Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Nr. 9815. Wien, Dienstag, den 22. December 1891 Hanslick, Eduard Wilfing, Alexander FWF Der Wissenschaftsfond.
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Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Herausgegeben von Wilfing, Alexander Projektmitarbeiterinnen Bamer, Katharina Pfiel, Anna-Maria Elsner, Daniel Rolandi, Sophie Austrian Centre for Digital Humanities and Cultural Heritage Wien 2024

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Maschinenlesbares Transkript der Kritiken von Eduard Hanslick.

Nr. 9815. Wien, Dienstag, den 22. December 1891 Hanslick, Eduard Neue Freie Presse Morgenblatt Herausgegeben von Etienne, Michael Friedländer, Max 22.12.1891
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Concerte.

Ed. H. Das Quartett Hellmesberger spielte am letzten Donnerstag vor einer dichtgedrängten und erwartungs vollen Versammlung. Die Neugierde galt hauptsächlich einem hnoch ungedruckten Trio von Brahms für Clavier, Vio loncell und Clarinette. Schon diese Zusammenstellung der Instrumente wirkte wie etwas Neues, oder richtiger: als glückliche Erneuerung einer älteren Praxis. Unsere musikalischen Voreltern, denen noch so Manches abzulernen wäre, hatten in ihrer Kammermusik eine viel größere Mannigfalt von Instrumenten als wir. Man denke nur an Bach’s Concerte und Sonaten für Flöte, Geige und Clavier, an Händel’s Trios für zwei Flöten und Baß, zwei Oboën und Baß. Die Clarinette war als ein neu erfundenes Instrument damals noch nicht gebräuchlich, ja sogar in Matheson’s Neu eröffnetem Orchester“ (1713) noch nicht angeführt. Ueber sechzig Haydn’sche Symphonien und sämmtliche Jugendwerke Mozart’s (auch die nächstens hier aufzu führende Oper „La finta Giardiniera“) entbehren noch der Clari netten. Unter den Blasinstrumenten führte ehedem die Oboë das große Wort. Aus Mozart’s späterer Zeit haben wir schon ein köst liches Kammermusikstück mit Clarinette: das sogenannte Stadler- Quintett. Beethoven hat bekanntlich in seiner ersten Periode die Clarinette in einem Clavier-Trio (op. 11) und einem Clavier-Quintett (op. 16) verwendet, aber seine ganze spätere Kammermusik auf das Clavier und Streichinstrumente beschränkt. Der Componist, der zuerst die Clarinette in ihrem ganzen Umfang und ihrer vollen, charakteristischen Schönheit zu Wort kommen ließ, war C. M. Weber. Er war förm lich verliebt in das Instrument und gab ihm die reizendsten Gesangstellen im Orchester. Für seinen Freund, den treff lichen Clarinett-Virtuosen Bärmann, schrieb Weber drei Concerte, außerdem ein Streich-Quintett mit Clarinette und ein großes Duo für Piano und Clarinette. Seither hat sich dieses Instrument fast gänzlich wieder ins Orchester zurück gezogen. Abgesehen von ganz vereinzelten Erscheinungen (wie Schumann’s kleine „Märchen-Erzählungen“ und Brahms Horn-Trio) kann man sagen, daß seit Mendelssohn und Schumann, also seit einem halben Jahrhundert, die Kammer

musik auf die Mitwirkung von Blasinstrumenten verzichtet. Es war ein glücklicher Gedanke von Brahms, ihr wieder ein neues Klangelement beizugesellen, und zwar das seelenvollste aller Blasinstrumente: die Clarinette. In seinen beiden neuesten Werken — dem A-moll-Trio und einem Quintett in H-moll, das wir bei Rosé hören werden — hat Brahms der Clarinette einen ebenso reizvollen als charakteristischen Antheil zugemessen. Der erste Satz des Trio beginnt in idyllischer Ruhe, die sich aber bald zu be wegterer, sogar leidenschaftlicher Stimmung steigert. Der ganze Verlauf ist voll feiner, geistreicher Wendungen; blos die auf- und abrollenden Tonleitern im Durchführungssatz scheinen mir nicht recht aus dem Ganzen herauszuwachsen und machen mehr den Eindruck eines „todten Punktes“. In den elegischen Gesang des Adagio theilen sich meistens das Violoncell und die Clarinette, deren tiefe Schalmeitöne eine romantische Dämmerung über das Ganze breiten. Die Perle des Werkes ist der dritte Satz („Andantino grazioso“ in A-dur), eine süße, liedartige Melodie von gemüthvoller Heiterkeit. Der Satz ist so unmittelbar einschmeichelnd, im edelsten Sinn populär, wie ich wenige von Brahms zu nennen wüßte. Nach diesem erquickenden kleinen Gedicht erscheint mir das Finale mehr als das Werk tonkünstlerischer Combination, als freudigen Schaffens. Jedenfalls kann es sich noch weniger als die beiden ersten Sätze an Frische und Freiwilligkeit der melodischen Erfindung mit dem Allegretto messen. Dieses ist dem Hörer sofort klar und lieb; die Schönheiten der drei anderen Sätze werden wol, wie so häufig bei Brahms, mit jeder Wiederholung deutlicher hervortreten und sich bleibend uns einprägen. Das Trio, in welchem Brahms von dem Clarinettisten Herrn Syrinek und dem Cellisten Herrn Ferdinand Hellmesberger vortrefflich unterstützt wurde, hat außerordentlich gefallen. Bei diesem Anlaß möchte ich auf zwei neue, soeben bei Peters in Leipzig erschienene Vocal- Compositionen von Brahms aufmerksam machen. Zuerst ein Heft mit „Dreizehn Canons für Frauenstimmen“. Sodann „Sechs Quartette für Sopran, Alt, Tenor und Baß mit Clavierbegleitung“ op. 112, worunter vier „Zigeunerlieder“, also eine kleinere Fortsetzung der früher bei Simrock erschienenen Zigeunerlieder. Eine Besprechung dieser Novitäten erfolgt am besten erst nach einer öffent lichen Aufführung derselben. Und diese wird hoffentlich nicht lange ausbleiben. In London sind die sechs Vocalquartette

mit außerordentlichem Beifall bereits in zwei Concerten gesungen und jedesmal stürmisch da capo verlangt worden. Gar zu lange dürfen wir doch nicht gegen die Engländer zurückbleiben.

Ein Concert nicht von großartigem Inhalt, aber groß artiger Anziehungskraft war das für den „Pensions verein des Conservatoriums“ veranstaltete. Joseph Joachim, der dazu eigens von Berlin hergereist war, konnte lange nicht den Bogen ansetzen, so anhaltend brauste der Beifall des ihn begrüßenden Publicums. Endlich be ruhigte sich die Menge und lauschte dem neuen (dritten) Violinconcert von Max Bruch, das kürzlich von Joachim zuerst in die Welt eingeführt worden ist. Bruch ist durch seine zwei bekannten Violinconcerte in G-moll und D-moll ein Liebling und fast unentbehrlicher Nährvater aller Geigen virtuosen geworden. Sein drittes Concert (ebenfalls in D-moll) dürfte, ohne die beiden Vorgänger zu verdrängen, wol gleichfalls ein fester Bestandtheil des bekanntlich recht knapp ausgestatteten Violin-Repertoires werden. Ohne auf Originalität und Ideenreichthum besonderen Anspruch zu machen, steht es doch tüchtig und ansprechend in vornehmer Haltung da, das Werk eines guten und effectkundigen Musikers. Die Solopartie ist durchaus violingemäß und sehr dankbar gesetzt; eine zur „Cadenz“ einladende Fer mate wird der Virtuose nicht schwer vermissen, findet er doch in seinem Part die auserlesenste Bravour. Von dem leidenschaftlich düstern, etwas zu lang ausgedehnten ersten Satz hebt sich das sanfte melodiöse Adagio in B-dur — das beste Stück — sehr glücklich ab; das Finale wirkt durch seine stramme Rhythmik und stürmisches Passagenwerk. Joachim scheint an dem Abend ermüdet oder aufgeregt gewesen zu sein; es läßt sich nicht verhehlen, daß er in dem Bruch’schen Concert häufig unrein spielte. Erst später, in zwei langsamen gesangvollen Stücken seines älteren Reper toires (von Spohr und S. Bach) fanden wir den großen Meister Joachim in seinem alten Glanze wieder. Fräulein Marianne Brandt, die sich nur auf dringendstes Bitten des Comités zum Vortrag der Orpheus-Arie von Gluck ent schlossen hatte, sah sich für diese Gefälligkeit reich belohnt durch den stürmischen Applaus des Publicums. Mit außer ordentlichem Erfolg sang Herr Walter Lieder von Schubert und Brahms, wie sie kaum Jemand ihm nachsingt. Es ist ein neues, schönes Verdienst dieser beiden Meister des Ge

sangs, Marianne Brandt und Gustav Walter, daß sie seit ihrem Abgang von der Bühne ihre Kunst lehrend auf junge Talente übertragen — so viel eben davon übertragbar, näm lich Menschenwerk und nicht Gottesgabe ist.

Das erste Concert des Wiener Männergesang- Vereins litt unter demselben künstlerichen Zwiespalt, der heute keiner Liedertafel erspart bleibt: dem berechtigten Wunsch, Neues zu bringen, gegenüber einem fast trostlosen Mangel an werthvollen Novitäten. So siegte auch diesmal wieder das gute Alte: die Chöre von Schubert und Schumann. Zwei von den Novitäten gehörten, schon durch die Wahl des Gedichtes, zu jenen sentimental zerfließenden, welchen die übermächtige Schallkraft eines starkbesetzten Männerchores widerstrebt. Wenn Edwin Schultz in seinem Chor das „leise vom Sternenzelt herabklingende Singen“, „die schlummernde Welt“ und die „schweigende Nacht“ feiert oder wenn bei Hanns Sitt „des Nachts der Schwan singt, wenn das Schilf so leise rauscht“, so empfindet wol Jeder, wie wenig dis sublimen Gefühlsdelicatessen mit dem Klang und Aussehen eines zweihundertköpfigen Männer chores harmoniren. Die Dichterin, Gräfin Ballestrem, läßt ihren sterbenden Schwan nicht etwa blos einige Töne singen, sondern die ganze Nacht hindurch und offenbar sehr stark, denn beim Sonnenaufgang zittert noch auf den Wellen der Gesang des todten Vogels nach! Da schlägt der Componist Brambach zum Glück in seinem Frühlingschor wieder einen hei tern, beherzten Ton an: „neuer Frühling“, „neues Laub“, „neuer Sonnenschein“ — Alles neu, nur die Melodie nicht. Immerhin sind diese drei Novitäten von Schultz, Sitt und Bram bach durchaus Arbeiten guter Musiker, wohlklingende, rein und effectvoll gesetzte Chöre. Was soll man aber zu einem Chor wie das „Spanische Lied“ von Leon Jouret sagen? Etwas so ganz Ungenießbares und Schülerhaftes ist mir noch kaum in der Literatur des vierstimmigen Männer gesanges vorgekommen, wenigstens in der deutschen nicht. Die Franzosen, welche diesen echt deutschen Musikzweig in den letzten Decennien importirt haben, stehen offenbar seinem Wesen noch fremd und äußerlich, auch technisch ungeschickt gegenüber; sie componiren auch rein lyrische Männerchöre ganz theatralisch, zerstückeln die Form, häufen die Contraste und stellen den Sängern recht widerhaarige Aufgaben. Wer nicht weiß, daß Herr Leon Jouret seit zwanzig Jahren Pro fessor am Brüsseler Conservatorium, auch Componist vieler Kirchensachen und zweier Opern ist, der würde das „Spanische

Lied“ wahrscheinlich einem Anfänger zuschreiben, welcher den Mangel an Ideen und die Ungeübtheit im vierstimmigen Satz durch grelle Opern-Effecte und allerlei banales Flickwerk be mänteln, sein musikalisches böses Gewissen gleichsam überschreien will. Der Geschmacklosigkeit dieses Chors kommt nur die andere gleich: ihn aufzuführen. Zwischen den Chorproductionen be kamen wir zwei junge Damen zu hören: die Sängerin Friederike Mayer und die Violin-Virtuosin Irene v. Brennerberg. Fräulein Mayer singt mit ihrer hellen, leichtbeweglichen Stimme recht anmuthig heitere Lieder, wie C. Löwe’sNiemand hat’s gesehen“, oder einfach gemüth liche, wie Mozart’sWiegenlied“. Für düstere, pathetische Gesänge, wie Schubert’s Mignonlied „Heiß’ mich nicht reden“, fehlt ihrer Stimme die dunkle Färbung, ihrem Vor trag der Ernst und die Tiefe. Man darf nicht freundlich lächeln bei so einem Liede. Fräulein Mayer fand denselben anhaltenden Beifall, der ihr bereits mehrmals in dieser Saison zu Theil geworden ist. Fräulein v. Brennerberg, welche kürzlich mit bestem Erfolg ein eigenes Concert gegeben hat, spielte das Adagio und Rondo aus dem E-dur-Concert von Vieuxtemps mit schönem Ton und bedeutender, in den raschen Staccato-Passagen sogar glänzender Technik. Mit letzterer steht die beseelende Kraft des Vortrages nicht auf gleicher Höhe; von der bald kecken, bald schalkhaften Grazie, womit Vieuxtemps einst dieses Rondo belebte, war bei Fräulein v. Brennerberg wenig zu merken. Wer auch an diesem Abend den größten Erfolg davontrug, war wieder Herr Walter. Mit ebenso frischer Stimme und reizendem Vortrag wie Tags vorher in dem „Pensions-Concert“ sang er Kremser’sGebet an die Madonna“, ein Tenor-Solo, das mit Chor, Orgel- und Hafenbegleitung, also mit allen Attributen eleganter Religiosität ausgestattet ist.

Im zweiten Concert der Gesellschaft der Musikfreunde hörten wir den Eingangschor der Bach’schen Kirchen-Cantate Wie schön leuchtet der Morgenstern“. In langen, feierlichen Noten singen die Soprane das alte Kirchenlied („Wie leuchtet schön der Morgenstern, voll Gnad’ und Wahrheit von dem Herrn, die süße Wurzel Jesu!“), während die drei tieferen Stimmen in selbstständiger Figurirung sich darunter bewegen; ein kunstvoll gefügter, dabei durchaus klarer, durch sichtiger Tonbau. Die Aufführung scheint mir gegen die klare Absicht der Composition darin gefehlt zu haben, daß die Soprane die Melodie „Wie schön leuchtet der Morgen stern“ sehr piano einsetzten, anstatt kraftvoll und freudig.

Warum nur dieser erste Satz der Cantate gesungen wurde? Die beiden darauf folgenden Arien geben hinreichende Ant wort. Sie sind in so schwierigem, instrumental verschnörkeltem Styl geschrieben, daß heute kaum ein Tenorist oder eine Sängerin sie anders als höchst mühselig bezwingen würde. Die Tenor- Arie in F-dur, die in einem sehr vergnüglichen Drei-Achtel- Tact fast tanzmäßig dahinschwebt, ist ein interessantes Bei spiel für die nach Ort und Zeit so verschiedenartige Ansicht über den Ausdruck des Religiösen in der Musik. Rubinstein antwortet in seiner jüngst besprochenen „Unterredung“ auf die Frage, was kirchlicher Styl sei, in höflichem Sächsisch: „Das will ich Sie gleich sagen, meine Guteste, das weiß ich selber nicht.“ Er hätte zu den seine Antwort recht fertigenden Beispielen auch die Bach’sche Tenor-Arie hin zufügen können, welche doch aus frommer Zeit und frommen Land und gar von dem frömmsten aller großen Meister herrührt. ... Herr Hanns Wessely, den wir zuletzt als einen vielversprechenden Schüler des treff lichen Professors Grün begrüßt hatten, ist nach mehr jährigem Aufenthalte in London wieder in Wien eingetroffen. Er spielte das Brahms’sche Violinconcert, mit dem er sich vor sieben oder acht Jahren hier eingeführt hatte; damals war es ein Wagestück, wenngleich ein gelungenes, heute kann man von einem Meisterstück reden. Thatsächlich hat Herr Wessely sich mit dem technisch vollkommenen und geistig be seelten, temperamentvollen Vortrage dieses schwierigen Werkes als einer der besten Meister seines Instruments erwiesen. Der glänzende Erfolg entsprach ganz seiner Leistung. ... Schumann’sRequiem für Mignon“ für Solostimmen, Chor und Orchester dürfte der Mehrzahl unserer Concert besucher neu gewesen sein; ist es doch seit der ersten, von Brahms dirigirten Aufführung in der Sing-Akademie (1863) nicht wiederholt worden. Die Scene aus Goethe’s Wilhelm Meister“ mit den seltsamen Exequien für Mignon war so recht ein Stoff, in dessen mystische Romantik Schumann mit liebevollem Ernste sich versenken mochte. Die Composition, durchaus von edlem, sanftem Charakter, ist unverkennbarer Schumann, aber schon angehaucht von jener eigenthümlich weichen Müdigkeit, welche dessen letzte Periode kennzeichnet. Für die sehr gelungene Aufführung dieses Werkes dankte das Publicum dem Dirigenten Herrn Gericke durch wieder holten Hervorruf. Auf das Schumann’sche „Requiem“ folgte noch das große „Tedeum“ von Bruckner. Den Hörern ward an diesem Sonntag etwas zu viel zugemuthet.

Daß auch Kleinheit zu großem Erfolg verhelfen kann, beweist der siebenjährige Pianist Raoul Koczalski, dessen medaillenbehängtes Abbild von allen Anschlagssäulen auf uns herabblickt. Er hat im Bösendorfer-Saal das Publicum in Erstaunen und Entzücken versetzt. Unter den mir bekannten Wunderkindern ist er unbedingt das merkwürdigste, denn er staunlich ist sowol die Geläufigkeit und Sicherheit seiner kleinen Händchen, wie die im Allgemeinen richtige musikalische Empfindung. Und was spielt dieses Kind? Stücke von Bach, Schumann, Chopin, Liszt, Brahms u. s. w. Was bedeuten die Clavierstücke des kleinen Mozart gegen die technischen Schwierigkeiten dieses modernen Repertoires! Ich habe sogar privatim den ersten Satz der Beethoven’schen C-dur-Sonate op. 53 von ihm gehört, dieselbe, welche ganz kürzlich d’Albert und Emil Sauer hier spielten. Der kleine Pole vermag noch keine Octave zu spannen, nimmt also von den Octaven gängen dieser Sonate nur die obere Note; natürlich fehlt ihm auch die unumgänglich nöthige physische Kraft. Es steht also von vornherein fest, daß die Ausführung selbst von rein tech nischer Seite mangelhaft sein muß. Und die geistige Auffassung? Wie kann ein Kind sich in die leidenschaftlichen Seelenkämpfe hineinfühlen, welche Beethoven in diesen Werken durchlebte? Dennoch war es merkwürdig, wie der Kleine den Sonaten satz ohne Stocken, ziemlich rein und grammatikalisch richtig durchführte. Als eine interessante, sehr seltene Erscheinung kann somit der kleine Koczalski dem Publicum aufrichtig empfohlen werden. Daß eine relativ erstaunliche Kinderleistung und wahrer künstlerischer Genuß zwei verschiedene Dinge sind, darüber muß freilich Jeder mit sich im Reinen sein. Den Monolog des Faust oder der Iphigenia möchte ich nicht von einem Kinde vortragen hören und wäre es noch so talent voll und gut gedrillt. Ja die kleinsten, anscheinend leichtesten Gedichte von Heine und Lenau werden inhaltlos oder falsch im Munde halbwüchsiger Mädchen oder Knaben. Und ebenso verhält es sich in der Musik mit den Charakterstücken von Schumann, Chopin, Brahms. Robert Hamerling sagte ein mal in einem Aufsatz über Claviermusik rund heraus, er möchte allen jungen Leuten unter 18 Jahren verbieten, Schu mann und Chopin zu spielen. Leider sucht sich unsere concer tirende junge Mädchenschaar gerade das Schwierigste und Individuellste von Schumann, Chopin und Brahms zum Vortrag heraus. Fast höre ich das noch lieber von dem kleinen Koczalski, der eben nur die Noten spielt und nicht einmal reif ist für die Affectation, mehr als die Noten spielen zu wollen.