Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Nr. 9596. Wien, Donnerstag, den 14. Mai 1891 Hanslick, Eduard Wilfing, Alexander FWF Der Wissenschaftsfond.
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Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Herausgegeben von Wilfing, Alexander Projektmitarbeiterinnen Bamer, Katharina Pfiel, Anna-Maria Elsner, Daniel Austrian Centre for Digital Humanities and Cultural Heritage Wien 2024

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Maschinenlesbares Transkript der Kritiken von Eduard Hanslick.

Nr. 9596. Wien, Donnerstag, den 14. Mai 1891 Hanslick, Eduard Neue Freie Presse Abendblatt Herausgegeben von Etienne, Michael Friedländer, Max Wien 14.05.1891
font-style:italic; font-weight:bold; Deutsch Transkribus OCR und Lektorat. Transformierung der Daten des Transkribus TEI-Export mit "editions.xsl". Formatierung und Referenzen eingefügt. Letztkorrektur für Zwischenrelease.
Neue Bücher über Musik. (Angezeigt von Ed. H.)

Charles Gounod: „Le Don Juan de Mozart“. (Paris 1890, chez Paul Ollendorff.)

Das erste Buch, mit welchem der 73jährige Gounod als Schriftsteller auftritt. Nur in vereinzelten Journal-Artikeln hat der berühmte Componist des „Faust“ von Zeit zu Zeit seine An sicht über eine ihn besonders interessirende Frage veröffentlicht. Wir haben von ihm einen Aufsatz über Dirigenten — worin er den Componisten das in Frankreich ihnen vorenthaltene Recht vindicit, ihre Werke selbst zu dirigiren — einen Artikel über „Kunst und Natur“, eine Einleitung zu BerliozLettres intimes“, eine Vorrede zur Oper „Polyeuct“, eine Kritik über „Henri VII.von Saint-Saëns. In allen diesen Schriftstücken tritt uns Gounod als lebhaft erregte Künstlernatur, als feiner Beobachter und tadel loser Stylist entgegen. Sein vorliegendes Buch entwickelte er allmälig aus einer Rede über Mozart’s „Don Juan“, welche er im October 1882 in der feierlichen Jahresitzung der Pariser Akademie gehalten hatte. Trotz ihrer herzgewinnenden Begeisterung für Mozart hat uns diese Rede seinerzeit etwas seltsam berührt, nicht durch ihren unanfechtbaren Inhalt, aber durch ihre specielle Bestimmung. Wir sind in Deutschland gewohnt, in einer gelehrten Akademie nur solche Vorträge zu hören, die in wissenschaftlicher Form irgend eine neue Forschung mittheilen, wenigstens einen neuen Gesichtspunkt, ein bisher übersehenes Detail. Gounod’s Vortrag enthielt aber nichts, gar nichts, was nicht jeder Musik freund wüßte; das war ein persönliches Credo, eine Huldigung, aber keine historische oder musikalisch-technische Bereicherung unserer Mozart-Kenntniß. Gounod begann mit der Erzählung, wie er, als dreizehnjähriger Junge von seiner Mutter ins Theater mit genommen, zum erstenmale „Don Juan“ gehört und davon den stärksten Eindruck für sein ganzes Leben empfangen habe. Hierauf ging er auf die Oper selbst über, begleitete jedes einzelne Musik stück mit Ausrufen der Bewunderung und gelangte zu dem Re sultate, daß Mozart der größte Tondichter und „Don Juan“ der Gipfel aller Opernmusik sei. So wohlthuend dieses Glaubens bekenntniß eines hervorragenden französischen Componisten uns berührte, es schien uns in dieser Form mehr für einen intimen Freundeskreis, als in eine feierliche Sitzung der Akademie zu passen. Jetzt hat Gounod diese Rede beträchtlich er weitert, mit zahlreichem musikalischen Detail bereichert und sein Buch nicht etwa für das „Institut de France“, son dern ausdrücklich für junge Componisten und für Musiker be stimmt, die im „Don Juan“ mitzuwirken haben. Damit sind wir auf einen ganz anderen Standpunkt gestellt, von welchem wir das Buch nur loben und herzlich begrüßen können. Neues haben wir darin freilich auch nicht entdeckt, aber die ein sichtsvolle Bewunderung, mit welcher Gounod die Schönheiten der Oper aufweist und erklärt, dürfte gute Früchte tragen. Junge Componisten werden die Partitur des Don Juan mit doppeltem Nutzen und Genuß studiren, wenn sie dies an der Hand von Gounod’s Analyse thun. Sein Buch vermeidet jegliche Polemik; kein anderer Name als der Mozart’s kommt darin vor, und dieser nur in Bezug auf „Don Juan“. Kein Wort fällt über die Ent stehungsgeschichte dieser Oper, ihre Schicksale, ihre verschiedenen Auslegungen. Gounod öffnet einfach die Partitur und geht sie vom ersten bis zum letzten Tact mit uns durch, erklärend und preisend. Nur hin und wieder wirft seine Bewunderung, fast unwillkürlich, ein schwaches Reflexlicht auf die musikalische Gegenwart die so weit von Mozart sich entfernt hat. So z. B. bei Betrachtung der Register-Arie Leporello’s, deren Instrumentirung Gounod als das unerreichte Vorbild des Orchesters in der Oper preist. „Hier in bewunderungswürdigem Gleichgewicht zwischen dem Nothwendi gen und dem Zureichenden, erfüllt es seine wahre Aufgabe, die Rolle des Ergänzers und nicht des Zerstörers; hier vereinigt es ebenso maßvoll wie genau die tausend Nuancen eines Charakters mit der eigenen unerschütterlichen Einheit, ohne Ueberladung und ohne Lücke; es sagt niemals zu viel und immer Alles. Ach, wie weit davon entfernt sind wir heute mit unserer schwerfälligen und an spruchsvollen Emphase, welche zu rühren glaubt, indem sie erdrückt; Ueberfüllung für Reichthum hält und Pathos für Größe!“ Von Mozart’s Zeichnung der verschiedenen Charaktere rühmt Gounod: „Immer ist die musikalische Form das treue Abbild der Person; sie reproducirt deren Charakter, Rang, edle oder gemeine Hal tung; und dies nicht durch das bequeme und banale Mittel einer künstlichen Einheit, welche darin besteht, jeder Person eine Formel gleich einer Etiquette aufzukleben und mit lästiger Hartnäckigkeit immer wieder vorzuführen. Mozart’s Einheit ist die Identität, nicht die Monotonie; sie ist das Bleibende des Individuums unter den Veränderungen des Zufälligen.“ An Zerline’s Arie „Batti batti“, diesen „Zauber für das Ohr und zugleich für den Geist des Zuhörers“, knüpft Gounod die Bemerkung: „Es ist am allerhäufigsten der Mangel oder die Unzulänglich keit der Idee, was in einer Menge moderner Compositionen den so häufigen Mißbrauch mit Modulationen verursacht.“ In einem Anhange gibt Gounod sehr beherzigenswerthe Winke und Regeln für die Sänger und Capellmeister. Den Dirigenten nennt er „den Gesandten der Idee des Meisters; er ist für die selbe verantwortlich, vor den Künstlern und vor dem Publicum; er muß deren lebendiger Ausdruck und treuer Spiegel sein“. Mit Recht besteht Gounod darauf, daß das Dirigiren Gegen stand eines regelmäßigen Cursus in den Conservatorien sein sollte. Die Zukunft werde hoffentlich diese Lücke ausfüllen. Damit wäre ein neues Feld für eine Gruppe specieller, ebenso nothwendiger wie seltener Fähigkeiten eröffnet und eine ernste Garantie gegeben für die Autorität des Capellmeisters gegenüber seinen Künstlern. Gounod’s Buch über „Don Juan“ ist kürzlich auch in einer deutschen Uebersetzung von Adolph Klages bei Reißner in Leipzig) erschienen.

Dr. Hugo Goldschmidt: „Die italienische Gesangs methode des siebzehnten Jahrhunderts und ihre Bedeutung für die Gegenwart“. (Breslau, 1890, bei Schottlaender.)

Mit Ausnahme der Wagner-Partei ist heute jeder Kenner und Schätzer des schönen Gesanges über die Vortrefflichkeit der italienischen Gesangsschule im Reinen. Was versteht man aber darunter? Welche Zeitperiode, welche Stadt, welche von den vielen berühmten Gesangslehrern Italiens repräsentiren „die wahre italienische Methode“? Heutzutage meint man fast allgemein die des achtzehnten Jahrhunderts, wie sie uns durch Tradition und durch einige Schriftsteller (wie Adam Hiller und Mancini) überliefert ist. Nach dem Vorgange Stockhausen’s, des Ersten der auf die ältesten Meister zurückgegangen ist, erklärt Dr. Gold schmidt die altitalienische Gesangsschule, die des siebzehnten Jahrhunderts, für die classische. Die Gesangschule des acht zehnten Jahrhunderts begünstigte im Anschlusse an die Schreib weise seiner Modecomponisten die Kehlfertigkeit auf Kosten des schönen Tones und der correcten Aussprache. Man wollte mög lichst glänzende, coloraturfähige Stimmen bilden. Von den Mei stern des siebzehnten Jahrhunderts ward Kehlfertigkeit gleichfalls [???], aber nur eine „gemessene Coloratur“ und nicht auf [???] der Schönheit des Tones, sondern gerade als Förderin und Erzeugerin edler Tonbildung. In dem vorliegenden Buche soll dem Lehrer und Sänger gezeigt werden, wie die ältesten ita

lienischen Meister ihre Zöglinge heranbildeten. Damit hatte der Verfasser sich keine leichte Aufgabe gestellt. Die Musik geschichte des siebzehnten Jahrhunderts ist überhaupt noch ein spärlich bebautes Feld; für die Erforschung der alten Gesangs methode besteht obendrein das Hinderniß, daß vor Tosi, dessen Anleitung zur Singkunst erst 1723 (in deutscher Uebersetzung von Agricola1757) erschien, kein Italiener eine Gesangsschule veröffent licht hat. Dr. Goldschmidt stützt sich vornehmlich auf Caccini’s berühmte Einleitung zu den „Nuove Musiche“ (1601) und ähnliche instructive Vorreden von Ottavio Durante und Anderen. Zu jener Zeit waren die Componisten gleichzeitig Gesangslehrer und pflegten ihren Compositionen Anweisungen für die Sänger voraus zuschicken. Reiche Ausbeute fand der Verfasser in den praktischen Werken der alten Gesangscomponisten. Seine auf gründlichem Quellenstudium ruhende Darstellung ist vorerst von historischem Interesse, sodann aber auch von praktischem Nutzen für unsere modernen Sänger, welche im Anhang eine stattliche Anzahl von Solfeggien und Uebungen finden. Diese Notenbeispiele sind mit großer Sachkenntniß aus den schwer erreichbaren Original drucken des siebzehnten Jahrhunderts ausgewählt und machen uns die damalige Gesangspraxis anschaulich.

Victor Rokitansky: „Ueber Sänger und Singen.“ (Wien1891, bei A. Hartleben.)

Das interessante, schön ausgestattete Buch ist kein Gesang schule — Gott sei Dank, möchten wir beifügen. Die Zahl der Gesangschulen und Methoden, von denen fast jede ein neues Arcanum gefunden zu haben glaubt, ist in den letzten 10 bis 20 Jahren beängstigend angewachsen und erinnert an den Aus spruch Rousseau’s, daß die Zunahme der Gesetzbücher ein Beweis für die zunehmende Verderbniß der Menschen sei. Rokitansky’s Buch sollte ursprünglich nur als Unterrichtsbehelf dienen: die Liebe zu dem Stoffe, in den er arbeitend sich immer mehr ver tiefte, und der Wunsch, seine reichen Erfahrungen als Gesang lehrer nutzbringend zu machen, ließen ihn den Plan erweitern. „Der Bau meiner Sing- und Unterrichs-Methode,“ sagt Roki tansky im Vorwort, „ruht auf den unvergänglichen Säulen der alten italienischen Schule.“ Auf diesem festen Grunde entwickelt der Verfasser werthvolle praktische Rathschläge über methodisches Ueben, Diätetik, Körperhaltung, Erziehung der Stimme, Aussprache, Herstellung verdorbener Stimmen (bekannt lich eine Specialität Rokitansky’s) u. s. w. Das Buch vermeidet alle blos speculativen, ästhetischen oder physiologischen Ausführungen und beschränkt sich auf praktische Rathschläge. Dabei ist es keines wegs trocken; Züge aus dem Leben berühmter Sänger, auch kleine kritische, mitunter recht sarkastische Abstecher beleben den Vortrag. Sehr überzeugend ist Rokitansky’s verwerfendes Urtheil über die moderne Erfindung des „physiologischen Gesangsunterrichts“ und den neuesten Unsinn der „Zungengymnastik“, seine Ansichten über das Virtuosen thum, den Chorgesang u. s. w. Rokitansky’s Buch sei angehenden Sängern und Gesanglehrern angelegentlichst empfohlen.

Edmond Evenepoel: „Le Wagnerisme hors d’Alle magne. Bruxelles et la Belgique.“ (Paris. Fischbacher1891.)

Wen etwa die Sorge quält, ob der Wagner-Cultus auch in Belgien gehörig gedeihe, der findet in diesem Buche einen Herzens trost. Zwar hat Brüssel erst am 10. Januar 1880 (!) die allererste Aufführung von Mozart’s „Zauber flöte erlebt, um so häufiger hört es seit 20 Jahren die Opern Richard Wagner’s. Mit Ausnahme von „Tristan“ und „Par sifal“ kennt man dort seine sämmtlichen Werke. Der Verfasser ist natürlich ein feuriger Wagnerianer, der jede Wagner-Aufführung in Belgien als eine culturgeschichtliche That begrüßt. Er zählt sie gewissenhaft auf, in der Hauptstadt wie in der Provinz, im Theater wie im Concertsaale. Dazu werden Briefe, Kritiken, Programme und was sonst an einschlägigem Materiale vorliegt, abgedruckt. Auch ein Capitel über Bayreuth fehlt nicht, denn der Verfasser ist stolz darauf, „que la Belgique avait fait quelque bruit à Bayreuth“. Das Buch über den „Wagner-Cultus außerhalb Deutschlands“ beschränkt sich thatsächlich nur auf Bel gien, eigentlich auf Brüssel. Wir dürfen also weitere Bände er warten, welche das Walten des göttlichen Fiebers etwa in Griechen land und der Türkei, in Norwegen und Sibirien schildern werden. Hoffentlich werden diese fernen Mitbrüder sich dem „Wagne risme“ anschließen, sobald sie sehen, daß Jedem, der da Wagner singt, geigt, dirigirt, erklärt oder vergöttert, ein Plätzchen Unsterb lichkeit bei Herr Evenepoel sicher ist. Für das lustige Gedeihen des „Wagnerisme“ in Belgien spricht auch das neueste in Brüssel erschienene Buch von Ernest Closson, eine „Etude esthétique et musicale“ über Wagner’s „Siegfried“, die zu den erstaunlichsten Leistungen in der Wagner-Ekstase und Leimotiv-Fängerei gehört.

Camille Bellaigue: „Un siècle de musique fran çaise“. (Paris, chez Dellagrave, 1887.)

Kein Brahmine des „Wagnerisme“, aber einer der geistreich sten und bestunterrichteten Musikkritiker in Paris ist Camille Bellaigue, der überlegene Nachfolger der Herrn Scudo und Blaze de Bury in der Revue des deux Mondes. Einige seiner größeren Aufsätze finden wir in dem vorliegenden Bändchen ge sammelt; sie behandeln die komische Oper, Heine’s Gedichte, Ro bert Schumann, die Musik der russischen Zigeuner und Gou nod’s Oratorium „Mors et vita“. Der erste dieser Essays ist der werthvollste. Man kann nicht geistreicher und zugleich natürlicher, nicht liebevoller und zugleich unbefangener über die Componisten der Opéra Comique, von Grétry bis auf Bizet, sprechen, als es hier Bellaigue thut. Bei aller Zärtlichkeit für die Kunst und den Ruhm Frankreichs verfällt er doch nicht in die üble Gewohnheit seiner Collegen, von französischen Componisten nur in Superla tiven zu sprechen. Ja, manchmal scheint er uns sogar echt franzö sische Vorzüge etwas zu unterschätzen, z.B. die Auber’s, von dem man in Paris wahrscheinlich übersättigt ist, während wir uns heute in Deutschland ehrlich freuen, wenn eine gute Aufführung des „Fra Diavolo“, der „Stummen von Portici“, des „Schwarzen Domino“ in Aussicht steht. Bellaigue hat sogar die unerhörte Kühn heit, Ernest Reyer’s komische Oper „La statue“, langweilig zu finden. Freilich gibt er dem Textbuch die Schuld und findet die Musik blos „zu fein“ für die Bühne — so viel Rücksicht für seinen mächtigen Collegen vom Journal des Débats muß er immerhin beobachten. Er beklagt es, daß man in Frankreich die Opern Grétry’s, Hérold’s, Boieldieu’s nicht mehr spielt, nicht mehr liebt, daß der Cultus der älteren Meister sich täglich vermindere. Er hofft, es werde der einmal unausbleib liche Ueberdruß an der Wagner’schen Richtung die Empfänglich keit für die heiteren, melodiösen Opern der früheren Epoche neu erwecken. Hier hatte Bellaigue in der Revue des deux Mondes eine sehr charakteristische Stelle eingeschoben, die wir in dem Buche vermissen. Sie lautete: „In Paris hat man in der verflossenen Saison für den ersten Act aus „Tristan und Isolde“ geschwärmt — es ist eine unserer schlimmsten Erinnerungen. Das ununter brochene Recitativ, der Gesang ohne Rhythmus und Tonalität ver folgten uns unerbittlich. Die Schwerfälligkeit, das Dunkel, die Anstrengung und Arbeit, alle Fehler des deutschen Geistes waren da aufgehäuft. Um einen Opernact zu erläutern, fünfzehn Seiten Text; historische, ja prähistorische Auseinandersetzungen; geogra phische Erklärungen; die Rechtfertigung einer jeden musika lischen Phrase durch die streng correspondirenden Worte; ein prätentiöses Künsteln des Details; die Ausschließung jeder faßlichen Form; die barbarische Behandlung der Stimmen ohne Sinn für ihre Schönheit, ohne Mitleid für ihre Schwäche;

ein gewaltthätiges Orchester ohne Ruhepause, überall Ermüdung und Langweile. Wir mußten uns fragen, ob diese Musik, ehedem Zukunftsmusik geheißen und leider jetzt die Musik der Gegenwart, nicht in einiger Zeit Musik der Vergangenheit sein werde, einer Vergangenheit, die man gern vergißt. Aber diese Zeit ist noch nicht gekommen. Man hat unsere Zeit „trunken von Wissenschaft“ genannt, und die Kunst selbst ist diesem Rausche verfallen. Wir sind die Ersten, den außerordentlichen Fortschritt der modernen Musik anzuerkennen. Die neuesten Meister haben unser Ohr an einen orchestralen und harmonischen Reichthum, an geistreiche oder mächtige Combinationen gewöhnt, die es nicht mehr entbehren möchte. Wenn die Musik ehedem schöner war, besser gearbeitet (mieux fait) war sie niemals, und das ist schon etwas. Schon Grétry sagte in seinen Essais, daß zu einem Componisten zwei Dinge gehören: die Wissenschaft und das Genie. Heute haben wir nur die eine Hälfte des Ganzen: die andere wird vielleicht eines Tages wiederkommen.“ Ueberaus wohlthuend berührt die Wärme, mit welchen Bellaigue über Robert Schumann spricht, speciell über dessen Manfred- und Faust-Musik. Hoffentlich erfreut uns Bellaigue bald mit einer neuen Sammlung seiner Kritiken.

Julius Schuberth’s Musikalisches Conver sations-Lexikon. Herausgegeben von Professor Emil Breslaur. Elfte, gänzlich umgearbeitete Auflage. (Bei Schu berth in Leipzig.)

Jedes neue Lexikon hat unstreitig einen Vorzug vor allen seinen Vorgängen: es bringt zum erstenmale Namen, die in den älteren Nachschlagebüchern noch nicht enthalten sein konnten. Das ist aber keineswegs der einzige Verzug der elften Auflage des BreslauerSchuberth’schen Musik-Lexikons. Dasselbe gibt uns in gedrängter Kürze Aufschluß über alle möglichen Namen und Sachen, die mit Musik zusammenhängen. Der in dem handlichen, schön ausgestatteten Bande aufgestapelte Reichthum ist erstaunlich. Einige kleine Irrthümer können in keinem Lexikon fehlen; Zum Beispiel: Der noch als lebend aufgeführte französische Komponist Victor Massé ist bereits im Jahre 1884 gestorben; Gluck, der sich als Ordensritter Chevalier Gluck unterzeichnete, hieß niemals Ritter „von Gluck“; der berühmte Prager Componist und Theoretiker hieß nicht „Tomaczek“, sondern Tomaschek, und hat sich nie anders geschrieben; Pauline Lucca hat wol die Afrikanerin, aber nicht die Carmen „creirt“; die gegenwärtige Verbesserung der Jankó-Claviatur“ rührt nicht von Bösendorfer her, sondern von Friedrich Ehrbar. sie sind uns weniger empfindlich, als das Fehlen der Jahreszahl auf dem Titelblatt. Auf jedem Buche wünschenswerth, ist die Jahres zahl geradezu unentbehrlich auf dem Titelblatt eines Conversations- Lexikons.

Friedrich Niecks: „Friedrich Chopin als Mensch und als Musiker.“ Zwei Bände. Aus dem Englischen übertragen von W. Langhans. (Leipzig, bei Leukart, 1890).

Die erste ausführliche Chopin-Biographie schrieb bekanntlich M. Karasowski; sie erschien im Jahre 1877 und wurde in diesen Blättern eingehend besprochen. Karasowski hat seine unbe streitbaren Verdienste, insbesondere durch seine Aufklärungen über Chopin’s Jugendzeit, die er, als ein Freund der Chopin’schen Familie und auf Grund früher nie veröffentlichter intimer Briefe des Componisten zum erstenmale zusammenhängend zu schildern vermochte. Hingegen standen ihm über Chopin’s Pariser Periode nicht genügende Quellen zu Gebote. Hier tritt nun Niecks wesentlich ergänzend ein, der alle erreichbaren späteren Briefe Chopin’s und die Auskünfte seiner überlebenden Freunde mit außerordentlichem Fleiße gesammelt hat. NiecksBuch ist an Vollständigkeit des Materials, an Gewissenhaftig keit der Forschung und Darstellung gar nicht zu über treffen. In seiner scrupulösen Genauigkeit ist der Biograph manchmal sogar etwas zu weit gegangen und hat zwischen dem Nothwendigen und dem Unwichtigen nicht streng genug unter schieden. Was soll uns z.B. die ausführliche, bis zu den Ahnen hinauf verfolgte Biographie der Georg Sand? Nebenbei bemerkt, macht die einseitig harte, fast gehässige Beurtheilung dieser Frau die einzige Ausnahme von der sonst überall waltenden rühmlichen Unparteilichkeit des Verfassers. Ueber die ganze Pariser Zeit Chopin’s, über seinen Aufenthalt in Majorca, in Marienbad, in Leipzig gibt uns Niecks zahlreiche neue Daten. Weniger als der historische dürfte der musikalisch-kritische Theil des Buches befrie digen. Worin gerade das Neue und Eigenartige der Chopin’schen Musik liegt, weiß uns Niecks nicht klar zu machen, wir lernen darüber weit mehr aus den Aufsätzen von Schumann, Liszt, Ehlert u. A. Trotzdem bleibt NiecksBuch eine Arbeit von be wunderungswürdiger Sorgfalt im Großen und Kleinen. Die deutsche Uebersetzung von Langhans ist treu und fließend, die Ausstattung überaus gefällig.

Franz M. Böhme: „Geschichte des Tanzes in Deutsch land. 2 Bände. (Leipzig bei Breitkopf & Härtel, 1886.)

Der Verfasser, der sich bereits durch sein „Altdeutsches Lieder buch“ einen geachteten Namen erworben, gibt uns in seiner, zum erstenmal nach den Quellen bearbeiteten „Geschichte des Tanzeseinen sehr werthvollen Beitrag zur deutschen Sitten-, Literatur- und Musikgeschichte. Sein Werk zerfällt in einen darstellenden Theil, welcher die Geschichte und Beschreibung der deutschen Tänze vom germanischen Alterthum bis zur Gegenwart enthält, und in einen Band Musikbeilagen mit den Tanzliedern und Tanzmelodien vom 13. bis zum 19. Jahrhundert. Die meisten Melodien vom 13. bis 17. Jahrhundert sind von Herrn Böhme aus alten Notationen entziffert und hier zum erstenmal veröffentlicht. Es bedarf keiner Aus einandersetzung, von welcher Wichtigkeit das Werk für den Musiker und für den Culturhistoriker ist. Uebrigens bringt das Buch mehr, als sein Titel verspricht; es behandelt nicht blos die deutschen Tänze, sondern auch die sehr zahlreichen, welche der Deutsche dem Auslande entlehnt hat. Der Verfasser beklagt diese Entlehnun gen, die Einführung wälscher und slavischer Tänze. „Hoffentlich,“ sagt er, „hat das Tanzen nach der Pfeife anderer Völker für das große, geeinte Deutschland für immer ein Ende!“ Wir können diese sehr chimärische Vermuthung nicht theilen. Abseits von den deutschen Volkstänzen werden unsere Gesellschaftstänze immer mehr oder weniger Modesache bleiben, also niemals vom tonangehenden Auslande unabhängig sein. Ja, der internationale Charakter des Tanzes dürfte mit der fortschreitenden Annäherung der europäischen Völker sich in Hinkunft noch mehr ausprägen, einen noch leb hafteren gegenseitigen Austausch der Tänze bewirken. Der uns zu gemessene Raum erlaubt uns leider kein detaillirtes Eingehen auf den Inhalt dieser überaus gründlichen und wertvollen Arbeit; wir müssen uns damit begnügen, Böhme’s „Geschichte des TanzesMusikern wie Sittenschilderern auf das wärmste zu empfehlen.