Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Nr. 9775. Wien, Donnerstag, den 12. November 1891 Hanslick, Eduard Wilfing, Alexander FWF Der Wissenschaftsfond.
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Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Herausgegeben von Wilfing, Alexander Projektmitarbeiterinnen Bamer, Katharina Pfiel, Anna-Maria Elsner, Daniel Austrian Centre for Digital Humanities and Cultural Heritage Wien 2024

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Maschinenlesbares Transkript der Kritiken von Eduard Hanslick.

Nr. 9775. Wien, Donnerstag, den 12. November 1891 Hanslick, Eduard Neue Freie Presse Morgenblatt Herausgegeben von Etienne, Michael Friedländer, Max Wien 12.11.1891
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Concerte. (Gesellschaftsconcert. Rosenthal. Ilona Eibenschütz. Quartett Rosé.)

Ed. H. Händel’s „Alexanderfest“, das Sonntags den Inhalt des ersten Gesellschaftsconcertes bildete, war zuletzt im November 1873 unter Brahms’ Leitung gegeben wor den. Marie Wilt sang damals die Sopranpartie — in einer Vollendung, die mir unvergeßlich, ja in allen Einzel heiten fest eingeprägt geblieben ist. Jede der Arien, die jetzt aus anderem Munde erklangen, ließ mich an das schauer lich tragische Ende der großen Sängerin denken, und mit diesem Gedanken belebte sich wieder die Erinnerung an ihren Gesang im Jahre 1873. Sie hatte damals schon den Früh ling des Lebens ziemlich weit hinter sich; aber das war ja so merkwürdig, daß ihre Stimme immer wunderbar jugend lich klang, den abseits horchenden Zuhörer auf ein blühen des Mädchen rathen ließ. Ein seltenes Vorkommniß, denn regelmäßig hält Schönheit des Gesichts und der Figur, ins besondere von den Hilfsmitteln der Bühne unterstützt, länger vor, als der Reiz der Stimme, für den es keine Schminke gibt. In Paris konnten die Mars in der Tra gödie, die Déjazet im Lustspiele noch als bejahrte Frauen jugendliche Rollen spielen, nur weil ihr Organ seinen vollen Wohlklang beibehalten hatte. Die Wilt bewahrte sich diesen jugendfrischen Klang viel länger als die meisten bekannten Sängerinnen. An eine Grenze jedoch mußte er naturgemäß doch gelangen, und diese Grenze lag dicht jenseits ihres 50. Jahres. Da suchte die Sängerin durch eine forcirte, schreiende Tongebung, welche auch die Reinheit der Intonation gefährdete, sich und uns zu täuschen über die Treulosigkeit ihres so lange treugeblie benen Organes. Aber wer ihr unbefangen zugehört hat in der Salzburger „Don Juan“-Aufführung 1887 und in Beethoven’s D-Messe1889, der täuschte sich nicht mehr, sondern gewahrte mit bitterem Weh die endliche Verwüstung einer der herrlichsten Stimmen. Zu dieser seltenen Stimme gesellte sich bei der Wilt eine sichere virtuose Technik und ein durch und durch musikalischer, gediegener Vortrag. Das sind die Grundbedingungen, die ersten und wichtigsten, wenn auch nicht die einzigen, einer vollendeten Gesangsleistung. Für die maßvollen Empfindungen, die klaren, starken Linien der Oratorien-Musik werden diese Vorzüge in der Regel

vollauf genügen und für sich allein Großes erreichen. Dem Gesange der Wilt im Alexanderfest, in der Cäcilien-Ode, in der Schöpfung, in Brahms’ „Deutschem Requiem“ wüßte ich nichts Aehnliches an die Seite zu stellen — unvergessene und unvergeßliche Kunstgenüsse. Auf der Bühne hat sie, gleichsam als vollendet gespieltes musikalisches Instrument, das Ohr entzückt; tiefer drang mir der Eindruck selten. Von der dramatischen Sängerin war ich, offen gestanden, niemals be geistert. Sie hatte keine Spur von schauspielerischem Talent, von schauspielerischer Bildung. Das Ungenügende ihrer Bühnenleistung lag keineswegs, wie oft geglaubt wurde, einzig und allein an der mangelnden Jugend und Schönheit, so werthvoll, ja, unschätzbar diese Mitgift auch ist für Dar stellerinnen jugendlicher Rollen. Es gibt verschiedene Arten von unschönem Aeußern: geistvolle Häßlichkeiten, dämonische, gemüthliche. Wer erinnert sich nicht an eine und die andere Sängerin (insbesondere aus Frankreich und Italien), deren anfangs abstoßende, unregelmäßige Züge sich im Singen ver edelten, vergeistigten, ja, seltsam anziehend werden konnten? Ein durch Geist oder tiefes Gemüth unmittelbar fesselndes Seelenleben drängte sich hier durch die widerspenstigen Ge sichtszüge gleichsam an die Oberfläche, prägte jede Miene, jede Bewegung und siegte über die ungefällige Form. Solche Vergeistigung und Veredlung von Innen heraus habe ich bei der Wilt kaum jemals wahrgenommen. Man brauche, so hieß es oft, im Theater nur die Augen zu schließen, um von dem unvergleichlichen dramatischen Vortrag der Wilt hingerissen zu sein. War dies so? Nicht ganz. Nicht blos aus dem Auge spricht die Seele eines Menschen, auch seine Stimme ist solch ein Fenster: man erkennt bald, wer da heraussieht. Aus dem Tone der Wilt quoll sicheres, starkes Gefühl, ruhige Kraft, auch lodernde Leidenschaft, aber jenen Hauch feinerer Bildung, der sich in der geistvollen Nuancirung eines Satzes, eines Wortes verräth, kannte ihr Gesang ebensowenig, wie den Blüthenduft allerzartester Empfindung. Die eigenste Natur dieser Frau, wie wir Alle sie im Leben gekannt, ver sagte auch auf der Bühne das Poetische. Selbst in dem hellblinkenden Metall ihrer Stimme lag etwas, das an den Glanz des sonnenbeschienenen Eises mahnte. Daß die Wilt ihr mächtiges Organ für den Coloraturgesang ebenso geschult hatte, wie für den breiten, pathetischen Vortrag, und im Stande war, in den „Hugenotten“ nach Belieben die Valen tine oder die Königin zu singen, das allein würde sie zu einer seltenen Erscheinung in der Theatergeschichte stempeln. Diese Vorzüge der Wilt, von keiner ihrer Colleginnen er

reicht, waren eminent musikalische und nur musikalische. Darum wirkten sie am reinsten und stärksten im Concert saale, vor Allem im Oratorium, wo die Sängerin gleichsam unpersönlich auftritt, nicht als ein Charakter, sondern lediglich als eine Stimme. Darum mußte die jüngste Aufführung des Alexanderfestes“ in uns die Erinnerung an die unglückliche große Sängerin so stark und lebhaft erwecken. Wenden wir uns nun zu unserem Concert zurück.

Das Alexanderfest oder die Macht der Tonkunst“ ge hört überall, wo Musik gemacht wird, zu den beliebtesten Werken von Händel. Die farbenreiche Mannigfalt der darin wechselnden Stimmungen und die Beihilfe der Mozartschen Bearbeitung haben das Werk in Deutschland frühzeitig populär gemacht. Das Publicum liebt es, die Macht der Tonkunst durch diese selbst gepriesen und illustrirt zu sehen, was immerhin, selbst für große Meister, ein gewagtes Unter nehmen bleibt. In langem Zeitverlauf wechselt der musika lische Geschmack; die „Wirkungen der Musik“ oder genauer: der bestimmte psychologische Eindruck eines Musikstückes auf uns, äußert sich heute vielfach anders, als vor 150 Jahren. Die Componisten unseres Jahrhunderts besitzen nicht mehr die naive, gesunde Kraft, den einfachen starken Linienzug Händel’s; aber in der Schattirung der Seelenzustände, in der Stimmungsmalerei, kurz in ihrem psychologischen Theil ist die Musik seit Mozart, Beethoven und Weber bezeichnender, feiner, lebendiger geworden. Klingt die steife Sopran-Arie in B-dur, „Der Held von süßem Liebesleid berückt“, uns Kindern des neunzehnten Jahrhunderts wirklich noch wie ein „Wonnerausch trunkener Lust“? Finden wir heute den Chor „Es jauchzen die Krieger“ nicht unbegreiflich zahm für eine Horde berauschter Brandleger? Und die A-dur- Arie, welche schildert, wie Thaïs unter dem „wilden Hohn der jauchzenden Krieger“ mit der Brandfackel voranstürzt — kann Jemand, der den Text nicht kennt, in dieser Musik etwas Anderes hören, als einen graziösen Menuett? Das Alexanderfest bewegt sich nicht blos in den Formen einer weit hinter uns liegenden Zeit, auch der nationale Geschmack der Engländer scheint stärker als in den übrigen Oratorien Händel’s auf diese Musik abgefärbt zu haben, theilweise schon durch die Wahl des Gedichtes. Dryden baut seine Cantate auf die von den Verehrern der altgriechischen Musik unter deren „Wunderwirkungen“ registrirte Anekdote, daß der Sänger und Flötenspieler Timotheus durch eine von ihm gespielte Weise Alexander den Großen zu kriegerischer Wuth aufreizte und durch eine zweite Melodie wieder be

sänftige. Das wäre für ein Oratorium allerdings ein bedenk lich magerer Stoff gewesen. Dryden brachte deßhalb die Timotheus-Anekdote mit einer zweiten in Verbindung, mit dem von einer athenischen Buhlerin Namens Thaïs, angestifteten Brand von Persepolis. Dieser Dame fiel es nämlich nach einem Trinkgelage im Königspalast des eroberten Persepolis ein, daß die Perser bei ihrem Einbruch in GriechenlandAthen eingeäschert haben. Sie ergriff, „um ihre Vaterstadt zu rächen“, eine Fackel, stürmte den weinberauschten Soldaten Alexander’s voran, und Persepolis stand in Flammen. Dryden suchte diese Thaïs möglichst zu veredeln, er nennt sie „wie Hebe jung, wie Hebe schön“ und weist ihr den Platz neben Alexander an. Die Beiden, als „seliges Paar“ gepriesen, lauschen den Vorträgen des berühmten thebanischen Ton künstlers Timotheus, der nun die unwiderstehliche Gewalt der Musik über die Gemüther der Zuhörenden erprobt. Aus gehend von der Freude über den Anblick des königlichen Paares, übergeht er zu einer Huldigung für Alexander und schildert hierauf den Jubel einer Bacchusfeier. Plötzlich über springt er zu Tönen der Trauer, das jammervolle Ende des besiegten Feindes Darius beklagend. Seine Gesänge haben ganz die gewünschte Wirkung: nach dem Brautlied sinkt Alexander liebestrunken an die Brust der Thaïs; die Klage um Darius entlockt den Hörern Thränen des Mitleids; nach dem Rachegesang stürzen die Krieger mit Brandfackeln hinaus. Bis hieher hat das Oratorium eine Art dramati schen Fortgangs und einen geschichtlichen Rahmen, nämlich das Leben Alexander’s des Großen. Jetzt aber tritt der Dichter zu unserer Ueberraschung persönlich hervor und erklärt, was wir bisher als wirklichen Vorgang mit angeschaut, für eine Phantasmagorie, ein gelehrtes Citat: „So stimmte einst, eh’ noch erscholl der heilige Sang, die Orgel noch erklang, der Grieche seiner Flöte Ton“ — und dann: „Vom Himmel kam Cäcilia.“ Wie erklären wir uns diesen unvermittelten Sprung aus dem griechischen Alterthum zur christlichen Kirchenmusik, von Timotheus zur heiligen Cäcilia? Nur aus dem äußerlichen Umstand, daß Dryden’s Ode für ein Cäcilienfest bestimmt war, das die Londoner Tonkünstler alljährlich am 22. November zu feiern pflegten. Für diesen Zweck hat Händel’s großer Vorgänger Purcell seine werthvollsten Compositionen verfaßt und Dryden sein Alexanderfest und die sogenannte kleinere Cäcilien-Ode gedichtet. Der heiligen Cäcilia zu Ehren wird also die christ liche Musik der alten gegenüber-, aber doch nicht schlechtweg

darübergestellt, denn der Dichter theilt schließlich den Kranz zwischen Beide. Dryden’s Ode genießt in England die höchste Verehrung, und der Dichter selbst war nicht wenig stolz darauf. Als eines Tages ein Poet ihm Complimente darüber machte, antwortete Dryden „Ja, junger Mensch, sie hat auch nicht ihres Gleichen!“ Wir hegen für das Gedicht eine mäßigere Begeisterung und sind jedenfalls der Meinung, daß die Musik das Beste dazu thun mußte. Die Frische, Mannig faltigkeit und anschauliche Kraft der Händel’schen Compo sition erhält das Werk lebendig. Händel’s größten biblischen Oratorien möchten wir trotzdem das Alexanderfest nicht gleich stellen; es zeigt an manchen Stellen eine schwächere Er findungskraft. Die Arien gehören überwiegend zu jenen bei Händel zahlreichen, von denen man nur das Thema im Gedächtniß behält; alles Weitere ist gleichsam ein neben sächliches, selbstverständliches Sichfortsetzen und Abrollen des im Thema gegebenen Musikstoffes, nicht lebendige Ent wicklung durch neue Gegensätze und Steigerungen. Prachtvoll sind die meisten Chöre im Alexanderfest; sie wachsen aus den vorhergehenden Arien effectvoll heraus, deren Inhalt mächtig verstärkend und ausbreitend.

Die gelungene Aufführung des schwierigen Werkes hat den Sängern wie dem Dirigenten Herrn Gericke ver dienten Beifall eingetragen. Unter den Solisten glänzten insbesondere der Bariton Herr Eugen Hildach; er erwies sich in dem Vortrage der ungemein schwierigen Rache-Arie als ein Meister seiner Kunst. Minder gut disponirt war diesmal seine Gattin; sie imponirt durch bedeutende Technik und große Sicherheit, allein der scharfe spitze Glaston ihrer höheren Töne, wie die geringe Wärme des Ausdruckes stehen einer vollen und starken Wirkung ihres Gesanges im Wege. Mit einer kleinen, gutgeschulten Stimme sang Herr Litzinger aus Düsseldorf die Tenorpartie. Musterhaft hielten sich die Herren und Damen vom „Wiener Sing verein“; das präcise Einsetzen und die feine Schattirung in dem Schlußchor „Ein heller Jubelschrei“ ist uns ganz be sonders aufgefallen.

Die Virtuosen-Concerte haben auch bereits begonnen; wie sich fast von selbst versteht, auf dem Clavier. Herr Moriz Rosenthal, der Tausendkünstler und Hexenmeister unter den Pianisten, ist den Wienern wohlbekannt; Fräulein Ilona Eibenschütz war es einstens. Denn heute ist sie nicht mehr das kleine „Wunderkind“ in kurzem Röckchen, sondern ein wirkliches Fräulein und fertige Virtuosin. Sie hat die letzten vier bis fünf Jahre ausschließlich dem Stu

dium bei Frau Schumann in Frankfurt gewidmet. Diese lange Pause, welche sich Fräulein Eibenschütz in ihrem öffent lichen Auftreten dictirte — ein Vorbild für alle Wunder kinder! — und die liebevolle Führung einer Meisterin wie Clara Schumann mußten gute Früchte tragen. Leiblich ist die „kleine Ilona“ nicht sonderlich gewachsen seit ihren letzten Wiener Concerten, umsomehr überraschte die Energie, mit welcher das zart gebaute Mädchen gleich das einleitende Maëstoso der Beethoven’schen C-moll-Sonate (op. 111) packte. Die Orgelfuge von Bach, Schumann’s symphonische Variationen, das H-moll-Capriccio von Brahms und die Liszt’sche „Campanella“ — Stücke, die, jedes in anderer Weise, zu den schwierigsten Aufgaben zählen — bewältigte Fräulein Eibenschütz mit ausdauernder Kraft und einer allen Schwierigkeiten gewachsenen Technik. Nur vor allzu häufigem Pedalgebrauch möchten wir sie warnen. So individuelle und geistig schwer zugängliche Tondichtungen, wie die letzten Sonaten von Beethoven, verlangen überdies noch größere Freiheit und Innigkeit des Vortrages. Hier wird hoffentlich die weitere seelische Entwicklung der jungen Künstlerin das noch Fehlende herbeiführen.

Das Quartett Rosé, dessen Programm heuer durch eine große Zahl interessanter Novitäten anlockt, hat seine Productionen mit einem Streichquartett von Alexander Borodin eröffnet. (So heißt der Name, dem auf fran zösischen Titelblättern, der Aussprache wegen, ein stummes e angehängt wird.) Es ist das, unseres Wissens, die erste Composition, durch welche dieser kürzlich verstorbene russische Tondichter in Wien bekannt wird; nicht einmal Rubinstein hat ihn in das Programm seines monströsen russischen Clavier-Abends aufgenommen. Wie so viele seiner componi renden Landsleute, die erst spät und auf Umwegen zur Musik gelangt sind, ist Borodin eigentlich Dilettant. In Petersburg1834 geboren, studirte er Medicin, wurde Militär- Arzt, dann Professor an der medicinisch chirurgischen Aka demie, endlich kaiserlicher Staatsrath. Von Balakirew angeregt, pflegte er neben seiner wissenschaftlichen Thätigkeit die Musik. Er hat mehrere Kammermusikstücke, zwei Sym phonien, eine symphonische Dichtung („Mittel-Asien“) und eine Oper, „Fürst Igor“, componirt. Neuen russischen Com positionen gehen wir stets mit einiger Besorgniß entgegen. Werden wir da nicht an unvermutheter Stelle von zähne fletschenden Wölfen angefallen, oder wenigstens in einen Rundtanz betrunkener Bauern eingeteilt werden? Blasirte Wildheit, sibirischer Liszt, Dynamit-Patronen unter dem Eise,

das sind ja die Lieblingselemente des musikalischen jungen Rußland. Nichts von alledem in dem D-dur-Quartett von Borodin. Dieser Russe hat sich unsere classischen Meister zum Vorbild genommen; er schreibt in übersicht licher Form, klar und einheitlich, mit Vorliebe und Geschick für contrapunktische Ausführungen. Die Themen sind nicht von hervorragender Originalität, wachsen aber an Interesse im Verlauf der gewandten, stellenweise geistreichen Durch führung, die nur in allzu häufiger Wiederholung derselben kleinen Motive etwas zu weit geht. Das erste Allegro, echt quartettmäßig geschrieben, scheint mir der beste Satz; er hält sich im Tone ungefähr an den früheren Beethoven, mit einigen Spohr’schen Mondstrahlen am Ende. Das Scherzo, eine Art perpetuum mobile in Dreivierteltact, und das Notturno mit der sanft klagenden Melodie im Violoncell machen ebenfalls einen günstigen Eindruck. Schade, daß das Finale abfällt — eine bedauerliche Eigenheit so vieler rus sischer Compositionen — es ist der einzige von den 4 Sätzen, in welchem der Componist durch unmotivirte Unterbrechungen zu vertuschen sucht, daß ihm der Faden ausgegangen ist. Ein verständiger, ernster, auch liebenswürdiger Zug geht durch Borodin’s Quartett, das wir anziehend finden, ohne es genial nennen zu können. Die Novität, brillant gespielt, fand lebhaften Beifall. Eine erfreuliche Ueberraschung be reitete uns Herr Ignaz Brüll mit dem Vortrag von Brahms jugendlicher Sonate in F-moll (op. 5). Dieselbe wird äußerst selten gespielt; aus guten Gründen, denn sie ist nicht blos technisch sehr mühsam zu bewältigen, sondern noch schwerer im Geiste des Componisten überzeugend darzustellen. Brüll zeigte sich dieser Doppel aufgabe meisterhaft gewachsen. Nur ein Künstler, der, ver traut mit jeder Faser der seltsamen Tondichtung, sie voll ständig in sich aufgenommen hat, vermag dieses leidenschaftlich zerklüftete Allegro, dieses wehmüthig vor sich hinträumende Andante so wiederzugeben. Brüll spielte die Sonate mit der Unmittelbarkeit einer freien Phantasie, fast wie ein eigenes Erlebniß. Er gehört nicht zu jenen Concertspielern, die vor dem Publicum ihren Vortrag eigens schminken, etwa wie die Leute, die beim Photographiren ein verschärft geistreiches oder liebliches Gesicht machen. Ein großer Virtuose, suchte er doch in keinem Tact zeigen zu wollen, daß er es ist. Tondichtungen wie die Brahms’sche Sonate spielt er anscheinend nur zu seiner eigensten Befriedigung, wie auf einer weltvergessenen Insel, wo weit und breit kein Mensch zuhört.