Concerte.
Ed. H. Mendelssohn, der in unseren großen
Concerten immer seltener, in der Kammermusik fast gar
nicht mehr vorkommt, war in der vorigen Woche durch zwei
umfangreiche Chorwerke vertreten: der Wiener Männergesang-
Verein brachte die Musik zur „Antigone“, die Gesellschaft
der Musikfreunde die „Erste Walpurgisnacht“ zur Auf
führung. Letzteres Werk ist das vollkommenere und dank
barere. Die Walpurgisnacht und die Musik zum Sommer
nachtstraum — auch die Hebriden-Ouvertüre kann man dazu
nennen — zeigen uns Mendelssohn’s Talent in seiner
schönsten und stärksten Eigenart. Sein feiner Natursinn,
seine Begabung für das Phantastische und Geisterhafte, das
er allerdings nicht bis zum Dämonischen hebt, durchdringen
diese Tondichtungen mit entzückender Frische und Unmittel
barkeit. Doch hält ihn auch hier sein Formsinn und sein
geistiges Gleichmaß in festen Schranken. Er zauderte lange,
ob er bei der Instrumentirung des Hexenchors in der Wal
purgisnacht die große Trommel nehmen dürfe oder nicht.
„Zacken, Gabeln und wilde Klapperstöcke,“ schreibt er seiner
Schwester, „treiben mich eigentlich zur großen Trommel,
aber die Mäßigkeit räth mir davon ab.“ Unseren heutigen
Tonmalern würde auch die große Trommel noch nicht ge
nügen. Gegenüber der „Ersten Walpurgisnacht“, dieser
Jugendblüthe einer genialen Erfindungskraft, erscheint
die Musik zu „Antigone“ mehr als ein Product der Bil
dung, freilich einer ungewöhnlich tiefen und umfassenden
Bildung. Keinem zweiten Musiker wäre so meisterhaft der
Versuch gelungen, die widerstrebende Verbindung zwischen
antiker Poesie und der modernsten, flüssigsten aller Künste
in einer Weise zu vollziehen, die zwar immer eine gewisse
Starrheit behält, aber doch bewunderungswürdig bleibt. Am
verständlichsten und stärksten wirken diese Chöre dort, wo sie
ursprünglich hingehörten: auf dem Theater, wie die Antigone-
Aufführungen im Stadttheater unter Laube dargethan haben.
Die mehr trennende als „verbindende“ Declamation ist ein
zweifelhafter Nothbehelf. Immerhin bleibt es dankenswerth,
wenn unser trefflicher Männergesang-Verein, der in seinen
letzten Concerten viel modernen Abhub gebracht, sich zeit
weilig wieder einem größeren, ernsten Werke zuwendet, das
schon seinem Stoffe nach auf einen populären Erfolg nicht
zählen kann. Nur wo der überwiegend reflectirende Chor in
„Antigone“ sich ausnahmsweise zu begeisterter Lyrik erhebt,
wie in der Bacchushymne, da lodert auch die Hörerschaft
enthusiastisch auf.
Im Gesellschaftsconcert schlug die „Erste Walpurgis
nacht“ unter Gericke’s Leitung und energischer Mitwirkung
des Singvereins kräftig ein. Herr Ritter sang den
Druiden sehr ausdrucksvoll, auch die Tenorstimme des
Herrn Tomschik wirkte recht günstig. Für die Altpartie
und den „Wächter“ hätten wir kräftigere Stimmen und
energischeren Vortrag gewünscht. Die beiden übrigen Nummern
des Programms waren für Wien Novitäten. Die Cantate
„Also hat Gott die Welt geliebt“ hebt sich aus Bach’s
Kirchenmusiken durch ihr helles, freundliches Colorit heraus.
Es paßt zu dem Charakter des Pfingstfestes, für das die
Cantate bestimmt ist — bestimmt, wenn auch nicht ursprüng
lich geschrieben. Die beiden Arien, zu welchen Bach nach
träglich einen Eingangs- und einen fugirten Schlußchor
hinzufügte, galten von Haus aus nicht dem lieben Gott,
sondern dem Kurfürsten Christian von Sachsen-Weißenfels.
Für ein Jagdfest zu Ehren dieses Herrn componirte Bach
1716 als Tafelmusik eine mythologische Cantate. Er benützte
dieselbe später noch für mehrere andere Festgelegenheiten und
verpflanzte schließlich zwei Arien daraus, etwas erweitert und
bereichert, in die Kirchencantate „Also hat Gott die Welt
geliebt“. Die bekannte reizvolle Sopran-Arie „Mein gläubiges
Herz frohlocke“ diente ursprünglich der Hirtengöttin Pales,
die Baß-Arie „Du bist geboren mir zu Gute“ dem Gott Pan
zum Ausdruck weltlicher Empfindungen. Schwerlich wird es
Jemand bemerken, daß hier das fröhlichste Heidenthum sich
in christliche Frömmigkeit verwandelt hat. „Waren solche Ent
lehnungen überhaupt möglich,“ erklärt uns Spitta, „so
kann eine Stylverschiedenheit zwischen Bach’s geistlichen und
weltlichen Compositionen nicht bestehen. Sie besteht auch
wirklich nicht. Der Bach’sche Styl war der kirchliche
und der kirchliche Styl war der Bach’sche.“ Jeden
falls beweist auch dieses Beispiel zweierlei; einmal die
Vieldeutigkeit der Musik: daß zwar nicht alle Melodien
auf jeden Text passen, wol aber sehr viele Melodien auf
ganz verschiedene, oft recht heterogene Texte. Zweitens: das
Irrige der Meinung, es hätten unsere Classiker für jeden
Vers die einzig richtige Melodie immer und überall in hei
liger Begeisterung aus ihrem tiefsten Gemüthe geschöpft.
Wie viele Opern-Arien und Liebes-Duette hat Händel in
seine Oratorien verpflanzt! Wie ungenirt benützte Gluck
seine halb verschollenen italienischen Mode-Opern für seine
späteren „streng dramatischen“ Tragödien! Bach hat der
gleichen seltener gethan, aber gethan hat er es
doch auch. Sie Alle waren eben, unbeschadet ihrer idealen
Richtung, praktische Musiker, die nicht gerne eine
ihrer glücklichsten Erfindungen verloren gehen ließen.
Zwischen der Bach’schen Kirchencantate und Mendelssohn’s
„Walpurgisnacht“ stand Dvořak’s Orchester-Suite in D-dur
(op. 39) — ein nicht schwerwiegendes, aber in seiner freund
lichen Anspruchslosigkeit durchaus liebenswürdiges Tonstück.
Die Suite enthält fünf Nummern, welche durch ihr knappe
Form und sparsame Instrumentirung einen serenadenartigen
Charakter festhalten. Der Componist behilft sich durchwegs
ohne Posaunen, in den ersten vier Sätzen auch ohne Trom
peten und Pauken. Ein Pastorale mit eigensinnigem Dudel
sackbaß übergeht in eine etwas nachdenkliche Polka in D-moll,
welche von einem sehr hübschen Menuett abgelöst wird. Wie
reizend klingt es, wenn in der „Romanze“ zuerst über ganz
leisen Geigen-Accorden die Flöte allein die zärtliche Melodie
anstimmt, dann Oboë und Englischhorn sich zu ihr gesellen!
Das Finale (ein „Furiant“, ohne welchen es Dvořak nun
einmal nicht thut) entfesselt in raschestem Dreivierteltact
volksthümlichen Scherz und Frohsinn. Wir hätten für die
Suite, die voll feiner und glücklicher Einfälle ist, einen leb
hafteren Beifall erwartet. Das Publicum mochte sich davon
etwas Bedeutenderes versprochen haben. Aber gerade in un
serer auf das Gewaltsame gestellten Zeit thut es wohl, wenn
einmal ein talentvoller Componist, vom „Bedeutenden“
ausruhend, sich in anspruchsloser Heiterkeit ergeht. Natürlich
muß es mit Geist und Anmuth geschehen, Eigenschaften, an
denen Dvořak nicht Mangel leidet.
Herr Rosé bescherte uns in seiner letzten Quartett-
Soirée zwei Novitäten hinter einander — wahrscheinlich um
durch die Quantität hereinzubringen, was dem Neuen an
Qualität abging. Gernsheim’sD-dur-Quintett (mit
zwei Bratschen) zeigt keine starke Originalität; man könnte
fast bei jedem der vier Sätze auf ein dem Componisten vor
schwebendes Muster hinweisen. Es bereitet uns in seinem
Verlaufe weder eine freudige Ueberraschung noch einen tief
greifenden Eindruck. Hingegen sind die formellen Vorzüge
des Werkes nicht gering anzuschlagen. Die Themen sind gut
verwendbar und heben sich, wenn auch nicht bedeutsam, doch
plastisch und gefällig heraus; insbesondere im ersten Allegro,
das sich natürlich und nicht ohne Geist entwickelt. Das sehr
sangbare Andante wirkt durch breiten, schönen Wohlklang
und dürfte, trotz seiner Länge, bei guter Ausführung überall
Effect machen. Scherzo und Finale sind lebendig und
wie alles Uebrige geschickt gemacht; mehr ist davon nicht
zu rühmen. Unser Respect vor Gernsheim stieg be
trächtlich durch das unmittelbar darauf folgende Clavier-
Quartett in C-moll von Eugenio Pirani, einem in
physiognomielosem Wohllaut und verbrauchten Clavierpassagen
selbstzufrieden herumschwimmenden Tonstück. Nach Gerns
heim’s Quintett, das doch überall den geschulten, erfahrenen
Musiker verräth, nahm sich das Pirani’sche Stück aus wie
die Arbeit eines vornehmen Dilettanten. ... Unter den
fremden Virtuosen hat die anmuthige dänische Violinspielerin
Fräulein Frida Scotta den meisten Beifall gefunden,
ihn auch vollauf verdient. Eine echt musikalische Natur,
spielt sie mit sichtlicher Begeisterung, dabei immer natürlich,
unaffectirt. Ihr schöner, kräftiger Ton, graziöser Vortrag
und jetzt schon ansehnlich vorgeschrittene Technik sichern
Fräulein Scotta einen Ehrenplatz unter den immer zahl
reicher auftauchenden „Geigenfeen“.
Uebrigens sind es die Sänger, die jetzt im Vordertreffen
stehen. Gustav Walter hat in zwei überfüllten Concerten
seine Hörer entzückt. Er erlebt jetzt eine zweite Jugend, die
ebenso merkwürdig wie erfreulich ist. Was eine vollendete
Herrschaft über das Organ im Verein mit einem warmen,
blühenden Gemüth auch bei abnehmender Stimmfülle ver
mag, das kann man bei Walter wie bei keinem Andern er
fahren. Auch das Concert des Baritons Herrn Bulss
war dicht besetzt, das Podium durchwegs von Damen,
welche die schöne Stimme und den stattlichen Mann nicht
nahe genug haben konnten. Er sang Balladen von Löwe,
Lieder von Brahms und Anderen — Alles mit großem Beifall.
Wir denken lieber an den beherzten, kraftvollen Opernsänger im
„Zampa“, „Nachtlager“, „Troubadour“ und glauben, Herr
Bulss würde auch im Concertsaal seine echtesten Erfolge mit
Opern-Arien, insbesondere italienischen, erzielen. In seinem
Lieder- und Balladenvortrag ist zu viel Stimme und zu
wenig Geist. Man erinnere sich, wie viel überzeugender,
wirksamer Gura mit seinem halbverblühten Organ die
selben Löwe’schen Balladen sang. Es ist vielleicht eine harte
Zumuthung an einen Stimmkrösus wie Bulss, mit seinem
Schatze hauszuhalten; aber um jeden Ton wie einen Brillan
ten à jour zu fassen, dazu singt man nicht Löwe’sche Balla
den. Da schleichen sich auch leicht kleine Mißverständnisse
ein. „Der Trompeter thät’ den Schnurrbart streichen“ —
wie ungeheuerlich lang muß dieser Schnurrbart sein nach
Bulss’ Auslegung! In der Ballade „Der Taucher“ singt
Herr Bulss die Stelle: „Und da hing auch der Becher an
spitzen Korallen“ langsam, düster, mit tiefschmerzlichen Aus
druck, während es doch der freudigste Moment für den Taucher
ist. Die fürchterlich lange und anstrengende Taucherballade
von M. Plüddemann öffentlich zu singen, dünkt uns ein ebenso
seltsamer Einfall, wie der, sie zu componiren. Man verweise
nicht auf das BeispielSchubert’s, der, von Zumsteg’s Vor
bild angeregt, als junger Mensch im Convict sich ohne viel
Besinnen auf die breit erzählenden Schiller’schen Balladen
warf. Als reifer Künstler war er sicherlich von der Unfrucht
barkeit dieser Versuche überzeugt und ließ sie auch niemals
drucken. Von allen Schiller’schen Balladen eignet sich aber
der „Taucher“ am allerwenigsten für Gesang, da er, fast
ohne jeden lyrischen Ruhepunkt, sich nur der Schilderung ein
und desselben Naturschauspiels hingibt. Obendrein wiederholt
sich durch das zweimalige Hinabtauchen des Knappen dieselbe
Situation. Eher noch als zum Gesang möchte der Taucher sich für
melodramatische Begleitung eignen. Aber auch diese würde tiefer
kaum wirken, als eine ausdrucksvolle Declamation ohne Musik.
Die Phantasie des Hörers ist viel reicher, malt sich die
Schrecken der Meerestiefe viel geheimnisvoller, grenzenloser
aus, als die chromatischen Scalen, Tremolos und Arpeggien
eines Claviers es vermögen. Und viel mehr als diese bald
ausgeschöpften Mittel besitzt die Tonmalerei nicht, wenn ihr
auch heute durch die hochgesteigerte Claviertechnik grellere
Farben zur Verfügung stehen, als unserem Schubert vor
achtzig Jahren. Ob Herr Plüddemann Talent hat? Geschick
lichkeit und Bildung gewiß. Aber ein ergiebiger Quell von
Musik sprudelt schwerlich in ihm, sonst würde eine musik
widrige Aufgabe, wie Schiller’s Taucher, ihn nicht verlockt
haben. Die schwierige Begleitung spielte Herr Masbach
recht geläufig. Seine Solovorträge hingegen vermochten nicht
zu genügen. Wer ein Beethoven’sches Adagio und eine der
zartesten Noctürnes von Chopin so abgezirkelt pedantisch ab
spielt, mit so trockenem Anschlag und schwerer Hand, der ist
kaum zum Pianisten geboren.
Eine neue sehr anziehende Erscheinung trat uns in Frau
Lillian Sanderson entgegen. Die in Milwaukee ge
borene schöne junge Dame ist eine Schülerin Stock
hausen’s, dessen vortreffliche Methode deutlich aus ihrer
Gesangsweise hervorleuchtet. Sie behandelt ihr Organ, eine
mäßig starke Altstimme von weichem Klang, mit feinem Ge
schmack, intonirt rein und spricht musterhaft deutlich aus.
Was sie vorträgt, ist bis ins kleinste Detail studirt, mit ver
ständiger Klarheit auseinandergesetzt. Eine leidenschaftliche
Betheiligung des Gemüths strömt nicht aus ihrem Gesang,
eher ein kühler Hauch, der zu der ruhigen, statuarischen Er
scheinung der Sängerin stimmt. Das Programm der
Sanderson interessirte durch viele neue oder selten gehörte
Stücke von allerdings ungleichem Gehalt. Weder „Die
rothe Hanne“ noch „Die Kartenlegerin“ stehen unter
Schumann’s Liedern obenan. „Die Kartenlegerin“ mit
ihrem reizenden kleinen Vorspiel ist wenigstens lebhaft
und fein pointirt, wurde auch von Frau Sanderson,
leicht zwischen Singen und Sprechen schwebend, mit
graziöser Anschaulichkeit vorgetragen. Hingegen ist die „rothe
Hanne“ ein musikalisch unfruchtbarer Stoff, der mit seinem
sechsmal wiederkehrenden schwerfälligen Refrain („Sei Gott
du mit der rothen Hanne; der Wilddieb sitzt in sich’rer
Huth“) peinlich monoton wird. Noch ein drittes Lied von
Schumann sang Frau Sanderson, wol das allerkleinste und
allereinfachste, das je öffentlich gesungen ward: „Der
Schmetterling“. Es ist dem „Liederalbum für die Jugend“
(op. 79) entnommen und ein wirkliches Kinderlied. Nicht
von allen Stücken der Sammlung kann man das sagen, am
wenigsten von dem schönsten daraus: „Kennst du das Land?“,
das eine feingebildete Sängerin von ernstem, tiefem Gemüth
verlangt. Die vier Gesangstücke von August Bungert,
dem Haus- und Hofcomponisten der Carmen Sylva, haben
uns mehr interessirt als befriedigt, so gerne wir das
poetisch Anschmiegende und musikalisch Tüchtige darin an
erkennen. Aber die Gedichte sind doch zu sonder
bar und musikalisch unergiebig — mit Ausnahme des
„kleinen Liedes“ das in seiner Anspruchslosigkeit auch
am günstigsten wirkte. Eine trostlose social-demokratische
Scene, dieser frierende „Sandmann“, der vergeblich vor allen
Häusern „Sand! Sand!“ ruft und daheim fünf hungernde
Kinder hat. Dann der unglückliche Schuster, der in „ein
wundernettes Füßchen mit rosenrothen Zehen“ verliebt ist.
Endlich gar „der junge Haiduck“! Dem ist ein Kuß seiner
Liebsten „ins Blut eingedrungen“ und er „durchschweift die
ganze Erde mit seinem Kusse“, bis ihm die weiße Frau be
gegnet, ihm den Kuß der Liebsten wegnimmt und in ihren
Gürtel steckt! Das macht doch ein bischen zu starke Anfor
derungen an unsere Fassungskraft und unser Mitgefühl.
Jedenfalls verlangte diese offenbar rumänische Volkssage von
der Musik eine entsprechend nationale Färbung. Noch mit
vielen anderen Liedern erntete Frau Sanderson lebhaften
und wohlverdienten Beifall. Sie ist keine Sängerin von
hinreißendem Temperament oder mächtiger Stimme, aber
eine sehr interessante und vornehme Künstlernatur. Unter
stützt wurde sie von dem jungen talentvollen Geiger Herrn
v. Kunits, der ein Adagio von Nardini und eine
Romanze eigener Erfindung spielte. Zwischen beiden Com
positionen liegt ein volles Jahrhundert, aber in ihrer Lang
weiligkeit treffen sie wie in einem Mittelpunkt zusammen.