Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Nr. 9882. Wien, Sonntag, den 28. Februar 1892 Hanslick, Eduard Wilfing, Alexander FWF Der Wissenschaftsfond.
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Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Herausgegeben von Wilfing, Alexander Projektmitarbeiterinnen Bamer, Katharina Pfiel, Anna-Maria Elsner, Daniel Austrian Centre for Digital Humanities and Cultural Heritage Wien 2024

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Maschinenlesbares Transkript der Kritiken von Eduard Hanslick.

Nr. 9882. Wien, Sonntag, den 28. Februar 1892 Hanslick, Eduard Neue Freie Presse Morgenblatt Herausgegeben von Etienne, Michael Friedländer, Max Wien 28.02.1892
font-style:italic; font-weight:bold; Deutsch Transkribus OCR und Lektorat. Transformierung der Daten des Transkribus TEI-Export mit "editions.xsl". Formatierung und Referenzen eingefügt. Letztkorrektur für Zwischenrelease.
Rossini. (Zu seinem hundertsten Geburtstag.)

Ed. H. „Sie gratuliren mir zu meiner Rüstigkeit? Ich habe ja erst kürzlich meinen achtzehnten Geburtstag ge feiert!“ So scherzte der zweiundsiebzigjährige Rossini, als ich mich über sein gutes Aussehen freute. Er war am 29. Februar des Schaltjahres 1792 geboren, hatte also that sächlich nur alle vier Jahre einen Geburtstag. Der stets heitere alte Herr hätschelte dieses Datum als einen will kommenen Anlaß zu allerhand Spässen. Ich war so glück lich, ihn in den Jahren 1860 und 1864 wiederholt in seiner Villa zu Passy besuchen zu dürfen und auch in seiner Stadt wohnung einer seiner berühmten Musik-Soiréen beizuwohnen. Er bot das schöne Bild eines weltberühmten Mannes, der freiwillig den Strom der Vergessenheit überschifft und alle schlimmen Leidenschaften weit hinter sich am Ufer zurück gelassen hat. Seine ruhige Heiterkeit und Liebenswürdigkeit wird Jedem, der ihn gekannt, eine theure, unverwischbare Erinnerung bleiben. Als ein Weiser, „der sich ohne Haß vor der Welt verschließt“, hatte er seit zwanzig Jahren keine Einladung angenommen, kein Theater besucht und, kleine Spazierfahrten ausgenommen, sein Haus nicht ver lassen. Freilich kam die Welt zu ihm, und oft mehr, als ihm bequem war. Er mußte sich viel anbeten und anwundern lassen, aber auch das ertrug er mit einem reizenden, halb gutmüthigen, halb satirischen Humor. Sein ausdrucksvolles Gesicht leuchtete fast immer in dem Abendroth einer fröh lichen Behaglichkeit. Ernste, gerührte Stimmung überkam ihn nur, wenn er von seiner Kindheit und seinen Eltern sprach. Als Kind armer Leute hatte er eine Jugend voll Arbeit und Entbehrung erlebt — eine trübselige Jugend könnte man sagen, hätte sein übermüthig glückliches Tem perament Trübsal aufkommen lassen. Seinen Geburtsort Pesaro verließ er schon als Kind und zog mit seinen musi cirenden Eltern auf kleinen Bühnen herum. Der Vater blies das zweite Horn im Orchester, die Mutter, die eine hübsche

Stimme besaß, aber keine Note kannte, war Sängerin. Der kleine Gioacchino leistete von seinem zehnten Jahr an den Eltern Beistand. Er sang in den Kirchen, accompagnirte im Theater auf dem Clavier, repetirte mit den Künstlern, gab eine kleine Rolle in Paër’s „Camilla“, dirigirte Orchester concerte und brachte vergnügt den Eltern seinen kärglichen Verdienst. Sobald er im Stande war, zu componiren, schuf er gegen sechs Opern in einem Jahre, weil eine jede ihm 200 Lire eintrug. Die kindliche Liebe, die sein ganzes Leben erfüllte, zwang ihn, viel und schnell zu produ ciren. Es ist ein sehr verbreiteter Irrthum, daß Rossini in seiner Jugend nichts gelernt habe. Nur schneller lernte er, als Andere, und mehr aus lebendiger Praxis, als aus Büchern. Selbst ein guter Sänger, wußte er stimm gemäß zu schreiben; tägliche Uebung machte ihn zum tüch tigen Clavierspieler und Begleiter; als Concert-Dirigent wurde er mit dem Orchester und jedem einzelnen Instrument vertraut. Die trockene Lehrmethode des alten Padre Mattei an der Musikschule (Liceo) von Bologna konnte dem leb haften, von Melodien übersprudelnden Jungen freilich keine Leidenschaft für Fugen und contrapunktische Kunststücke ein flößen; trotzdem wurde er in 18 Monaten der beste Schüler am Lyceum. Die Quartette von Haydn und Mozart spielte er leidenschaftlich gern und dirigirte als 19jähriger Jüngling die „Schöpfung“ von Haydn, die er vollständig bis in die kleinsten Recitative auswendig wußte. Die Vorliebe für unsere deutschen Classiker hat sein ganzes Leben treulich begleitet. Aber Naturell, Talent, Jugendeindrücke — Alles trieb den jungen Rossini zum Theater. Vor mir liegt seine Opera buffa „L’inganno felice“, die sein erster nachhaltiger Er folg in Italien und auch in Deutschland unter dem Titel Die Getäuschten“ beliebt war. Der ganze Rossini steckt schon in diesem Jugendwerk, das einer genialen Impro visation gleicht. Mit 18 Jahren hatte er die theatralische Laufbahn begonnen, mit 21 war er der erklärte Liebling der Nation.

Die musikalischen Zeitverhältnisse standen günstig für das Auftreten Rossini’s. Nach dem Erlöschen des glänzenden neapolitanischen Dreigestirns der Opera buffa — Piccini,

Paisiello und Cimarosa — war eine Art genieloses Inter regnum eingetreten, in welchem zwei Componisten von schwächerer Begabung, Simon Mayr und Ferdinand Paër, herrschten. Ihre Musik hatte technische und formale Vorzüge, aber kein Feuer, keine Originalität. Die Italiener lechzten nach einem genialen neuen Componisten, der frisches Leben in die verkümmerte Opernmusik brächte. Da erschien der junge Rossini wie ein Held und Erretter. „Tancred“ und Die Italienerin in Algier“, beide aus demselben Jahre 1812, haben seinen Ruhm in Italien fest begründet und auch nach Deutschland verbreitet, wo Rossini von 1816 an Mode wurde. Daß „Tancred“ mit der Gewalt einer überraschenden Offenbarung einschlug, wird man heute freilich nur mit Mühe verstehen, so veraltet und durch tausendfältige Nachahmung abgenützt klingen uns diese tändelnden Melodien und endlosen Coloraturen. Allein die originelle, erneuernde Kraft eines Componisten will an seinen Vorgängern, nicht an seinen Nachfolgern gemessen sein. Man sehe sich die gefeiertesten Werke der vor-Rossini’schen Opera seria an, zum Beispiel Cimarosa’s „Horazier“, Paër’s Achilles“, Simon Mayr’s „Lodoïska“, dann wird man erkennen, wie berauschend neu Alles im „Tancred“ gewesen gegen die steife conventionelle Musik seiner Vorgänger. Diesen natürlicheren, volksthümlicheren Ton, diese Frische und Lebendigkeit hat Rossini aus der Opera buffa, der wahren Heimat seines Talentes, in die Adern ihrer vornehmeren Schwester, der Opera seria, zuerst hinübergeleitet. Bald schwärmte auch Deutschland für den „Tancred“, die „Italie nerin“ und den „Barbier von Sevilla“, so heftig die schul meisterliche Kritik gegen die „Seichtigkeit und Unwissenheit“ Rossini’s predigen mochte. Die deutsche Kritik hat von jeher zu viel Respect gehabt vor der musikalischen Tugend und Gelehrsamkeit und zu wenig vor der Gottesgabe des Talents. Wenn das deutsche Publicum wirklich einige Vorliebe für Fremdes hegt, so wird dieser Fehler wettgemacht durch die Geringschätzung ausländischer Opern seitens der deut schen Kritik. München war die erste Stadt in Deutschland, wo (1816) Rossini’sche Opern von einer italienischen Truppe gegeben wurden. Von dort kommt auch

(in die Leipziger Musikzeitung) die erste Stimme, die muthig und wohlwollend den Chor der Rossini-Verächter durchdringt. Ich will sie, dem heutigen Tag zu Ehren, aus der Vergessenheit ziehen. „Gewiß,“ schreibt der Münchener Musiker, „gewiß eine vortreffliche Musik, im neuesten Ge schmack, aber — wie Manche hier sagen — „ohne Charak ter“. Ob wirklich echter Gesang in diesem Sinn Charakter haben kann? da er ja, ohne Worte schon, wie die Licht- oder elektrische Materie oder der Magnetstrom, an und für sich schon den Menschen hinreißt und ihn auf eine sinnliche Weise genießen macht. Tancred’s Musik hat keinen Cha rakter, ist nicht tragisch, nicht komisch; sie ist etwas Eigenes in ihrer Art, das Jedem gefällt. Sie gefällt wie ein schönes Gesicht, dem selbst der Feind nicht absprechen kann, daß es schön ist.“

Nach Rossini’s ersten Erfolgen streiten sich alle italieni schen Hauptstädte um ihn. Er selbst ist bald in Venedig, in Mailand, in Neapel und streut überall mit vollen Händen aus. Auf den Barbier folgt Otello, la Ceneren tola, la Gazza ladra, Armida, Moïse, la Donna del lago, Maometto. Diese zweite (nea politanische) Periode seines Schaffens grenzt ans Wunder bare. Der Impresario Barbaja engagirt Rossini mit einem Jahresgehalt von 8000 Francs und verpflichtet ihn, jährlich zwei Opern zu schreiben. Er schreibt deren vier. Wenn man Rossini’s Flüchtigkeit tadelt, so erwäge man doch auch die schwierigen Verhältnisse, unter denen er schuf — Zwangslagen, die sich heute kein Componist würde gefallen lassen. Er mußte mit den elendesten Textbüchern vorlieb nehmen und erhielt niemals ein fertiges Libretto, sondern componirte die Introduction, ehe noch die folgende Nummer gedichtet war. Seine Poeten hatten oft keine Idee von den musikalischen Erfordernissen; er mußte mit ihnen und für sie arbeiten. Er war verpflichtet, die Rollen bestimmten Sängern anzupassen und nach deren Wünschen abzu ändern, sämmtliche Proben zu überwachen, und das Alles gegen ein elendes Honorar. Für den „Tancred“ erhielt er 500 Francs! „Ausgenommen während meines Auf enthaltes in England,“ erzählte Rossini, „habe ich nie durch

meine Kunst genug eingenommen, um mir etwas zurücklegen zu können. Und in London habe ich nicht als Componist, sondern als Accompagnateur in vornehmen Soiréen Geld gemacht.“ Trotz dieser Fesseln sehen wir Rossini als Künstler fortschreiten; zwar kommt er vor dem „Tell“ nicht auf durchgreifende Wandlungen seines Styls, aber schon „Otellozeigt einen bedeutenden Aufschwung über das dramatische Niveau des „Tancred“. Barbaja wendete sich, durch die Revolution von Neapel vertrieben, nach Wien, wo er das kaiserliche Operntheater nächst dem Kärntnerthor pachtete. Dort gab er mit Rossini — welcher seine Primadonna Isabella Colbrand geheiratet hatte — und einer vortreff lichen Truppe im Frühjahre 1822 die Opern „Zelmira“, Corradino“ und „Elisabetta“. Viel früher als im Kärntnerthor-Theater erschienen Rossini’sche Opern im Theater an der Wien. Hier wurde schon 1817 Tancred“ von einer italienischen Sänger-Gesellschaft gegeben; in den drei folgenden Jahren in deutscher Sprache: „Elisabeth, Königin von England“, „Othello“, „Die diebische Elster“, „Der Barbier von Sevilla“, „Cenerentola“, „Die Italienerin in Algier“, „Der Türke in Italien“ u.s.w. Von den deutschen Sängern waren ins besondere der Tenor Jäger und die Primadonna Henriette Vio (verehelichte Spitzeder) ausgezeichnet. In der „Diebischen Elster“ betrat (1821) der Tenorist Anton Haizinger zum erstenmale die Bühne. Der Erfolg überstieg alle Erwartungen. Es war ein allgemeines Schwärmen; schrieb doch sogar der Philosoph Hegel nach Berlin: „So lang’ ich noch Geld habe für die italienische Oper, gehe ich von Wien nicht fort!“ Rossini sprach stets mit liebenswürdiger Wärme von diesen Wiener Tagen, die er zu seinen glücklichsten zählte. In Wien habe er zum erstenmal in seinem Leben ein musikalisch theil nehmendes Publicum vorgefunden, ein Publicum, das nicht blos einzelne Arien, sondern die ganze Oper aufmerksam an hört, ohne zu plaudern. Er lernt in WienBeethoven kennen (daß ihn dieser nicht empfangen habe, ist eine Fabel), desgleichen Weber, Franz Schubert, Weigl und Salieri, mit dem er am meisten verkehrt. Nach drei Monaten verläßt RossiniWien und wird nach einem Auf enthalt in London in Paris seßhaft. Hier schreibt er (1829) für die Große Oper sein letztes und größtes Werk, den Wilhelm Tell“.

Es ist von mehr als symbolischer Bedeutung, daß die Wiener Hofoper ihre heutige Festvorstellung aus dem „Bar bier von Sevilla“ und dem zweiten Act des „Tell“ zusammen stellt. Der Barbier und Tell — das ist leider für uns der gesammte Rossini. Diese zwei lebendigsten und genialsten Opern des Pesarers sind die einzigen Goldmünzen aus seiner reichen Schatzkammer, welche heute noch circuliren und ihren vollen Werth behalten haben. Die eine bedeutet sein Bestes im komischen, die andere sein Höchstes im ernsten Styl. Der „Barbier“ ist in seiner Art noch origineller, einheit licher, vollendeter; man sucht vergebens nach einem lebendigeren Ausdruck von Rossini’s Genie. Im „Tell“ sehen wir seine dramatische Kraft in ihrer höchsten Entfaltung und im Dienste der bedeutendsten Aufgabe. Eine so imposante Wand lung, wie sie Rossini, nachdem er 40 Opern geschrieben, schließlich im Tell aufweist, kommt in der Geschichte der Musik kein zweitesmal vor. Die beiden ersten Acte gehören zu dem Schönsten, was die moderne Große Oper aufzu weisen hat. In Deutschland leben der „Barbier“ und „Wil helm Tell“ in unverkümmerter Jugend fort. Tell wird größtentheils gut gegeben, für den Barbier fehlen auf deut schem Boden die Gesangs-Virtuosität und, was diese theil weise ersetzen könnte: das hinreißende südliche Temperament. In Paris wird die Rossini-Feier sich auf Tell beschränken müssen; der Barbier liegt nicht im Bereich der heutigen französischen Sänger. Italien wiederum dürfte sich blos an den Barbier halten; Wilhelm Tell ist im Vaterland Rossini’s niemals heimisch geworden und hatte stets gegen den italie nischen Geschmack und die mangelhafte Schulung der Chöre zu kämpfen. Und die besten seiner übrigen Opern? Die heutige Jugend hat keine Vorstellung von der Wirkung, welche ein ausgezeichnetes italienisches Künstler-Ensemble mit der „Cenerentola“ oder der „Italienerin in Algier“ hervor bringt. Mir selbst war wenigstens ein letzter schöner Nach glanz davon beschieden; zuerst die italienischen Vorstellungen mit der Tadolini in den Vierziger-Jahren, sodann jene mit Adelina Patti und mit Désirée Artôt. Vollendete Gesangskünstlerinnen wie diese drei, virtuose Tenoristen wie Carrion und Calzolari, Baritons wie Debassini,

Everardi, Graziani, Baßbuffos wie Zucchini oder Bottero gibt es auch in Italien nicht mehr. Seit dem Alles auf den Ruin der Gesangskunst hinarbeitet, ist jede Hoffnung auf ein Wiederaufleben so genußreicher Rossini-Abende geschwunden.

Rossini’s Einfluß war groß und weitverbreitet. Nicht nur das Publicum, auch die Componisten riß sein Zauber unwiderstehlich mit fort, am meisten natürlich die kleineren Maëstri Italiens, welche die unglückliche Idee hatten, ihn zu copiren — ihn, dessen Genie sich nicht copiren ließ und dessen Manieren von ihm selbst bis zum Ueberdruß wieder holt worden sind. Aber auch glänzende, selbstständige Talente, wie Meyerbeer, Auber, Herold, Bellini, Donizetti und der frühere Verdi, haben ihm anfangs vergnügte Heerfolge ge leistet, bis sie später zum Ausdruck ihrer eigensten Indivi dualität gelangten. Sogar deutsche Zeitgenossen Rossini’s haben, tadelnd und zähneknirschend, ihm seine Effecte abzu gucken versucht; finden sich doch selbst in Schubert und Weber hin und wieder Rossini’sche Anklänge. In Deutsch land — wo er übrigens am schwächsten geherrscht — ist Rossini’s Einfluß seit Wagner’s Auftreten völlig verschwun den, in Italien desgleichen seit Verdi’s Aïda, seit Boito und Mascagni. In Frankreich hat die Einwirkung seines Tell“ noch nicht ganz aufgehört, wie die großen Opern von Meyerbeer und Halévy, von Gounod und Massenet zeigen.

Nach seinem epochemachenden Wilhelm Tell war Rossini nicht wieder zur Composition einer Oper zu bewegen. Mit 37 Jahren schloß er freiwillig seine Carrière ab, nach einer schon in frühester Jugend begonnenen rastlosen und ruhm vollen Thätigkeit. Was ihn zu dieser frühen Resignation veranlaßt habe? Es ist nie völlig aufgeklärt worden; Rossini hat sich, selbst auf Hiller’s directe Anfrage, niemals bestimmt darüber ausgesprochen. Keinesfalls war seine musikalische Schöpferkraft versiegt; die blühende Melodien schönheit seines Stabat mater (1841) beweist das Gegen theil. Dennoch fehlte ihm wol die Hoffnung, seinen Tell noch zu überbieten, und er verschmähte es, mit schwächeren Werken sich dem Almosen bloßer Pietät auszu

setzen. Den Glanz seiner Popularität überlebt zu haben, machte ihm wenig Kummer; Niemand konnte von Rossinischer Musik bescheidener denken und sprechen, als er selbst. „Das sind kleine Sachen,“ meinte er lächelnd, „die einst in der Mode waren und es jetzt nicht mehr sind.“ Als Rossini im Jahre 1869 zur ewigen Ruhe einging, war er für die Kunst bereits seit 40 Jahren todt. Aber an ihm selbst, an seinem Leben, seinem sprühenden Geist, seinem herzlichen Wohlwollen erquickte sich Jeder, dem es vergönnt war, mit dem Alten zu verkehren. Als eine weithin strah lende Erscheinung, als einer der genialsten und liebenswür digsten Tondichter, steht Rossini in der Musikgeschichte unverrückbar fest. Seit 76 Jahren ist sein „Bar bier“, seit 63 Jahren sein „Tell“ die Freude und Bewun derung Europas, und beide werden es hoffentlich noch sehr lange bleiben. Sein Vaterland Italien und die geliebte Heim stätte seiner letzten 40 Jahre, Paris, erfüllen nur eine schöne Pflicht, indem sie den hundertsten Geburtstag Rossini’s feiern. Auch Deutschland wird in herzlicher Dankbarkeit nicht zurückstehen. Einige goldene Worte von Moriz Hart mann, die mir aus dem Herzen gesprochen sind, mögen den Schluß dieses Gedenkblattes bilden. Solche Sing- und Wunder vögel, wie Rossini, sagte Hartmann, kehren nicht mit jedem neuen Frühling, sondern erst mit neuen Jahrhunderten wieder. Wer kann es berechnen, wie viele Millionen Herzen er seit einem halben Jahrhundert an tausend verschiedenen Punkten der liederreichen Erde erfreut hat? Es würde ein großes Volk heiterer, lächelnder, lachender Menschen aus machen. Wenn man Eroberern und sogenannten Schlachten helden Monumente setzt und sie in Epopöen besingt, die Millionen elend machen, was verdient ein solcher Herz erfreuer, Gramverscheucher, Tröster und Schöpfer zahlloser glücklicher, melodiendurchwebter Stunden! Könnte man diese Stunden sichtbar oder chronologisch berechenbar aneinander fügen, es gäbe ein goldenes Zeitalter, eine saturninisch schöne Epoche des Menschengeschlechtes, wie sie die liebevollsten Dichter träumten, und über jenem Volke, diesem Reiche des Glückes, würde ein Himmel lachen, wie aus dem „Ecco ridente il cielo!“