Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Nr. 9872. Wien, Donnerstag, den 18. Februar 1892 Hanslick, Eduard Wilfing, Alexander FWF Der Wissenschaftsfond.
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Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Herausgegeben von Wilfing, Alexander Projektmitarbeiterinnen Bamer, Katharina Pfiel, Anna-Maria Elsner, Daniel Austrian Centre for Digital Humanities and Cultural Heritage Wien 2024

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Maschinenlesbares Transkript der Kritiken von Eduard Hanslick.

Nr. 9872. Wien, Donnerstag, den 18. Februar 1892 Hanslick, Eduard Neue Freie Presse Morgenblatt Herausgegeben von Etienne, Michael Friedländer, Max Wien 18.02.1892
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Hofoperntheater. („Werther“, Oper in drei Acten von J. Massenet.)

Ed. H. Auf die Frage, welche musikalische Individualität wol die nächste Verwandtschaft mit Goethe’s Werther-Dich tung offenbare, möchte ich mit dem Namen Schumann antworten. Sein tiefes, nach Innen zehrendes Gefühlsleben, sein sensitives, liebenswürdig träumerisches Wesen — das Alles müßte zu den „Leiden des jungen Werther“ wie ein harmonischer Oberton erklingen. Für alle die poetischen Ele mente, welche die wunderbare Dichtung Goethe’s beherrschen, finden wir in Schumann’s Musik die entsprechenden Töne: für das innige Naturleben mit seinen geheimnißvollsten Regungen den „Eichendorff’schen Liederkreis“; für die Her zensgeschichte den „Heine- und Rückert-Cyklus“; für den düsteren Ausgang endlich den „Manfred“. Eine Oper freilich bedarf neben der Lyrik noch einer starken dramatischen Triebkraft, und diese ist nirgends schwerer auszulösen, als aus dem Wertherstoffe. Schumann, dem der dramatische Nerv und noch mehr das Auge für Theater wirkung fehlte, wäre uns nach dieser Richtung unzweifelhaft viel schuldig geblieben. Er scheint auch einen „Werther“ nie im Sinne gehabt zu haben, obschon er mit seinem Opern project „Abälard und Heloise“ nicht gar weit davon stand. Kein einziger deutscher Tondichter hat, trotz der verlockenden Popularität des Stoffes, nach Goethe’s „Werther“ gegriffen. Zunächst wol aus pietätvoller Scheu — wie denn überhaupt unsere Classiker nicht von Deutschen, sondern von Franzosen und Italienern für Opernzwecke benützt zu werden pflegen — sodann aus begründetem Mißtrauen gegen die undramatische Natur des Werther. Die romanischen Völker standen dem Ge dichte objectiver, unbefangener — um nicht zu sagen ungenirter — gegenüber, durften sich auch mehr als die Deutschen das Talent zutrauen, dem Werther aus Eigenem das nöthige Theaterblut einzuflößen. Es ist bezeichnend, daß die erste Werther-Oper von einem Franzosen herrührt, von Rodolphe Kreuzer, demselben, welcher durch die Dedication der be kannten Beethoven’schen Violin-Sonate ein Stück Unsterblich keit mitgenießt. Kreuzer’s einactige Oper „Werther et Char

lotte“ wurde inmitten der Pariser Revolutionsstürme im Februar 1792 zum erstenmale gegeben, also genau hundert Jahre vor der Première des „Werther“ von Massenet. Nach Rodolphe Kreuzer haben auch einige Italiener zweiten und dritten Ranges Werther-Opern zur Auf führung gebracht: Benvenuti, Pucitta und Coccia zu Anfang dieses Jahrhunderts, Gentili und Aspa in den Sechziger-Jahren. Das Alles ist längst verweht und verschollen. Die naive, ausschließlich melodische Compositionsweise jener älteren Tondichter konnte sich einem Stoffe wie Werther nicht anpassen; das Compo niren wurde unabsichtlich zum Parodiren. Unsere moderne Musik, die mit der psychologischen Sonde in jeden Gefühls reflex einzudringen gelernt hat und dessen „wahrheitsgetreue“ Darstellung auch auf Kosten musikalischer Schönheit anstrebt, sieht die Sache aus einem andern Gesichtspunkte an und kommt mit den neuen Methoden und Hilfsmitteln ihr jeden falls näher. Unsere heutigen Opern-Componisten haben eine früher nicht gekannte Pietät für das Original-Drama, dem sie ihr Libretto nachbilden. Ehedem machten Textdichter und Componisten sich einfach gar nichts aus der Original- Dichtung; jetzt folgt man derselben so getreu, als es inner halb der Bedingungen eines gesungenen Werkes eben mög lich ist. Man vergleiche in Bezug auf das Textbuch den Romeo“ von Gounod mit dem von Bellini, Verdi’s Othello“ mit dem von Rossini, Gounod’sFaust“ mit dem Spohr’schen u. s. w. Dieses gewissenhaftere Verhalten gegen Goethe’s Werther beobachtet auch Massenet. Der Schauplatz, die Personen, die Motivirung, der Verlauf der Handlung, Alles ziemlich getreu nach Goethe, bis auf den Schluß. Dieser ist hinzuerfunden, halb willkürlich, halb nothgedrungen; denn sollte überhaupt aus „Werther“ eine Oper werden, so mußte man wol Lotten noch einmal mit dem sterbenden Werther zusammenbringen. Der Schluß widerstrebt uns, ist aber leichter zu tadeln, als zu verbessern.

Der erste Act spielt in dem Gartenhaus des Amt mannes. Wir sehen die fröhliche Kinderschaar, der Lotte das Abendbrot austheilt, den eintretenden Werther, der die Scene entzückt betrachtet. Manche charakteristischen Züge und Reden sind glücklich aus Goethe herübergenommen, z. B. wie Werther das kleinste Kind an sich drückt und küßt, mit

Lottes Zurechtweisung: „Der Vetter thut dir nichts!“ Nun kommen die Bekannten, um Lotte zum Ball nach Wahlheim abzuholen. Hier sind ein paar die Scene belebende Neben figuren hinzuerfunden: zwei nach dem Wirthshaus gravi tirende Freunde des Amtmanns und ein für Klopstock schwärmendes Brautpaar — kleine Beigaben, die man dem Librettisten willig zugestehen kann. Findet er doch keine brauchbaren Nebenfiguren in Goethe’s Roman; weder die Begegnung Werther’s mit dem Wahnsinnigen, noch der ver abschiedete Knecht oder das „adelige Fräulein von B.“ waren für die Handlung zu verwenden. — Bei hereinbrechen der Nacht kehrt Werther mit Lotte vom Balle heim; er ist Feuer und Flamme, spricht ihr von Liebe — da ruft der Vater: „Albert ist schon zurück!“ Zum erstenmal hört Werther diesen Namen und erfährt von Lotte dessen Bedeutung. Sie kehrt still ins Haus zurück; Werther stürzt mit dem Ausruf: „Ein Anderer ihr Gemal!“ verzweifelt davon. ... Der zweite Act spielt auf dem freien Platz vor der Dorfkirche in Wahlheim. Albert und Lotte, seit drei Monaten glücklich verheiratet, kommen zur Feier der goldenen Hochzeit des Pastors. Voll Schmerz und Eifersucht blickt Werther ihnen nach. Er beschließt zu fliehen, für immer. Lotte versüßt ihm ihren strengen Tadel mit dem Vorschlag, zum Weihnachtsfest wiederzukommen. Hier packt ihn zuerst der Gedanke an Selbstmord. „Wenn sich ein Kind zu früh nach Haus zurückgefunden“ — die Stelle ist ziemlich getreu nach Goethe. Sophie (so heißt auch bei GoetheLottens jüngere Schwester) kommt mit einem Blumen strauß fröhlich herangesprungen und fordert Werther zum Tanz auf. Er aber rennt wie ein Wahnwitziger querfeldein, während der Festzug der Dorfbewohner mit Vivat- Rufen über die Bühne zieht. ... Im dritten Act blicken wir durch Lottens Fenster auf schnee bedeckte Dächer. Es ist Weihnachtsabend. Lotte sucht die Briefe Werther’s hervor und liest sie mit schmerzlicher Be wegung. Da tritt unerwartet Werther ein. Er liest ihr aus Ossian vor: „Was bin ich aufgewacht, die schöne Frühlings zeit?“, getreu nach Goethe. Die Scene spielt sich ab, wie im Roman. Nachdem WertherLotte leidenschaftlich an seine Brust gedrückt, springt sie auf und eilt auf „Nimmerwieder sehen“ in ihr Gemach, das sie versperrt. Werther eilt davon.

Albert tritt ein und gleich nach ihm ein Diener mit dem Briefe Werther’s, worin er um Albert’s Pistolen bittet. Lotte übergibt diese, wirft aber, von böser Ahnung getrieben, sofort den Mantel um und eilt in Werther’s Wohnung. Dieses „erste Bild“ des dritten Actes ist von dem in Werther’s Stube spielenden „zweiten Bild“ durch ein sehr langes Orchesterstück getrennt. Während dieses Intermezzos entwickelt sich aus dem Dunkel eine charakteristische Land schaft: das winterlich beschneite Wetzlar. Lotte findet Werther bereits mit durchschossener Brust. Nach einem letzten leiden schaftlichen Zwiegespräch stirbt er in ihren Armen, während aus dem gegenüberliegenden Hause des Amtmanns der Weihnachtsjubel der Kinder erschallt.

Massenet hat sich mit ganzer Seele in diesen Stoff versenkt und ihn mit liebevollem künstlerischen Ernst gestaltet. Es ist ihm gelungen, die ganze Oper hindurch eine merk würdig einheitliche Stimmung festzuhalten. Im Interesse dieser Einheit hat er auf Arien und Duette, auf Chöre und Finales verzichtet. Von einem französischen Componisten, der durch Masseneffecte und sinnlichen Glanz zu wirken gewohnt ist, verlangte der „Werther“ starke Selbstverleugnung. Sie gereicht dem Componisten des „Cid“ und der „Esclarmondezur Ehre. Massenet hat in Begeisterung für Goethe’s Werther die Oper zu seiner eigensten Befriedigung componirt und thatsächlich für das seit acht Jahren fertige Werk keine Aufführung angestrebt. Erst die treffliche Wiener Vorstellung seiner „Manon“ offenbarte ihm in van Dyck und der Renard eine unverhoffte Verkörperung Werther’s und Lottens. Etwa Gounod’s „Faust“ ausgenommen, findet sich in der neueren französischen Opern-Literatur kein Werk, das deutschem Musikcharakter so nahe kommt, wie Massenet’s „Werther“. Ein Tropfen deutschen Blutes fließt übrigens nicht blos in dieser Musik, sondern thatsächlich in Massenet’s Adern. Er ist der Sohn eines Elässers, dessen Vater als Soldat während der napoleonischen Feldzüge eine Preußin aus der Gegend von Bromberg geheiratet hatte. Bis zu seinem sechsten Jahre hat Massenet nur Deutsch gesprochen; seither ward ihm hinreichende Muße, es wieder zu vergessen. Seine Vorliebe für Richard Wagner flocht ein neues Band zwischen Massenet und Deutschland. Schon seine früheren Opern verrathen zeitweilig Wagner’sche Einflüsse; der „Werther

adoptirt vollständig Wagner’s Methode: die im Orchester fortspinnende „unendliche Melodie“, an welche die Sing stimmen ihren Sprechgesang gleichsam anheften. Das ist nicht schlechtweg Wagner’sche Erfindung, sondern findet sich in ein fachster Erscheinung schon stellenweise bei Herold, Halévy, Auber. Wagner hat diese, vor ihm nur nebenher und sehr frei ver wendete Begleitungsform zum festen Stylprincip erhoben, streng durchgeführt und gleichsam versteinert. Für den Con versationsstyl, wie er im „Werther“ vorherrscht, scheint diese Methode beinahe geeigneter, als für das Pathos heroischer großer Opern; der ungezwungene Dialog im Familienstück mit seiner raschen Rede und Gegenrede entspricht besser solchem rhythmisch freien Sprechgesang. Bei Massenet ist der orchestrale Unterbau nicht so kunstvoll, wie bei Wagner, hin gegen einfacher, natürlicher und faßlicher; es wird dem Ohr nicht zugemuthet, fortwährend ein dichtes Gewebe einander durchkreuzender Motive zu entwirren. Massenet behandelt solche Gesprächsscenen ungemein geschickt. Längere, abgeschlossene Ariosos, auf einfach accordischer Grundlage, tauchen nur ganz vereinzelt auf; Werther’s Naturschwärmerei bei seinem Eintritt im Garten, dann im zweiten Acte seine in drei kurzen Strophen wiederholte Melodie in As-dur, endlich seine Ossian-Strophe im dritten Act. Mit zwei kurzen fröh lichen Strophenliedchen bringt Sophie etwas Sonnenschein in das sich verdüsternde Gemälde. Als wiederkehrende Er innerungsmotive verwendet Massenet meistens längere, ge schlossene Melodien, wie das feierlich schwärmerische Liebes thema bei der Heimkehr vom Ball im Neun-Achtel-Tact, Lottens tröstender Zuspruch im zweiten Act, Werther’s zu Anfang der Ouvertüre sich ankündigendes Verzweiflungs-Motiv. Diese musikalischen Anspielungen sind sparsam angebracht und sehr einpräglich. Von ihrer rein melodischen Seite betrachtet, kann Massenet’s Erfindung weder reich noch sehr originell heißen; fast scheint er sie im „Werther“ noch geflissentlich nieder zuhalten, um die schlichte Gleichmäßigkeit des Gemäldes nicht durch allzu vordrängende Reize zu unterbrechen. Mancher in schwerflüssiger Declamation sich ausbreitenden Scene hätte eine reizvollere Melodie, eine lebendigere Rhythmik nicht geschadet. Der dramatische Ausdruck ist im Rührenden wie im Leidenschaftlichen gut getroffen und von überzeugender Kraft. Die Ausbrüche höchster Leidenschaft bei Werther sind

allerdings nicht frei von einer gewissen theatralischen Ekstase; das hängt so enge zusammen mit dem französischen Opern styl, überhaupt mit der in allen Künsten theatralischen Natur der Franzosen, daß wir deutschen Hörer es zu dem vielen Guten und Echten eben mit in den Kauf nehmen müssen. Bedeu tender als seine melodische Erfindung ist Massenet’s Talent, die eigenartige Stimmung einer Scene musikalisch zu packen und festzuhalten. Wie schön empfunden ist die Heimkehr Werther’s mit Lotten vom Balle. Das Vorspiel, in welchem abgerissen flatternde Tacte des Ländlers mit der schwärmerischen Liebesmelodie wechseln, malt schon die ganze Situation. In dem Gespräch Lottens mit Sophie im dritten Act, das sich über eine ungemein zarte Orchester-Melodie fortspinnt, findet Massenet Töne rührendster Herzlichkeit. Werther’s Erscheinen im dritten Act macht nicht nur Lotten, sondern auch dem Hörer das Blut erstarren. Tieftraurig mit einem er schütternden Schmerzenslaut am Schlusse klingt die Ossianstrophe in Fis-moll. Einer Gefahr, die theils aus dem sentimentalen Stoff, theils aus der Wagner’schen „Unendlichkeit“, entsprang, ist der Componist nicht ganz entgangen; sie heißt Monotonie. In langer Folge reihen sich breit ausgesponnene Andante- und Adagiosätze aneinander. Manche würden wol durch ein weniger schlep pendes Tempo gewinnen (wie die erste Cantilene Werther’s in D-dur und sein Duett mit Lotte nach dem Ball); andere, wie die lange, erschütternde Sterbescene und das übermäßig ausgedehnte, ermüdende Vorspiel dazu durch bescheidene Kürzungen. Mit Meisterschaft ist das Orchester behandelt und ganz verschieden von der glänzenden, oft lärmenden Instrumentirung in Massenet’s früheren Opern; die ein fache bürgerlich-idyllische Herzensgeschichte spiegelt sich auch in dem größtentheils bescheidenen Orchesterklang. Mit sordinirten Geigen und einigen Harfentönen, einer schüchternen Figur der Flöte oder Clarinette erreicht Massenet hier seine besten Wirkun gen, nämlich gerade die, welche die Situation verlangt. Die Po saunen pausiren die längste Zeit; nur den stärksten Leidenschafts ausbrüchen leihen sie ihre erschütternden Accorde — dann freilich nicht knickerisch. So wirkt Vieles zusammen, um Massenet’s Werther“ zu einem durchaus interessanten Werk von vor nehmem Geist und zarter Empfindung zu machen, das weniger den lärmenden Applaus als das herzliche Mitgefühl

der Hörer vor Augen hat und durch bedeutende Schönheiten uns für manche ermüdende Länge entschädigt. „Manonbietet in Handlung und Musik reichere Abwechslung, mehr Farbe und Leben; sie dürfte in der Gunst des Publicums den Sieg über „Werther“ behaupten. Jedenfalls bezeichnen diese beiden Werke, welche an musikalischem Werth Massenet’s große tragische Opern zweifellos überragen, die Stylgattung, für welche sein Talent am glücklichsten organisirt ist: die theils heitere, theils rührende Conversations-Oper, die in time Musik.

Sehr werthvoll für den Erfolg der Oper ist die muster hafte deutsche Uebersetzung von Max Kalbeck. Wer eine richtige Einsicht in die Schwierigkeit dieser Aufgabe hat, der wird Kalbeck als einen musikalischen Uebersetzer allerersten Ranges anerkennen. Um nur eine unbedeutende Kleinigkeit zu erwähnen: hundertmal werden in dem französischen Text buch die Namen „Werther“ und „Charlotte“ genannt, natürlich mit dem Accent auf der zweiten Sylbe — wie ge schickt weiß da Kalbeck, ohne an der Musik zu ändern, immer einen Ausweg zu finden! Wir kennen allerdings einen Ueber setzer, der, unbekümmert um den musikalischen Accent, auch im Deutschen Werthér und Lotté declamirt hätte. Eine einzige Stelle Kalbeck’s erregt uns Bedenken. Werther schweigt in dem schmerzlichen Gedanken, Lotte würde ihn ge liebt haben, wäre Albert ihm nie zuvorgekommen: „C’est moi, qu’elle pouvait aimer!“ Kalbeck übersetzt: „Ich war geliebt von ihr!“ Das konnte Werther unmöglich sagen und sagt es auch nicht, weder bei Goethe noch bei Massenet.

Das Wiener Hofoperntheater kann mit berechtigtem Stolz sich seiner Werther-Vorstellung rühmen. Herr Massenet dürfte kaum auf irgend einer anderen Bühne eine gleiche vortreffliche Aufführung seines Werkes erleben. Die Renard und van Dyck, die Forster und Neidl — Alle wie geschaffen für die vier Hauptrollen! Es bleibt Keines hinter dem Andern zurück, doch glauben wir, schon ob des Ge wichts seiner Aufgabe, Herrn van Dyck (Werther) zuerst nennen zu sollen. Er stand gleich hoch als Sänger und Schauspieler, oder vielmehr der Sänger und der Schau spieler waren so vollkommen in Eins verschmolzen, wie es in seinem Vortrag Ton und Wort sind. Mit dem Ausdruck „deutliche Aussprache“ ist diese vollendete Kunst van Dyck’s, singend zu sprechen und sprechend zu singen, lange nicht er

schöpft. Die ganze Rolle war mit eindringendem Kunstver stand angelegt und mit ungeschwächter geistiger und physischer Kraft bis ans Ende durchgeführt. Nur ein Künstler ersten Ranges vermag die in den verschiedensten Stimmungs nuancen wechselnden Scenen im zweiten Acte so zu spielen und zu singen, wie Herr van Dyck. Fräulein Renard be tritt die Scene als ein schönes, getreues Abbild der Goetheschen Lotte. Ja, das sind „die schwarzen Augen, die lachen den Lippen, die frischen muntern Wangen“, die Werther nach dem Balle so schwärmerisch beschreibt! Nur hätten wir Ton und Geberde mehr naiv und unbefangen gewünscht, nicht so pathetisch, schwer und sentimental. Goethe’s Lotte ist nicht ein melancholisches Seitenstück, vielmehr ein heiteres, gesundes Gegenstück zu Werther, und in den beiden ersten Acten ist die Darstellerin durch nichts gehindert, sich diesem Goethe’schen Original viel mehr zu nähern, als Fräulein Renard es thut. Im dritten Act kann sie allerdings nicht mehr Goethe, sie muß Massenet folgen. Hier, wo Lotte zum erstenmale in die schmerzlichsten Accente der Leidenschaft ausbricht, entfaltete Fräulein Renard die ganze Fülle ihres starken und glänzenden Talents. Sie ist in diesen Scenen unübertrefflich. Die Sophie der Frau Forster gehört zu den lieblichsten Erscheinungen, die uns auf der Bühne begegnet sind. Ihre recht schwierigen Lieder singt sie mit entzückender Anmuth und breitet ganz wie in der „Cavalleria rusticana“ ein Stück goldenen Son nenscheins über die Scene. Herr Neidl gibt den Albert mit ungesuchter Würde und Herzlichkeit, Herr Mayerhofer den Amtmann mit behaglichster Laune. Die Herren Stoll, Schittenhelm und Felix unterstützen sehr sorgfäl tig das Ensemble. Besondere Anerkennung verdient die vor treffliche, der Zeit und dem Ort genau angepaßte Ausstat tung. Herr Director Jahn dirigirt die Oper, um derer schönes Gelingen er die größten Verdienste hat. Den glän zenden Erfolg der Vorstellung und die den Sängern wie Herrn Massenet zu Theil gewordenen Auszeichnungen haben wir bereits gemeldet. Massenet’s „Werther“ bedeutet über dies ein interessantes musikhistorisches Factum. Außer Cheru bini’sFanisca“ (1807) dürfte „Werther“ die einzige von einem berühmten französischen Tondichter componirte Oper sein, deren allererste Aufführung in Wien in deutscher Sprache stattgefunden hat.