Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Nr. 9794. Wien, Dienstag, den 1. December 1891 Hanslick, Eduard Wilfing, Alexander FWF Der Wissenschaftsfond.
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Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Herausgegeben von Wilfing, Alexander Projektmitarbeiterinnen Bamer, Katharina Pfiel, Anna-Maria Elsner, Daniel Austrian Centre for Digital Humanities and Cultural Heritage Wien 2024

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Maschinenlesbares Transkript der Kritiken von Eduard Hanslick.

Nr. 9794. Wien, Dienstag, den 1. December 1891 Hanslick, Eduard Neue Freie Presse Morgenblatt Herausgegeben von Etienne, Michael Friedländer, Max Wien 01.12.1891
font-style:italic; font-weight:bold; Deutsch Transkribus OCR und Lektorat. Transformierung der Daten des Transkribus TEI-Export mit "editions.xsl". Formatierung und Referenzen eingefügt. Letztkorrektur für Zwischenrelease.
Die Mozart-Feier.

Ed. H. Ganz Deutschland begeht jetzt mit festlichen Auf führungen Mozart’scher Werke die hundertste Wiederkehr seines Todestages. Wien steht voran in reichlichster Vertre tung sämmtlicher Kunstgattungen, welche der universellste aller Tondichter gepflegt und gehoben hat. Das Hofopern theater feiert in chronologischem Cyklus den dramatischen Tondichter, die Gesellschaft der Musikfreunde und das Phil harmonische Concert den Kirchencomponisten und Sympho niker, drei Quartettvereine (Rosé, Hellmesberger, Winkler) wetteifern in der Ausführung seiner schönsten Kammermusiken. Sänger und Virtuosen endlich treten hinzu und vervollstän digen sein Wirken auf der Orgel, auf dem Clavier und im einfachen Liede. Wie man im Jahre 1856 allerwärts den hundertsten Geburtstag Mozart’s festlich beging, so erinnert man sich jetzt des Tages, der uns den Meister für immer entriß. Jeder Gedenktag ist gut und heilig, der uns Mozart in die Arme führt und uns seine Größe zum Bewußtsein bringt. Freilich ist’s ein Trauertag, und einer der schmerz lichsten, den wir am 5. December feiern. Wir stehen dies mal im Schatten jenes Glücksgefühls, dass beim Mozart- Jubiläum von 1856 alle Herzen sonnig durchströmte. Dort der Anfang, hier das Ende. Welcher Götterfrühling, diese Kindheit Mozart’s, mit der wunderbar schnellen Ent wicklung seines Genies, seinen frühen Triumphen, seinen stolzen Hoffnungen! Er hat wahrlich Alles gehalten, was er versprach; ihm aber hielt das Leben nicht, was er er warten, was er fordern konnte. Es war das Schicksal des in der Jugend Vergötterten, daß mit dem Wachsen seines Genies der Antheil der Zeitgenossen nicht gleichfalls wuchs, sondern abnahm und den größten Tondichter auf der Höhe seiner Meisterschaft arm und verkannt sterben ließ. Indem wir jetzt hundert Jahre zurückblicken, ziehen die düsteren Bilder von Mozart’s letzter Lebenszeit an uns vorüber. Müde, überangestrengt, bedrückt von Sorgen um das tägliche Brot, sank er auf das Krankenlager, das nach 15 Tagen

sein Todesbett wurde. Die letzten zehn Jahre, die frucht barsten, glorreichsten für seine Kunst, waren die drückendsten für ihn selbst. Im Jahre 81 schrieb Mozart die erste seiner reifen, epochemachenden Opern: „Idomeneo“; im Jahre 91 schuf er seine letzte Oper, „Die Zauberflöte“, und that seinen letzten Athemzug. In diesen kurzen Zeit raum von zehn Jahren hat er den unerschöpflichen Reich thum seiner großen Schöpfungen zusammengedrängt. Die unheilvolle Wendung in Mozart’s Leben beginnt eigent lich mit seiner Verheiratung in Wien. Sie führte das Zer würfniß mit seinem Vater herbei, machte ihn als Künstler abhängig von Verlegern und Gönnern und veranlaßte die fortan steigenden Geldverlegenheiten, welche einer voreiligen Heirat und anwachsenden Kinderzahl schnell zu folgen pflegen. Ueberdies war seine so zärtlich geliebte Constanze schwerlich die Frau, die man einem Mozart wünschen mochte; nicht nur besaß sie kein rechtes Verständniß für seine künstlerische Bedeutung, ihr fehlte auch der praktische Sinn und die energische Hand, welche einem so schwankenden Hauswesen noththat.

In seiner „Festschrift zur Mozart-Centenarfeier 1891veröffentlicht der um die Mozart-Forschung vielfach verdiente Director Joh. Ev. Engl in Salzburg drei bisher unbe kannt gebliebene Briefe Mozart’s aus dessen letzter Zeit. Sie sprechen von schwerer finanzieller Bedrängniß. Aber stets weiß Mozart diese trüben Mittheilungen an seine Frau durch heitere tröstliche Ausblicke und zärtliche Spässe zu er hellen! Er schreibt ihr (October 1790) aus Frankfurt a. M., wo er eben ein erfolgloses Concert gegeben, er werde gleich nach seiner Rückkehr durchaus nicht im Stande sein, 800 oder 1000 fl. an seine Gläubiger abzuzahlen, doch wolle er in Wien fleißig arbeiten und Lectionen geben. „Suche nur meinen Vorsatz, Scolaren zu nehmen, bekannter zu machen!“ Das echt Mozart’sche Postscriptum lautet: „Als ich dir einige Seiten schrieb, fiel mir auch manche Thräne auf’s Papier; nun aber lustig, — fange auf — es fliegen viele Busserl herum!“ Das unglückliche Stunden geben, welche Qual für Mozart! Er verlangte für eine Lection einen halben Ducaten, damals etwas über zwei Gul

den. Mehr als drei oder vier Lectionen konnte er aber nicht annehmen und bekam oft diese nicht. Der uralte Hofcapell meister und ehedem beliebte Operncomponist Gyrowetz, den ich als Student manchmal besuchte, erzählte mir, wie er am Tag vor seiner Abreise nach ItalienMozart auf dem Stephansplatze begegnet und sich von ihm verabschiedet habe: „O, Sie Glücklicher,“ rief Mozart schmerzlich aus, „der Sie nach Italien reisen! Könnte ich doch mit! Aber ich muß hier herumlaufen und Lectionen geben für’s tägliche Brot.“ Was Mozart damals wünschte und anstrebte, war „ein gutes Engagement an einem Hofe“. Aber Kaiser Leopold II. gab seinem Ansuchen um die zweite Hofcapellmeister-Stelle nicht statt, sondern verlieh sie dem Salieri. Auch wurde Mozart weder zu Hofmusiken geladen, wie Salieri, Haydn, die beiden Stadler, noch zur Kaiserkrönung nach Frankfurt. Die auf eigene Faust unternommene Kunstreise nach Frankfurt brachte nichts ein, ja sie häufte neue Schulden zu den alten. Dem braven Kaufmanne Puchberg, der ihm wiederholt mit Dar lehen aushalf, schuldete Mozart bereits über 2000 Gulden. Vielleicht war er überdies in den Händen von Wucherern. Auch dem Versatzamt blieb er nicht fern; vor der Reise nach Frankfurt mußte er sein ganzes Silbergeräth versetzen. Noch im Mai 1791 hatte er sich um die unbesoldete Adjunctenstelle an Seite des alten Capellmeisters Hofmann in der Stephanskirche beworben, blos um eventuell die An wartschaft auf dessen Amt zu bekommen. Aber der hochbetagte Domcapellmeister überlebte den 36jährigen Adjuncten.

Unter so drückenden Verhältnissen neigte sich Mozart’s Leben seinem Ende zu. Lange sehen wir sein glückliches Temperament, seinen natürlichen Frohsinn vorhalten. Erst mit der unheimlichen Bestellung des Requiems versagte sein sanguinisches Naturell und schlug plötzlich in tiefe Melancholie um. Im April 1787 hatte Mozart an seinen von schwerer Krankheit genesenen Vater geschrieben: „Da der Tod, genau zu nehmen, der wahre Endzweck unseres Lebens ist, so habe ich mich seit ein paar Jahren mit diesem wahren, besten Freunde des Menschen so bekannt gemacht, daß sein Bild nicht allein nichts Schreckendes mehr für mich hat, sondern sehr viel Beruhigendes und Tröstendes.“ Auf Grund dieser

Briefstelle wird hie und da behauptet, Mozart habe den Tod mit heiterer Ruhe erwartet. Wie wäre es aber denkbar, daß ein lebensfroher Mensch wie Mozart in der Vollkraft seiner Jahre und seines Schaffens, an der Seite einer jungen Frau und zweier kleiner Knaben, den Tod als etwas Tröstliches, ja nur Gleichgiltiges ansehen konnte! Es war auch nicht so. Die anhaltende, tiefe Melancholie, aus welcher seine Freunde und Constanze ihn während der letzten Monate nicht zu reißen vermochten, was war sie Anderes, als Todesahnung, Todesfurcht? In einem (wahrscheinlich an L. da Ponte gerichteten) italienischen Briefe schreibt Mozart: „Mein Kopf ist wie zerstückt, meine Kraft gelähmt, und das Bild jenes Unbekannten (der das Requiem bestellte) steht immer vor meinen Augen. Ich sehe ihn beharrlich, wie er mich bittet, antreibt und ungeduldig die Arbeit abverlangt. Ich fühle nur allzusehr: „Die Stunde schlägt“, mit mir dauert es nicht mehr lange — ehe ich von meinem Leben einen entsprechenden Nutzen ziehen konnte, stehe ich am Ziele — und doch — das Leben war so schön.“ Wie klingt das wahr und tief heraus, aus schwer bedrücktem Herzen! Ja, Mozart war wol der Letzte, der auf das Anpochen des Sensenmannes mit ruhiger Heiterkeit „Herein!“ rufen mochte. Vielmehr bestätigt er den Ausspruch La Rochefoucauld’s: „Tout homme, qui sait voir la mort, telle qu’elle est, trouve que c’est une chose épouvantable.“

Irrig ist auch die viel verbreitete Meinung, Mozart’s Zeitgenossen seien gleich nach seinem Tode zum Bewußtsein ihrer Indolenz und Ungerechtigkeit gekommen. In diesem Falle wäre schon das armselige Leichenbegängniß, die Gleich giltigkeit gegen seine alsbald unauffindbare Grabstätte, endlich die jahrelange klägliche Dürftigkeit seiner Frau und Kinder nicht denkbar gewesen. Mozart’s Hinterlassenschaft betrug sechzig Gulden, seine sämmtlichen Habseligkeiten wurden auf nicht ganz vierhundert Gulden, seine Schulden auf drei tausend Gulden geschätzt. Kaiser Leopold II. bewilligte zwar für Mozart’s Witwe eine Pension von zweihundertfünfzig Gulden, daß er aber die Schulden bezahlte, wie wir soeben in einem neuen Mozart-Artikel lesen, ist ungenau. Er hat

nur reichlich beigesteuert zu dem Concert, welches die Witwe im Saale des Hof-Traiteurs Jahn in der Himmelpfortgasse veranstaltete. Auch später noch, bis zu ihrer zweiten Verhei ratung mit dem russischen Staatsrathe Nissen, gab Constanze in verschiedenen Städten Akademien zum Besten der Familie, wobei ihr kleiner Sohn Wolfgang Lieder aus der „Zauber flöte“ sang. Aber nicht blos gegen Mozart’s Familie, auch gegen seine Werke blieb man noch lange Zeit gleichgiltig. Als die WitweMozart’s einen Clavierauszug von „Ido meneo“ nach der Original-Partitur auf Pränumeration an kündigte, meldete sich — Niemand. Auch mit dem letzten Clavier-Concert von Mozart (Nr. 17 B-dur), dessen Heraus gabe sie nicht aus eigenen Mitteln bestreiten konnte, hatte die Witwe den gleichen entmuthigenden Erfolg.

Das sind unsäglich traurige, beschämende Erinnerungen. Aus dem niederdrückenden Gefühle derselben erhebt uns nur die Wahrnehmung, daß jetzt die Nachwelt an Mozart’s Wer ken gutzumachen sucht, was seine Zeitgenossen an ihm selbst gesündigt. Ein Fest, wie das von ganz Europa gefeierte Don-Juan-Jubiläum (1887) ist in der gesammten Kunstgeschichte ohne Beispiel. Und jetzt wetteifern die Opern bühnen, die großen und kleinen Concert-Institute in der würdigen Vorführung der Werke unseres Tondichters. Es ist eine Art großartiger Mozart-Ausstellung, wo mit heute die musikalische Welt die hundertste Wie derkehr seines Todestages in ernster Feier begeht. Die Philharmoniker machten den Anfang mit einem Concert, das Hofcapellmeister Hanns Richter aus Mozart’schen Wer ken sinnreich zusammengestellt hatte. Die „Maurerische Trauermusik“ leitete mit ihrer schwermüthigen Feierlichkeit in die dem Gedenktage entsprechende Stimmung und er innerte zugleich an die humanen und freisinnigen Bestrebun gen Mozart’s als Mitglied des Freimaurer-Ordens. Es ist eine Gelegenheits-Composition zu der in der Loge „zur ge krönten Hoffnung“ abgehaltenen Trauerfeier für zwei Frei maurer-„Brüder“; eine Klage von schlichtem, ungesucht würdevollem Ausdrucke. Die tiefen Grabestöne der Basset hörner und des Contrafagotts verstärken die düstere Färbung

dieses Adagios, dessen charaktervolle Klangschönheit wir übri gens höher stellen, als ihren musikalischen Ideengehalt. Eine zweite kürzere Instrumental-Composition von Mozart, Adagio und Fuge in C-moll, kam im Philharmonischen Concert zur ersten Aufführung. Mozart hatte diese Composition, ein großes Meisterstück in kleiner Form, ursprünglich für zwei Claviere geschrieben, dann erst für das Streichquartett gesetzt. In dem richtigen Gefühle, daß sein ungemein energischer Charakter eine stärkere Tonfülle verlangt, läßt H. Richter das Stück vom ganzen Streichorchester spielen. Freilich werden sich wenige Orchester finden, welche das kunstvolle Stimmen gewebe dieser Fuge mit solcher Klarheit auszuführen ver möchten, wie unsere Philharmoniker. Der Applaus nach dieser Leistung steigerte sich zum Jubel nach jedem Satze der Es-dur-Symphonie, diesem Ideal an Grazie, Wohl laut und unaufdringlicher contrapunktischer Kunst. Mit be sonderer Freude begrüßten wir Mozart’s letztes Claviercon cert (B-dur, Nr. 17), das in Wien wahrscheinlich nicht ge hört worden ist, seit Mozart selbst es in einer seiner Aka demien spielte. Es ist ein überaus freundliches, klangschönes Werk, aus dem zwar nicht der volle Gedankenreichthum, aber doch die ganze Liebenswürdigkeit und heitere Anmuth seines Schöpfers ausklingt. Das Rondo hat dasselbe Thema wie Mozart’s zur selben Zeit (Januar 1791) für eine Kinderzeitschrift componirtes Lied: „Komm lieber Mai und mache die Bäume wieder grün“, das sich noch im Munde der Kinder erhalten haben soll. Fräulein Marie Bau meyer, vom Publicum mit herzlichem Applaus begrüßt,s zeigte sich da als vollendete Mozartspielerin. Das dünkt wol unserer heutigen Clavier-Artillerie nichts Besonderes und ist doch bereits eine rechte Seltenheit. Die modernen Virtuosen verschmähen Mozart, denn er hilft ihnen nicht, das Publicum zu verblüffen. Aber Mozart spielen, wie er gespielt sein will, ist eine Kunst für sich, die neben anderen Tugenden noch die seltenste verlangt: künstlerische Bescheidenheit. In Fräulein Baumeyer sehen wir den unvergeßlichen Mozart-Vortrag ihres Meisters Julius Epstein neu aufleben. Einer Künstlerin, welche allerschwierigste Aufgaben, wie

BrahmsD-moll-Concert, tadellos bewältigt, steht es dop pelt schön, wenn sie ein Mozart’sches Concert mit voller Hingebung spielt, ohne mit eigenen virtuosen Cadenzen für ihre Eitelkeit zu sorgen. Fräulein Baumeyer begnügte sich pietätvoll mit den von Mozart selbst hinzucomponirten Ca denzen, welche über eine geläufige Scalentechnik, Arpeggien und etliche Triller nicht hinausgehen. Mit ihrem schönen, singenden Anschlag, ihrem perlenden Passagenspiel, vor Allem mit ihrer feinen musikalischen Empfindung, die nirgends zu viel oder zu wenig thut, hat Fräulein Baumeyer dem Mozart’schen Concert zu einer Wirkung verholfen, welche man ihm kaum zugetraut hätte.

Schade, daß sich immer erst ein Jubiläum einstellen muß, damit man ein Mozart’sches Concert zu hören be komme. Diesem Gedanken entstammt eine eben erschienene sehr beherzigenswerthe Schrift von dem Director der Leipziger Gewandhaus-Concerte, Professor Karl Reinecke: „Zur Wiederbelebung der Mozart’schen Clavierconcerte.“ Seit Ferdinand Hiller todt ist und Clara Schumann nicht mehr öffentlich auftritt, hat Karl Reinecke als Mozartspieler keinen Rivalen in ganz Deutschland. Er ist wie kein Zweiter dazu berufen, über Auffassung und Ausführung Mozart’scher Claviermusik ein gewichtiges Wort zu sprechen. Für die Ver nachlässigung der Mozart’schen Clavierconcerte will er weder das Publicum noch die Virtuosen allein verantwortlich machen. Es müsse doch einige Schuld auch an den Clavier concerten selbst liegen. „Gewiß,“ sagt Reinecke, „bieten sie dem Spieler Gelegenheit, durch seine Vortragskunst und Ge läufigkeit zu glänzen — aber nicht genügend, weil Mozart nach damaligem Branche Manches (um nicht zu sagen Vieles) in seinen Concerten nicht so aufschrieb, wie er selbst es spielte und wie er es von Anderen gespielt haben wollte, sondern Vieles nur in Umrissen gab, die auszu führen von dem Spieler verlangt ward.“ Zu Mozart’s Zeiten war dem Concertspieler eine viel größere Selbstständigkeit eingeräumt, als heutzutage der Fall ist. Schon der allgemeine Brauch der „Cadenz“ beweist es; desgleichen der Umstand, daß Mozart in seinen Cla

vierconcerten fast kein einziges Vortragszeichen auf schreibt, während er seine Compositionen für Clavier allein meistens sehr genau bezeichnet. Aber nicht allein die sogenannte große Cadenz vertraute Mozart dem Spieler an; er verlangte von ihm auch, daß er die kleinen Ueber gänge vor der Wiederkehr eines Hauptthemas, wenn diesem eine Fermate vorherging, nach selbstständiger Empfindung hinzufüge. Letzteres beweist eine Anzahl Blättchen seiner eigenen Handschrift, welche lauter derartige „Eingänge“, wie Mozart sie nannte, enthalten und welche dem Verfasser im Autograph vorliegen. Mozart hat dieselben muthmaßlich für seine Schüler und Schülerinnen, die Derartiges nicht selbst erfinden konnten, aufgeschrieben — ein Beweis, daß er an solchen Stellen kleine Ueberleitungen zum Thema verlangte. Reinecke citirt auch in Notenbeispielen Stellen aus Mozart’schen Concerten, Tacte und Perioden von solcher Dürftigkeit, wie man deren in seinen übrigen Werken nirgends findet und die Mozart gewiß nicht so gespielt hat, noch so gespielt haben wollte, wie er sie notirte. Auffallend ist ferner, daß Mozart in seinen übrigen Clavierwerken fast ausnahmslos die langsameren Themen und Cantilenen (wenn sie öfter als zweimal auftreten) bei jedesmaliger Wiederkehr mit den mannigfaltigsten melismatischen Varianten ausstattet, während dies in seinen Concerten fast nie der Fall ist. Da bringt er die Gesangsthemen der langsamen Sätze vier- bis fünfmal gänzlich unverändert. Offenbar sollte da der Spieler selbstschöpferisch auftreten. Ph. Emanuel Bach, unter dessen Einfluß doch auch Mozart unleugbar stand, schreibt in einer Vorrede: „Das Verändern beim Wiederholen ist heutzutage unentbehrlich. Man erwartet solches von jedem Ausführer.“ Wo und wie der Spieler solche Veränderungen, Verzierungen, Verstärkungen vorzunehmen habe, welche — ohne dem Styl der Composition zu widersprechen — deren Wirkung erhöhen, darüber gibt Reinecke’s Schrift die klarsten und detaillirtesten Nachweise. Möge sie recht viele Leser von künstlerischer Ein sicht finden — dann werden Reinecke’s Bemühungen um die Wiederbelebung der Mozart’schen Clavierconcerte“ nicht frucht los bleiben.