Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Nr. 9611. Wien, Samstag, den 30. Mai 1891 Hanslick, Eduard Wilfing, Alexander FWF Der Wissenschaftsfond.
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Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Herausgegeben von Wilfing, Alexander Projektmitarbeiterinnen Bamer, Katharina Pfiel, Anna-Maria Elsner, Daniel Austrian Centre for Digital Humanities and Cultural Heritage Wien 2024

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Maschinenlesbares Transkript der Kritiken von Eduard Hanslick.

Nr. 9611. Wien, Samstag, den 30. Mai 1891 Hanslick, Eduard Neue Freie Presse Morgenblatt Herausgegeben von Etienne, Michael Friedländer, Max Wien 30.05.1891
font-style:italic; font-weight:bold; Deutsch Transkribus OCR und Lektorat. Transformierung der Daten des Transkribus TEI-Export mit "editions.xsl". Formatierung und Referenzen eingefügt. Letztkorrektur für Zwischenrelease.
Jenny Lind. III. (Schlußartikel.)

Ed. H. Siehe Nummer 9607 und 9608 der „Neuen Freien Presse“. Wie oft machte ich die seltsame Erfahrung, daß selbst die genialsten Künstlerinnen, Sängerinnen von feinstem Gehör für jeden fremden Mißklang, den Niedergang ihrer eigenen Stimme nicht bemerken. Aber daß gerade Jenny Lind, dieses Muster klarer Selbstkenntniß, noch im Jahre 1862 ihre Stimme für unversehrt halten konnte, hat mich überrascht. Vierundzwanzig Jahre waren verflossen seit ihrem ereignißvollen Auftreten als Agathe; sechzehn Jahre seit ihrem ersten Wiener Gastspiel. Besaß sie wirklich keine Erinnerung mehr an den himmlischen Wohllaut ihrer Stimme von damals, oder kein Ohr für die Veränderung, welche in langem Zeitverlauf damit vorgegangen? Wenige Tage vor meinem Besuch bei Jenny Lind hatte ich sie doch in Exeterhall die Sopranpartie in der „Schöpfung“ singen hören. Mit welcher Bewegung harrte ich damals dem Mo ment entgegen, wo sie heraustreten sollte! Ohne schön zu sein, hat sie doch stets mit der Kraft der Schönheit gewirkt; der Gesang, welcher die dürftigsten Melodien Bellini’s und Donizetti’s idealisirte, schien immer auch einen Heiligenschein um die Sängerin selbst zu zaubern. Sie trat hervor, weiß und ohne Geschmeide, wie sonst. Sie erwiderte den jubelnden Empfang mit einem kurzen, gleichgiltigen Kopfnicken, wie sonst. Allein das ehedem prophetisch leuchtende Auge war glanzlos und müde geworden; um den Mund trieben böse Falten ein unheim liches Spiel. Nun hebt sie zu singen an, und ich erkenne die Stimme, wie man ein halbverwittertes Bild langsam wiedererkennt. Die Töne kommen schwach und verschleiert hervor, in den hohen kräftigen Stellen mit Anstrengung. Manchmal dringt noch ein vereinzelter Silberton wie ein Strahl durch trübes Gewölk, um, gleichsam erschrocken, schnell wieder zu verschwinden. Was mit solchem Material möglich ist, das freilich erreichte die Lind noch immer, wie keine zweite Sängerin der Welt. An dem Beifall des Publicums konnte sie allerdings noch lange nicht gewahr werden, daß ihre Stimme am Anfang des Endes stand. Das englische

Publicum ist beispiellos in Sachen der Pietät, und in Jenny Lind ehrte es die doppelte Virtuosität: der Kunst und der Wohlthätigkeit. Als ich sie zuletzt im Jahre 1862 hörte, konnte die treffliche Frau mit ihren Tönen noch Schulen und Spitäler erbauen, ihre Hörer kaum mehr. Jenny Lind trat zum letztenmale in einem Wohlthätigkeits- Concert im Juli 1883 öffentlich auf; vier Jahre vor ihrem am 2. November 1887 erfolgten Tode. Sie hat ein Alter von 67 Jahren erreicht.

Eine aus dem Herzen kommende, großartige Wohl thätigkeit gehörte zu den schönsten Zügen ihres Charakters. Niemals zuvor oder nachher hat eine Sängerin einen so großen Theil ihrer Einkünfte den Armen zugewendet. Wohl thun erschien ihr nicht blos als heilige Pflicht, sondern als der schönste Lohn ihrer Arbeit. In dem uns vorliegen den Verzeichnisse ihrer Theater- und Concertabende von 1848 bis 1850 sind die zu wohlthätigen Zwecken gegebenen mit einem Sternchen bezeichnet. Ein wahrer Sternenhimmel! Und in den späteren Jahren sang sie eigentlich nur noch für die Armen. Wie sie ihr Talent als eine Himmelsgabe er kannte, so hielt sie es auch für ihre Pflicht, das Erworbene wieder zum Besten der Bedürftigen und Unglücklichen her zugeben; „was hereingeflossen ist, muß auch wieder heraus fließen!“ Ihre Wohlthätigkeit war eng verwoben mit ihrer Kunst; sie machte es sogar bei ihrer Verheiratung zu einer Hauptbedingung, daß ihr Mann ihr in der Ausübung ihrer Wohlthätigkeit völlig freie Hand lasse. In allen Städten, wo sie sang, veranstaltete sie eine Aufführung zum Besten des Chor- und Orchester-Personals. Mit ihrem Gelde, zum Theile auf ihre Anregung, sind in Schweden und England Schulen, Spitäler, Capellen gebaut oder doch wesentlich ver größert worden. Zwischen dem 4. December 1848 und dem 2. Februar 1849, einem Zeitraume von weniger als neun Wochen, hatte Jenny Lind in neun Concerten die hohe Summe von 8740 Pfd. St. zur Unter stützung von fünf Hospitälern, der Mendelssohn-Stiftung und des sie begleitenden Orchesters gelöst. Wenn wir noch die Einnahme des Concerts für das Brompton-Hospital vom vorhergehenden Juli hinzu nehmen, so ergibt sich eine Gesammtsumme von 10.500 Pfd. St. (210,000 Mark). In Norwich hatte sie aus dem Ertrage zweier Concerte das „Jenny-Lind-Kinderspital“ gegründet und bis zu ihrem Tode dafür so ausreichend gesorgt, daß die Anstalt im Jahre 1890 1230 kranken Kindern außerhalb des Hauses und 257 in den Sälen ärztliche Hilfe bieten konnte. Auf ihrer amerikanischen Reise hat Jenny Lind der Stadt Newyork allein mehr als 30,000 Dollars zu wohlthätigen Zwecken gespendet.

Zwei von Jenny Lind herrührende Stiftungen inter essiren uns besonders durch ihre künstlerische Bestimmung: der „Stipendienfonds für die Erziehung und Unterstützung von Schülern der königlichen Theaterschule in Stockholm“ im Betrage von 80,000 Kronen (etwa 88,000 Mark), dann die „Mendels sohn-Stiftung“. An Mendelssohn hing Jenny Lind mit innigster Liebe und Verehrung. Sein Tod war für sie ein furchtbarer, nie verschmerzter Verlust. Am 22. Januar 1848 schrieb sie an Frau v. Jäger in Wien (die sie ihre österreichische Mutter“ nannte): „Ach, Mutter! welcher Schlag war für mich der Tod von Mendelssohn! es ist Ursache, warum ich so lange still war. Ich konnte die zwei ersten Monate nicht ein Wort aufs Papier setzen, und noch scheint mir Alles wie todt. Nie war mir so glücklich, so erhebend zu Muthe, als wenn ich mit Ihm sprach! und selten waren in der Welt zwei Menschen zu gleicher Zeit, die sich so verstanden und die so sympathisirten wie wir! Wie herrlich und wunderbar sind die Wege Gottes — auf der einen Seite gibt Er Alles, auf der andern nimmt Er Alles weg! So ist das Leben — so sieht es aus.“ Noch zwei volle Jahre nach Mendelssohn’s Tod konnte sie es nicht über sich gewinnen, eines seiner Lieder zu singen. In Gemeinschaft mit einigen seiner intimsten Freunde beschloß sie, Mendelssohn ein Denkmal zu setzen durch Gründung einer Musikschule, welche Mendelssohn’s Namen führen und seine künstlerischen Grundsätze von Lehrer auf Schüler, von Generation auf Generation vererben sollte. Zur Ausführung dieses Planes sollte vorerst eine großartige Aufführung des „Elias“ in Exeterhall dienen. Mendelssohn hatte den größeren Theil dieses Oratoriums zu einer Zeit componirt, wo er mit Jenny Lind in eifrigem Briefwechsel stand; er hatte auf das genaueste ihre Stimme, ihren Vor trag studirt und die Sopranpartie im „Elias“ für sie geschrieben. Die aus der epochemachenden Aufführung vom 15. December 1848 erlöste Summe betrug tausend Pfund Sterling; sie wurde von dem Comité (unter dem Vorsitz von Sir George Smart und Karl Klingemann) auf Zinsen angelegt, die man bis 1856 anwachsen ließ und dann zum Kapital schlug. Nun glaubte das Comité den ersten „Mendelssohn-Schüler“ ernennen zu dürfen. Die Wahl fiel auf den jungen Arthur Sullivan. Auf ihn folgten andere Schüler, welche einzig auf Grund ihrer Begabung

gewählt wurden. Das Kapital beläuft sich jetzt auf mehr als zweitausend Pfund Sterling.

Sehr eingehend behandeln die Verfasser Jenny Lind’s unerwarteten frühen Rücktritt vom Theater. Was konnte die Künstlerin veranlassen, auf der Höhe ihres Ruhmes, in ihrer vollsten Kraft und Blüthe der Bühne zu entsagen? Man hat seinerzeit verschiedene Vermuthungen darüber aus getauscht und hauptsächlich auf religiöse Scrupel und geist lichen Einfluß gerathen. Roger erzählt in seinem „Carnet d’un ténor“, wie er zum letztenmale mit der Lind im No vember 1848 die „Regimentstochter“ sang. „Geben Sie jetzt gut Acht, Roger,“ flüsterte sie ihm vor dem Schluß rondo zu, „es sind die letzten Töne, die Sie von mir auf dem Theater hören!“ Roger, ganz bestürzt, konnte es nicht glauben. Und doch war es so. „Sie hat das Leben einer Heiligen geführt,“ sagt Roger, „aber man spricht von einem Bischofe, der ihr trotzdem Scrupel in den Kopf gesetzt hat. Gott möge ihn richten!“ Unter dem „Bischof, den Gott richten möge“, ist offenbar der von Norwich gemeint, Dr. Edward Stanley, in dessen Hause die Lind im Juli 1847 wohnte. Aber ihr Entschluß, die Bühne zu verlassen, reicht thatsächlich viel weiter zurück. Schon im Jahre 1845, unmittelbar nach ihren Berliner Triumphen, theilt sie Frau Grote dieses Vorhaben mit und begründet es mit ihrem Widerwillen gegen die „en tourage“ der Bühne und mit der Ueberreizung ihrer durch das Theaterleben erschütterten Nerven. Aehnliche Aussprüche enthalten ihre Briefe aus den folgenden Jahren. Aus Wien, wo gerade die Lind-Begeisterung „fast bis zur Tollheit reichte“, schreibt sie im Januar 1848 an eine Freundin, die von einem Pariser Engagement gehört haben will: „Was stellst du dir nur vor? Ich nach Paris! Von der Bühne will ich weg und weiter will ich nichts in der Welt.“ Gewissenhaft legen die Biographen die verschiedenen Fäden auseinander, die sich in der Seele der Lind zu jenem Ent schluß verflochten hatten. Nicht alle scheinen uns von erheb licher Stärke. Die Sehnsucht nach der Heimat? Aber Jenny Lind hat sich ja nicht in Schweden, sondern in England bleibend niedergelassen! Die Mühsal des Herum reisens und die Ersättigung an den Ovationen des Publicums? Beides blieb sich ja gleich, seit sie blos als Concertsängerin Deutschland und Amerika bereiste! Was ihr die Bühne verleidet hat, war ohne Zweifel deren „entourage“, die fortwährende Reibung mit kleinlicher Intrigue, Eifer süchtelei und gemeiner Gesinnung. Ihre ideale Auffassung

der Kunst ward ihr im Theater von diesem Unkraut ärger lich umwuchert. Jenny’s ideale Auffassung der Kunst, als einer ihr auferlegten göttlichen Mission, hing wiederum mit ihrer tief religiösen Natur zusammen. Eine gewisse protestan tische Strenge hatte sie schon von ihrer nordischen Heimat mitbekommen — man erinnere sich an den Abscheu ihrer Mutter vor dem Theater — ihr anhaltender Verkehr mit frommen Familien in England that das Uebrige. Die Ver fasser constatiren, daß der Bischof von Norwich die Lind zum Verlassen der Bühne keineswegs überredet habe, wol aber, daß er und seine Umgebung sie in diesem Entschlusse ein dringlich bestärkten. Einem Poeten antwortet sie auf die Widmung eines das Drama verherrlichenden Gedichts, „sie sei zu der Erkenntniß gelangt, daß alle auf der Bühne ver gossenen Thränen falsche Thränen seien; sie habe, unbe friedigt von ihren Erfolgen, die Bibel aufgeschlagen und dort folgende Worte gelesen: „Mein neu gefundener Herr, der mich zuerst die wahren Thränen vergießen lehrte“. Ihr sublimirtes religiöses Bewußtsein rührt ohne Frage von England her. Und doch hatte sie in Bezug auf die ver knöcherte Frömmigkeit der Engländer in einer eigenen Herzens angelegenheit schmerzliche Erfahrungen gemacht. Jenny Lind, die sich längst nach einem häuslichen Familienglück sehnte, hatte sich mit einem jungen englischen Capitän Harris verlobt. Aber an der pietistischen Strenge des Bräutigams, noch mehr an der religiösen Bornirtheit seiner Mutter, welche das Theater für einen Satanstempel und die Schau spieler sämmtlich für Teufelspriester erklärte, scheiterte die Verbindung. Obwol sie damals schon entschlossen war, die Bühne zu verlassen, empörte sie doch die Zumuthung, daß sie ihren Beruf, den sie so reinen Herzens gepflegt, als eine Schmach und Erniedrigung ansehen sollte. Ihre Freunde ließen nicht zu, daß im Heiratscontract die vom Bräutigam geforderte Bedingung aufgenommen werde, Jenny Lind dürfe nie mehr die Bühne betreten. Diese Möglichkeit sollte ihr doch nicht auf Lebenszeit und für alle Fälle abgeschnitten sein. Der fromme Capitän fand aber eine solche der Frau vorbehaltene Freiheit „unbiblisch“, und so ging die Heirat, für welche schon der Tag festgesetzt war, zurück.

Eine andere Verlobung der Lind scheiterte seltsamerweise an dem entgegengesetzten Grunde: der Bräutigam war zu eng mit dem Theater verflochten. Jenny Lind hatte schon vor ihrer Pariser Reise mit einem Sänger des Stockholmer Hoftheaters, Julius Günther, in Opern und Concerten viel zusammen gesungen. Ihre Freundschaft befestigte und

erwärmte sich in der Folge noch zusehends und führte im Jahre 1848 zu einer förmlichen Verlobung. Jenny Lind reiste nach derselben nach London zurück, wo sie zu Freunden noch voll Begeisterung über diese Verbindung sprach. Allein Günther war, wie gesagt, Tenorist am Stockholmer Theater und sein ganzes Leben mit der Bühne verwoben. Diese Ver bindung mußte daher engere Bande zwischen ihr und der Theaterwelt herbeiführen, welche sie doch so sehr zu verlassen wünschte. In London gewannen die religiösen Anschauungen, welche ihre englische Umgebung in ihr entwickelte, einen immer größeren Einfluß auf sie; ihr Widerwillen gegen das Theater wurde gesteigert, ihre Zukunftshoffnung getrübt. Günther in dem fernen Stockholm hatte kein Verständniß und keine Sympathie für diese religiöse Strenge. Die An schauungen und Grundsätze der beiden Brautleute divergirten je länger, je weiter, und so wurde schließlich im October 1848 die Verlobung mit beiderseitiger Zustimmung auf gelöst. Erst in dem dritten ihrer Freier hat Jenny Lind „den Rechten“ gefunden: in Herrn Otto Goldschmidt, einem jungen Clavier-Virtuosen und Componisten aus Hamburg, der schon in ihren englischen Concerten mitgewirkt hatte und sie 1851 auf ihrer amerikanischen Tournée als Solo-Pianist und Accompagnateur begleitete. Jenny Lind vermälte sich mit ihm in Boston1852 und hat sechsunddreißig Jahre lang, bis zu ihrem Lebensende, in glücklichster Ehe an der Seite dieses als Mensch und Künstler hochachtbaren Mannes gelebt.

Ist es allzu gewagt, wenn ich zu den Gründen, aus welchen Jenny Lind dem Theater entsagte, mir im Stillen noch einen dazu denke? Ein versteckteres Motiv, das die Biographen gewiß nicht zugestehen und das die Künstlerin selbst vielleicht nur dunkel empfand. Ich meine die geringe Ausdehnung ihres Rollenkreises und die Begrenzung ihres — innerhalb dieser Grenzen gewiß intensiven dramatischen Talents. Die Verfasser sprechen von der dramatischen Kunst der Jenny Lind nur mit schrankenloser Bewunderung, und dies mit Recht bezüglich aller jener Gestalten, welche mit ihrer Natur übereinstimmten, wie Amina, Lucia, Marie, Vielka, Agathe. Einfaches, ungebrochenes Gefühl, träumerisches, zartes Empfinden, heitere Anmuth, auch Hoheit und Würde fanden in ihrer Darstellung den reinsten Ausdruck. Leiden schaftliche Gluth hingegen in Liebe, Haß, Zorn und Eifer sucht war ihr nur annähernd erreichbar; ihre weiche, etwas verschleierte Stimme wehrte sich gegen diese Ausbrüche ebenso instinctiv wie die ganze Natur der Lind. Zwei charakteristische

Beispiele boten ihre Norma und ihre Valentine. Roger, der in höchster Bewunderung der Lind ausruft: „Welches Glück für mich, daß ich diese seltene Frau studiren kann!“, schreibt über ihre Norma in sein Tagebuch: „Die Casta diva singt sie sehr gut; diese Anrufung des Mondes harmonirt mit ihrem träumerischen deutschen Naturell; aber die Zornausbrüche des liebenden Weibes, der verrathenen Mutter — nein und tausendmal nein! Das ist klein und verzweckt.“ Es ist aufgefallen, daß die Verfasser, welche doch Aussprüche, Briefe, Tagebuchblätter von so vielen unbekannten und unbedeutenden Personen abdrucken, die sehr interessanten Mittheilungen Roger’s gänzlich ignoriren. Auch die höchste charakteristischen Briefe der Jenny Lind an Franz Hauser, die ich zuerst im Jahre 1883 in diesen Blättern veröffentlichte, vermissen wir in ihrer Biographie. Für ihre Valentine war es bezeichnend, daß sie bei der Stelle im vierten Act: „ich klammere mich an dich!“ den Geliebten kaum zu berühren wagte, während alle be deutenden Darstellerinnen sich hier in verzweifelter Angst thatsächlich an Raoul „anklammern“, um ihn zurückzuhalten. Schon aus Paris schilderte Jenny Lind in einem Briefe, wie vortrefflich die Rachel „im Zorne“ sei, und fügt hinzu, „aber zärtlich, nein, dazu eignet sie sich nicht. Ich bin ab scheulich garstig, wenn ich zornig sein muß, aber dafür, glaube ich, wieder besser in der Zärtlichkeit“. Sehr bedeu tungsvoll ist eine Aeußerung Jenny Lind’s zu A. P. Stanley, dem nachmaligen Decan von Westminster: „sie könne beim Darstellen auf der Bühne ihren Charakter nicht ganz verleugnen; denn wenn sie ihre Individualität zerstöre, so vernichte sie zugleich alles Gute, was an ihr sei, und sie habe es sich zum Grundsatz gemacht, nie solche Leidenschaften darzustellen, welche schlechte Gefühle erwecken könnten. Daher auch ihre von der Grisi so sehr verschiedene Auffassung der Norma. Andererseits werfe sie sich mit ganzer Seele in die Auffassung einer Rolle, welche sie sich nun einmal gemacht. Wenn sie dies nicht thun könne, was ihr ein- oder zweimal begegnet sei, so wäre es ihr, als lüge sie, und dann hätte sie auch nur Mißerfolg“. Ein Beweis ihrer völligen Identificirung mit ihrer Rolle war, daß die Nachtwandlerin sie so sehr ermüdete, da sie während des Nachtwandelns die Augen nicht bewegen zu dürfen glaubte. In der Scene, wo Amina über den morschen Steg schreitet und die Kerze in die Tiefe fallen läßt, erlaubte Jenny Lind niemals, daß (wie es überall üblich war) eine gleich gekleidete Stellvertreterin das gefährliche Wagniß bestehe. Nicht als ob sie muthiger gewesen wäre, als andere Darstellerinnen der

Nachtwandlerin — im Gegentheil, sie fürchtete sich jedesmal entsetzlich vor diesem Moment. „Aber,“ sagte sie, „ich würde mich geschämt haben, vor das Publicum zu treten und vor zugeben, die Brücke überschritten zu haben, wenn ich es nicht wirklich gethan hätte.“ Eine Künstlerin, die mit solcher Inbrunst und Gewissenhaftigkeit in ihren Rollen aufging, mußte nicht nur mehr als Andere davon angegriffen, ja aufgerieben werden, sie mußte auch bald wahrnehmen, daß der Kreis von Opernpartien, in welche sie ihre ganze Seele und nur ihre Seele zu legen vermochte, ein sehr begrenzter sei. Wie ermüdend, nach Jahren immer und immer wieder nur die Nachtwandlerin, die Regimentstochter, Lucia, Norma und Alice zu singen! In jeder neuen Rolle, die man ihr vorschlug, mochte aber ihre zunehmende sittliche und religiöse Empfindlichkeit Gefühle entdecken, die sie nicht „lügen“ könne und wolle. Wir begreifen die Wärme, mit welcher die Verfasser an der Norma und anderen Rollen der Lind deren „eigenartige Verklärung und Ver edlung“ rühmen; aber eigenartige Idealisirung kann mit unter zur eigenmächtigen werden, die gegen die klare Absicht des Dichters und Componisten streitet. So strenge Wahr haftigkeit des Charakters erzeugt nothwendig eine Begrenzung des dramatischen Talents, welches Entäußerung der eigenen Persönlichkeit verlangt.

Wer sich aus allen diesen Zügen ein klares Bild von dem Charakter der Lind macht, der wird es begreifen, daß gerade sie unter wachsender Theater-Abneigung zu der Ueber zeugung gelangte, nur als Concert- und Oratorien-Sängerin ganz ihr bestes Selbst geben zu können. Jede dramatische Darstellung wirkt farbiger, kraftvoller, lebendiger als ein Concertvortrag, aber die Eindrücke, die wir von dem Lieder- und Oratoriengesang der Lind bewahren, sind uns nicht weniger theuer. Wir haben speciell in Wien die köstlichsten Erinnerungen an ihre Concerte im Jahre 1854. Eine werth volle, für den Musiker unschätzbare Beigabe sind die Noten beispiele, welche Herr Otto Goldschmidt als Anhang zu der Biographie gespendet hat: zwei ihrer originellsten schwedischen Lieder und eine Anzahl eigener Cadenzen und Verzierungen, mit welchen Jenny Lind ihre Lieblingsarien auszuschmücken pflegte. Wer, wie ich, zu den Glücklichen zählt, welche Jenny Lind auf der Bühne, im Oratorium und im Concertsaal in ihrer Blüthe gekannt haben, der wiederholt von ganzem Herzen Mendelssohn’s Ausspruch: Sie war eine der größten Künst lerinnen, die je gelebt haben, und die größte, die ich kenne.