegeben von Etienne, Michael Friedländer, Max Wien 03.03.1891
font-style:italic; font-weight:bold; Deutsch Transkribus OCR und Lektorat. Transformierung der Daten des Transkribus TEI-Export mit "editions.xsl". Formatierung und Referenzen eingefügt. Letztkorrektur für Zwischenrelease.
Concerte.

Ed. H. Nur selten wagt sich ein Clavier-Virtuose an BrahmsD-moll-Concert, das wir nach langer Zeit wieder einmal bei den Philharmonikern zu hören bekamen. Die Schwierigkeiten dieses Werkes, äußere und innere, geben nicht dem Spieler allein, sondern auch dem Hörer zu schaffen. Ich gestehe, daß mir das D-moll-Concert trotz seiner unverkenn baren Genialität anfangs weit mehr abwehrend als anziehend gegenüberstand. Seine gewitterschwüle, versengende Leiden schaft und Trotzgewalt scheint das Gemüth des Hörers wie ein Dämon des Pessimismus zu bedrohen, während unser musikalisches Denken sich gleichzeitig an der Lösung seiner contrapunktischen Geheimnisse abarbeitet. Man muß dieses mächtige Tonstück wiederholt hören und gut hören, um seine eigenartige herbe Schönheit ganz zu erfassen und zu genießen. Zu Brahms’ zweitem Concert, das nur zu erklingen braucht, um zu siegen, verhält sich dieses erste ungefähr wie seine erste Symphonie zur zweiten. Nicht nur in ihrem finsteren, wilden Schmerzgefühl, auch in den Anklängen an Beet hoven’s „Neunte“ berühren sich BrahmsD-moll-Concert und die zwanzig Jahre spätere C-moll-Symphonie. Nie zuvor war ein Clavierconcert mit so ernster, strenger Rede aufgetreten, so durchaus symphonisch und aller blos glänzen den Wirkung abgewendet. Wie merkwürdig, daß Brahms das D-moll-Concert, ein Werk gereifter Mannheit und Meisterschaft, als Jüngling geschrieben und vor mehr als dreißig Jahren schon in Leipzig öffentlich gespielt hat! Wer das Stück von Brahms selbst oder von Bülow einmal gehört, der mochte an dem Vortrage des Herrn Leonard Borwick gar Vieles vermissen. Es fehlt dem jungen Manne noch an ausreichender Kraft, geistiger wie physischer, gerade für diese Aufgabe. Herr Borwick zieht wenig Ton aus dem Clavier; sein Anschlag ist flach in den Gesangstellen, hart und doch unausgiebig im Forte. Correct war Alles wieder gegeben — was allerdings schon eine bedeutende Technik beweist — aber die Tiefe und Leidenschaft, die brennenden Farben fehlten. In dieser kühlen, reinlichen, unanstößigen Vortragsweise kam mir Herr Borwick beinahe vor wie ein englischer Gentleman, was er auch wirklich ist.

Goldmark’sLändliche Hochzeit“ ist dem Publicum als eine der freundlichsten Compositionen dieses Autors bekannt. Sie hat auch diesmal sehr gefallen und könnte es mit Hilfe

einiger bescheidener Kürzungen noch mehr. Der erste Satz, für sich schon ein langes Stück, freilich ein sehr interessantes, hat ein Gefolge von noch vier anderen; kein Wunder, wenn uns das Finale etwas ermüdet findet. Wie schon die Ueber schriften des Ganzen und der einzelnen Theile darthun, ist die „Ländliche Hochzeit“ eine Art Programm-Musik, ohne Zweifel unter dem Einflusse von Beethoven’s „Pastoraleund der A-dur-Symphonie entstanden, aus welcher man ja gleichfalls eine ländliche Hochzeit herauszuhören liebt. Um so rühmlicher, daß Goldmark hier — wie im Großen und Ganzen überall — sich von Nachahmung fernhält und seiner Eigenart treu bleibt. Wer wollte es Goldmark verübeln, daß er aus einer ländlichen Hochzeit Anderes heraushört, als Haydn, Mozart, Beethoven? Sehen doch Auerbach oder Keller dieselbe Landschaft, dieselbe Scene mit anderen Augen an, als es Geßner oder Jean Paul gethan. Goldmark ist durchaus modern, immer lebhaft erregt, oft nervös und überreizt — aber der Musiker in ihm läßt doch nie den Poeten vermissen und der Poet selten den guten Musiker.

Zur Eröffnungsnummer des letzten „Gesellschafts concerts“ hatte Herr GerickeMozart’s Chöre und Zwischen actmusik zu Gebler’s Drama „König Thamos“ gewählt. Bei aller Verehrung für Mozart — die Wahl war nicht glücklich. Immer wieder, von Zeit zu Zeit, versucht man es im Concertsaal mit diesem König Thamos, um sich zu über zeugen, daß er uns mit jedem Jahr fremder und gleichgiltiger geworden ist. Nach einer Aufführung des Gebler’schen Dramas in Wien (1783) schreibt Mozart selbst an seinen Vater: „Das Stück ist hier, weil es nicht gefiel, unter die verworfenen Stücke gesetzt, welche nicht mehr aufgeführt werden. Es müßte nur blos wegen der Musik aufgeführt werden, und das wird wol schwerlich gehen.“ Nun könnte uns freilich der Schlag treffen, wenn wir heute die entsetzliche egyptische Comödie mit in den Kauf nehmen sollten zu Mozart’s Bühnenmusik — andererseits ist aber nicht zu leugnen, daß diese Musik, vom Drama losgetrennt, theils unverständlich, theils wirkungslos bleibt. Das Beste darin, die feierlichen, klangvollen Chöre, hat Mozart durch Unterlegung eines lateinischen Textes in die Kirche hinüber gerettet, wo sie heute noch eine gedeihliche und erbauliche Existenz führen. Unser Interesse an der Thamos-Musik ist überwiegend histo rischer Art, indem wir deutliche Keime der späteren „Zauber flöte“ darin wahrnehmen. An einem solchen historischen Interesse vermag sich aber kein Publicum zu erwärmen, wie dies auch die letzte Aufführung im „Gesellschaftsconcert“

zweifellos dargethan hat. Es folgte Robert Volkmann’s originelle, schwärmerische „Serenade“ für Solo-Violoncell und Orchester und hierauf Goldmark’sFrühlingshymne“. Die Hauptwirkung dieser Composition birgt ihr Einleitungs satz, welcher in der Schilderung der im Lenz zusammen strömenden Quellen und Bäche ein Cabinetsstück musikalischer Malerei liefert. Was sich dann in Form eines Alt-Solos daran knüpft, ist als moralisirende Betrachtung wenig geeig net, die Quellen musikalischer Erfindung sprudeln zu machen. Frau Gisela Körner sang das Alt-Solo mit guter Wirkung. Beethoven’sPhantasie für Clavier, Or chester und Chor“ (op. 80) haben wir nach langer Zeit wieder gern gehört. Unter Beethoven’s großen Werken prangt sie gewiß nicht in vorderster Reihe; steht doch das Aufgebot so reicher Mittel kaum im Verhältniß zu dem leichten Inhalt des Chors, der uns im Grunde nur als ein Vorausklang des Freudenhymnus in der Neunten Symphonie interessirt. Beethoven schien förmlich verliebt in diese kleine Melodie, die einem seiner geringfügigsten Lieder, „Seufzer eines Ungeliebten“, entnommen ist, nebenbei auch an sein Glück der Freundschaft“ (op. 88) erinnert. Wie unbe rechenbar ist die Macht eines großen Genius! Die an sich ganz physiognomielose Melodie hat durch Beethoven nicht nur Physiognomie, sondern Ruhm und Bedeutung erlangt. Zu einem vollständigen Bilde von Beethoven ist die Chorphantasie unentbehrlich. Man kennt Beethoven un vollkommen, wenn man ihn nur von seiner großen patheti schen Seite kennt, nicht auch in seinen heiteren, frei spielen den Momenten. Und in der ersten Hälfte dieser Phantasie, vor Eintritt des Chors, fesseln uns so viele geniale, echt Beethoven’sche Züge, sowol in dem Clavier-Solo, wie in den Orchester-Variationen, daß man des Hörens gar nicht satt wird. In dem Beethoven’schen Werk hat Herr Ferdinand Löwe, in der Volkmann’schen Serenade Herr Ferdinand Hellmesberger sich als Solospieler ausgezeichnet.

Von allen fremden Pianisten ist in dieser Saison Herrn Emil Sauer der größte Erfolg zugefallen. In vier Con certen hat er ein überaus vielseitiges Programm allein be wältigt und sich als Künstler ersten Ranges bewährt. Glänzend und kraftvoll in allen Aufgaben energischer Bravour, wirkte er doch am schönsten in den zarten, sinnigen Poesien von Schumann und Chopin. Da ist Sauer ein wahrer Troubadour des Claviers. In bescheidenem Abstand von Sauer haben zwei jüngere einheimische Pianisten sich lebhaften und verdienten Beifall errungen: Fräulein Olga v. Hueber

und Herr Theodor Pollak. Der große Erfolg von Alfred Grünfeld’s alljährlichem Concert ist bekannt; er erreichte heuer den höchsten Gipfel der „Sensation“, indem mehrere Zuhörer vor Hitze und Gedränge ohnmächtig wurden. Mehr kann ein Virtuose in dieser concertfeindlichen Zeit unmöglich verlangen. Nicht so glücklich war der Violinspieler Herr Waldemar Meyer; in seinem Concerte konnte jeder Zuhörer sich im Saale sehr frei und ausgiebig bewegen. Herr W. Meyer gab — wie bereits in seinem ersten Concerte — schätzenswerthe Beweise einer sehr entwickelten Technik; man applaudirte ihm nach Verdienst, mehr achtungsvoll als enthusiastisch. Die größte Virtuosenkunst erringt keine Herr schaft über die Gemüther, wenn ihr das individuelle Gepräge fehlt. Die bedeutendste Leistung in diesem Concert war Ignaz Brüll’s Vortrag der selten gehörten Claviersonate op. 58 von Chopin.

Nachdem unser einheimischer Meistersänger Gustav Walter uns mit einem zweiten Concert erfreut hatte, er schien die hehre Meisterin aus der Fremde: Alice Barbi. Der überfüllte Concertsaal verrieth die freudige Erwartung, mit welcher man der Wiederkehr dieser Sängerin entgegen sah. Sie hatte bei ihrem ersten Besuch, im März 1889, alle Herzen gewonnen; im vorigen Jahre fand sie die Sympa thien noch gesteigert, und jetzt macht sie die gleiche, für uns selbst ebenso erfreuliche Wahrnehmung. Die Barbi zu hören, treibt uns nicht etwa „Mode“, sondern das tiefe Bedürfniß nach dem Wahren und Schönen. Der geplagteste Kritiker, der sonst nur seufzend die Ankündigungen von wieder einem Halbdutzend „Liederabenden“ liest, freut sich (wenn ich nach mir urtheilen darf) auf jedes Auftreten der Barbi und möchte keines verabsäumen. Seit der Jenny Lind, die freilich nebenbei als vollendetste Coloratursängerin glänzte, hat kein Liedervortrag mich in dem Grade erfreut und lange nachklingend erfüllt, wie der von Alice Barbi. So ver schieden die Beiden auch waren in Aussehen und Tem perament — verschieden wie eben schwedische und italie nische Landschaft — sie glichen einander in der Verschmelzung von edelster Gesangstechnik mit unmittelbar seelenvollem, geistigem Ausdruck. Der kleinste Vortrag der Barbi beweist, daß tiefes Studium ihm vorausgegangen, ein Versenken und Einleben in die Stimmung des Ganzen, dann in jede Einzel heit des Gedichtes, wie der Composition. Ohne ernste Arbeit sind solche Leistungen, auch die scheinbar leichtesten, nicht möglich. Aber die Spur dieser Arbeit und jeder Hauch von Absichtlichkeit ist verschwunden, sobald das Lied, wie ein eigenes Erlebniß, aus der Brust der Sängerin strömt. In

ihrem ersten Concert klang die Stimme der Barbi etwas ermüdet, in den energisch nach der Höhe drängenden Stellen angestrengt. Hoffentlich nur in Folge der eben überstandenen Concertreisen, vor deren gehetztem Tempo wir die Künstlerin gerne in ihrem wie in unserem Interesse gewarnt wissen möchten. Was sie diesmal aus dem vergrabenen Schatz älterer italienischer Musik gewählt hatte (Arien von Carissimi, Scarlatti, Fesch), stand nicht auf der Höhe dieser Meister, noch des vorjährigen italienischen Programms der Barbi. An ihren deutschen Vorträgen bewunderten wir wieder die schöne Deutlichkeit der Aussprache; ihre deutschen Colleginnen können auch hierin von der Italienerin lernen. Schubert’s Doppelgänger“ eignet sich schon durch den Inhalt nicht recht für eine Frauenstimme; daß die Sängerin, lebhaftem Beifalle nachgebend, das Lied obendrein wiederholte, stimmt noch weniger mit meiner Empfindung. Die gespenstisch be klemmende Tragik dieses Stückes verträgt keine Wiederholung. Ueberhaupt pflegt jedes Da capo den ersten Eindruck nicht sowol zu steigern, als abzuschwächen. Die stärkste, nach haltigste Wirkung erzielte Alice Barbi mit sechs Liedern von Brahms. „Immer leiser wird mein Schlummer“ ist wol noch nie so ergreifend und bei aller schmerzlichen Innigkeit zugleich so einfach gesungen worden.

Der Wiener Männergesang-Verein, der sonst gerne in fröhlichen oder empfindsamen Liedchen schwelgt, brachte in seinem letzten Concert nur vier vom ganzen Orchester begleitete, sehr ernste Compositionen. Unser vor trefflicher Kremser erschien gleichsam mit „großen Conduct“. Zuerst der „Germanenzug“ mit der Leiche des Gothenkönigs, eine Composition von Franz Krinninger, die uns nichts Neues offenbart, sich aber recht wirksam, wohlklingend im gebräuchlichen Liedertafelstyl bewegt. Hierauf Brahms tief ergreifende „Rhapsodie“, das Alt-Solo von Marianne Brandt in großem Styl, mit leider etwas angegriffener Stimme gesungen. Sodann das Schubert’sche Lied „Grenzen der Menschheit“, von Richard Heuberger mit künstlerischer Bescheidenheit wirkungsvoll für Männerchor und Orchester ge setzt. Endlich als vierte, letzte und umfangreichste Nummer eine Das Meer“ betitelte Symphonie-Ode für Männerchor, Orchester und Orgel von Jean Louis Nicodé in sieben Sätzen. Durch ihre Bezeichnung als „Symphonie-Ode“, durch ihren tonmalerischen Stoff und die Abwechslung von rein in strumentalen mit Chorsätzen erinnert Nicodé’s „Meer“ an die Wüste“ von Felicien David, ohne jedoch — um dies gleich zu sagen — deren liebenswürdige Frische und Natürlichkeit zu erreichen. Wir haben Herrn Nicodé vor zwei Jahren zum

erstenmal als Componisten von zwölf „Symphonischen Varia tionen“ kennen gelernt, in welchen die virtuose Mache aller dings den eigentlich schöpferischen Kern überwog, immerhin aber Züge eines feinen und sicheren musikalischen Talentes aufwies. Das neue Werk zeigt uns den Dresdener Com ponisten noch weiter vorgeschritten in der Bereitung aller erdenklichen Klangeffecte, aber ebensosehr zurückgegangen in dem substanziellen musikalischen Gehalt, in der originellen Erfindung. Mit Ausnahme zweier reflectirender Stellen, die etwas gewaltsam in die Naturschilderung hineingepreßt und vom Componisten zu ganz unverhältnißmäßiger Breite aus gedehnt sind — den Schlußvers von „Ebbe und Fluth“ und das Extempore „Das ist die Liebe!“ — geht die ganze Composition in Tonmalerei auf. Dafür erscheinen die Dimen sionen der Partitur viel zu groß. Man kann mit Vergnügen sieben Stunden zur See aushalten, nicht aber sieben lange Sätze musikalischer Seemalerei. Die Gefahr der Mo notonie sucht Nicodé durch einen Aufwand blendender Klang effecte und durch einen complicirten Instrumenten-Apparat zu besiegen, wie er in solcher Masse und Aufdringlichkeit im Concertsaal noch nicht erlebt worden ist. In dem unge wöhnlich stark besetzten Orchester arbeiten unter Anderm 4 Posaunen und 5 Tuben, 2 Paar Pauken, Triangel, Becken, Tamtam, große Trommel, ein Glockenspiel, dazu Harfe und die große Orgel! Was da für abenteuerliche Effecte ein ander jagen, ist nicht zu beschreiben: gestopfte Trompeten töne, chromatische Sextenläufe der Holzbläser, Geigenpizzicatos, anhaltender Theaterdonner auf der großen Trommel, Geklirre der Becken mittelst Schlägel, Sängerchor hinter der Scene, Posaunenchor aus der Ferne, einmal „bei geschlossener“, dann bei „offener Thür“ (Partitur Seite 79, 117) und so weiter. Dies Alles ließe sich noch entschuldigen, wenn unter diesem aufgehäuften musikalischen Indianerschmuck ein wohlgebildetes, lebendiges Geschöpfchen steckte, ein gesunder musikalischer Organismus. Davon ist aber kaum etwas zu entdecken. All der blinkende, blendende Putz täuscht Nieman den über die Dürftigkeit der Erfindung, die Armuth an ausgereiften musikalischen Ideen, den Mangel an innerer, nicht blos durch das „Programm“ angetäuschter Logik. Die schwindelnde Höhe, welche die Instrumentirungskunst seit Berlioz, Liszt und Wagner erreicht hat, sie ist mir nie zuvor in so grauenhaft bedrohlicher Gestalt erschienen, wie in Nicodé’s „Meer“. Diese Kunst ist ein Vampyr geworden, welcher der schöpferischen Kraft unserer Tondichter das Blut aussagt.