Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Nr. 9931. Wien, Sonntag, den 17. April 1892 Hanslick, Eduard Wilfing, Alexander FWF Der Wissenschaftsfond.
Georg-Coch-Platz 2 1010 Wien Österreich Wien
Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Herausgegeben von Wilfing, Alexander Projektmitarbeiterinnen Bamer, Katharina Pfiel, Anna-Maria Elsner, Daniel Austrian Centre for Digital Humanities and Cultural Heritage Wien 2024

Sie dürfen: Teilen — das Material in jedwedem Format oder Medium vervielfältigen und weiterverbreiten

Bearbeiten — das Material remixen, verändern und darauf aufbauen und zwar für beliebige Zwecke, sogar kommerziell.

Der Lizenzgeber kann diese Freiheiten nicht widerrufen solange Sie sich an die Lizenzbedingungen halten. Unter folgenden Bedingungen:

Namensnennung — Sie müssen angemessene Urheber- und Rechteangaben machen, einen Link zur Lizenz beifügen und angeben, ob Änderungen vorgenommen wurden. Diese Angaben dürfen in jeder angemessenen Art und Weise gemacht werden, allerdings nicht so, dass der Eindruck entsteht, der Lizenzgeber unterstütze gerade Sie oder Ihre Nutzung besonders.

Keine weiteren Einschränkungen — Sie dürfen keine zusätzlichen Klauseln oder technische Verfahren einsetzen, die anderen rechtlich irgendetwas untersagen, was die Lizenz erlaubt.

Hinweise:

Sie müssen sich nicht an diese Lizenz halten hinsichtlich solcher Teile des Materials, die gemeinfrei sind, oder soweit Ihre Nutzungshandlungen durch Ausnahmen und Schranken des Urheberrechts gedeckt sind.

Es werden keine Garantien gegeben und auch keine Gewähr geleistet. Die Lizenz verschafft Ihnen möglicherweise nicht alle Erlaubnisse, die Sie für die jeweilige Nutzung brauchen. Es können beispielsweise andere Rechte wie Persönlichkeits- undDatenschutzrechte zu beachten sein, die Ihre Nutzung des Materials entsprechend beschränken.

Maschinenlesbares Transkript der Kritiken von Eduard Hanslick.

Nr. 9931. Wien, Sonntag, den 17. April 1892 Hanslick, Eduard Neue Freie Presse Morgenblatt Herausgegeben von Etienne, Michael Friedländer, Max Wien 17.04.1892
font-style:italic; font-weight:bold; Deutsch Transkribus OCR und Lektorat. Transformierung der Daten des Transkribus TEI-Export mit "editions.xsl". Formatierung und Referenzen eingefügt. Letztkorrektur für Zwischenrelease.
Oesterreichische Monarchen als Tondichter.

Ed. H. Als kürzlich in Berlin die musikalischen Com positionen Friedrich’s des Großen im Druck erschienen, mochte sich mancher Oesterreicher fragen: Warum geschieht Aehn liches nicht bei uns? Haben wir doch gegen den Großen Friedrich — diesen auch musikalisch „Einzigen“ im preu ßischen Königshause — eine ganze Reihe österreichischer Monarchen aufzuführen, die sich als Componisten hervorge than. Während die Vorgänger Friedrich’s eher zu den Geg nern der Musik und seine Nachfolger wenigstens nicht zu ihren Priestern zählen, bietet Oesterreich das merkwürdige Schauspiel, daß mehrere Generationen ein und derselben Dynastie sich durch regsten Antheil an der Tonkunst aus zeichnen. Von dieser speciellen Begabung und Thätigkeit der österreichischen Herrscher im siebzehnten und achtzehnten Jahr hundert hat das große Publicum nur sehr vage Kenntniß; etwa gerade so viel, als die gangbaren Lesebücher mittheilen. Man weiß, daß Kaiser Max I. den bedeutendsten Orgel- Virtuosen seiner Zeit, Paul Hofhaimer, hochgeschätzt und geadelt hat, daß er den berühmtesten deutschen Contra punktiker Heinrich Isaak nach Wien berief; man weiß, daß die mit Karl V. beginnende „spanische Zeit“ in Wien des musikalischen Glanzes nicht entbehrte, daß endlich Ferdi nand I. und II. große Musikfreunde gewesen. Daß aber mit dem Sohne des Letzteren, mit Ferdinand III., eine Reihe von Habsburgern beginnt, welche als Virtuosen und Componisten glänzten, das ist in seinen biographischen Einzelheiten und musikalischen Documenten fast gar nicht bekannt. Am hellsten noch leben im Bewußtsein des Volkes die sympathischen Persönlichkeiten Maria Theresia’s und Joseph’s II., auch in ihrem Verhältniß zur Musik. Der Wiener denkt mit Stolz daran, daß die große Kaiserin auch eine vortreffliche Sängerin und musikalische Erzieherin ihrer Kinder war; daß Kaiser Joseph in seinen Hausconcerten als tüchtiger Musiker und Partiturspieler mitwirkte, den Opernproben bei

wohnte, mit Mozart und den bedeutendsten Tonkünstlern liebevoll verkehrte. Aber den Vorfahren Maria Theresia’s stehen wir seltsam fremd gegenüber. Und doch sind es gerade sie, welche nicht blos genießende und ausübende, sondern schaffende Tonkünstler gewesen. Die Kaiser Ferdinand III., Leopold I., Joseph I. und Karl VI. haben selbst componirt, und das nicht wie große Herren, sondern wie geschulte Musiker. Von den Compositionen Karl’s VI., in deren An erkennung die Musikgelehrten übereinstimmten, hat sich leider nichts erhalten. Er war ein eifriger Schüler des berühm testen Theoretikers seiner Zeit, Johann Joseph Fux, dessen grundlegendes Werk „Gradus ad Parnassum“ der Kaiser auf eigene Kosten drucken ließ. Oft stellte sich Kaiser Karl an die Spitze seines Orchesters und dirigirte vom Clavier aus Kammermusiken und ganze Opern. Bei einem solchen Anlasse rief einmal Fux ganz entzückt: „Ach, wie schade, daß Majestät kein Virtuose geworden sind!“ — „Hat nichts zu sagen,“ entgegnete der Kaiser mit Humor, „hab’s halt so besser.“ Es ist sichergestellt, daß Compositionen von Karl VI. bei Hof und in der Kirche aufgeführt worden sind; trotz der eifrigsten Nachforschungen in Oesterreich und Spanien ist es jedoch nicht gelungen, auch nur eine der selben aufzufinden. Das ihm allgemein zugeschriebene Miserere“ erwies sich als von der Hand Kaiser Leopold’s herrührend.

Hingegen sind uns werthvolle Compositionen geistlichen und weltlichen Inhalts von den Kaisern Ferdinand III., Leopold I. und Joseph I. erhalten. Dieselben gelangen jetzt in sorgfältiger Auswahl zum erstenmale an die Oeffentlich keit. Dem Unterrichtsminister Freiherrn v. Gautsch ge bührt das Verdienst, zuerst vom Kaiser die Bewilligung zu dieser Herausgabe erbeten zu haben. Das prachtvoll aus gestattete Werk führt den Titel: „Musikalische Werke der Kaiser Ferdinand III., Leopold I. und Joseph I. Herausgegeben im Auftrag des k. k. Unter richtsministeriums von Dr. Guido Adler.“ Der Band ent hält drei Werke von Ferdinand, zehn von Leopold, eins von Joseph — durchaus geistlichen Inhalts. Ein zweiter Band soll weltliche Gesänge und Instrumental-Com positionen dieser Kaiser bringen. Dieses monumentale Werk ist in der kostbaren Ausstattung des berühmten

Wiener Verlages Artaria eine Seltenheit und soll auch eine Seltenheit bleiben. Es werden nämlich, außer 20 zu Geschenken bestimmten Prachtexemplaren, nur 200 numerirte Exemplare für Subscribenten hergestellt und die Platten sodann eingeschmolzen. Erst in späterer Zeit sollen einzelne dieser Compositionen (blos im Clavierauszug) in einer „Volksausgabe“ erscheinen. Die Herstellung dieser Publication verlangte viel Arbeit und Sorgfalt. Wie schwer war nicht aus den Hunderten von Werken Kaiser Leopold’s eine richtige Auswahl zu treffen! Die Compositionen, zum allergrößten Theil nur in Stimmen vorhanden, mußten erst in Partitur gesetzt werden. Mancherlei Lücken und zweifel hafte Lesarten erforderten einen philologisch und musikalisch erfahrenen Herausgeber, der in seinem Revisions-Bericht sich gegen alle Einwendungen hieb- und stichfest erweisen mußte. Den rechten Mann dafür hat der Unterrichtsminister in einem jüngeren österreichischen Gelehrten, dem Professor der Musikgeschichte an der deutschen Universität in Prag, Dr. Guido Adler, gefunden. Professor Adler ist den Fach genossen als Mitherausgeber der bei Breitkopf & Härtel er scheinenden „Vierteljahresschrift für Musikwissenschaft“ rühm lich bekannt. Wenn ihn nicht schon seine zahlreichen eigenen Aufsätze als gründlichen Musikforscher beglaubigt hätten, das Vertrauen der ersten deutschen Musikgelehrten, Spitta und Chrysander, welche sich ihn als Dritten im Redactions bunde erwählten, würde es thun. Nicht blos in der sorg fältigen Redaction des musikalischen Theils, auch in der ausführlichen historischen Einleitung dazu hat sich Professor Adler seiner Aufgabe vollkommen gewachsen gezeigt. An dieses Vorwort anlehnend, möchten wir unsere Leser zu den Kaiser-Compositionen selbst geleiten.

Kaiser Ferdinand III., von dem drei Kirchen-Compo sitionen den Band eröffnen, hatte Musikliebe und -talent von seinem Vater geerbt. Athanasius Kircher, eine der ersten musikalischen Autoritäten, schrieb, daß Ferdinand III. als Musiker unter allen Regenten nicht seinesgleichen habe. Diesem gelehrten Jesuiten widmete der Kaiser sein „Drama musicum“ (1649), ein merkwürdiges Werk, weil eines der ersten, das auf deutschem Boden in Nachahmung der neu entstandenen italienischen Oper geschaffen wurde. Von den zahlreichen geistlichen Compositionen des Kaisers offenbart das

Miserere“ am auffallendsten sein Talent. Noch eigenthüm licher erscheint uns sein Hymnus „De Nativitate Dominimit der charakteristischen Begleitung von drei Flöten und drei Trompeten. Trotz der Stürme des ausgehenden dreißig jährigen Krieges sorgt Ferdinand unermüdlich für seine Ton künstler und für Gewinnung neuer tüchtiger Kräfte. Er sendet die talentvollen jungen Musiker Froberger und Kerl nach Italien und wirkt so vorbereitend für die heranwachsende Be deutung der süddeutschen Orgel- und Instrumental-Musik. Es war die Zeit, da die Italiener immer mehr Boden ge wannen in Deutschland, vor Allem in Dresden, München und Wien. Noch höher stieg ihr Einfluß unter Ferdinand’s Nachfolger, Leopold I. Ein vielseitig unterrichteter, hoch gebildeter Mann, ursprünglich zum geistlichen Stand bestimmt, hatte er sich vorzugsweise die Musik zur treuen Begleiterin im Leben erwählt. Die Gesammtzahl seiner Compositionen ist erstaunlich, ein Beweis für seine Kunstbegeisterung, wie für seine unermüdliche Arbeitskraft. Die Historiker rühmen den Gleichmuth und die Charakterstärke, mit welcher der Kaiser so viele empfindliche Schicksalsschläge ertrug. Von Natur friedliebend, brachte er doch sein Leben, mit geringen Unterbrechungen, im Kriege zu: gegen Schweden, gegen die Türken, gegen Frankreich. Dazu die Revolution in Ungarn, die Belagerung Wiens durch die Türken! Aber nach jedem Kummer, jeder Sorge flüchtete der Kaiser zu seiner Lieblings beschäftigung, der Musik. Er hat nicht weniger als 79 Kirchen musikwerke componirt, darunter acht Oratorien. Noch größer ist die Zahl seiner weltlichen Compositionen: 155 ein- und mehr stimmige Gesänge, größtentheils Einlagstücke in die Opern und Oratorien seiner Hofcapellmeister; ferner neun „Feste teatrali“, 17 Ballette, aus welchen nur noch 102 Tänze erhalten sind. Alle festlichen Familientage bei Hof verschönt der Kaiser mit Musiken seiner Composition; für Todesfälle in der kaiser lichen Familie schreibt er selbst Requiems oder Trauergesänge. In seinen drei „Trauerlectionen“ für seine zweite Gemalin Claudia Felicitas kommt sein tiefstes Schmerzgefühl zum Ausdruck. Kaiser Joseph I. und Karl VI. ließen diese Trauer lectionen jährlich am Todestag ihres Vaters aufführen, pflegten überhaupt mit großer Pietät die Werke desselben. Ein Zug stiller Schwermuth, den man schon in seiner Jugend bemerkt haben will, charakterisirt die meisten Compositionen des Kaisers. Welch merkwürdig charakteristische Erscheinung,

dieser kaiserliche Capellmeister von kleiner Statur und düsterem Blick, stets in schwarzem spanischen Gewand und langer schwarzer Allonge-Perrücke! Mit der Musik verscheuchte er alle Kümmerniß. „Diesen Fasching,“ schreibt er 1666, „hätte ich ziemlich still sitzen sollen wegen der Todten-Klagen, doch haben wir etliche Festl in camera gehabt; denn es hilft den Todten doch nit, wann man traurig ist.“ Kaiser Leopold gab mit Vorliebe Feste mit Musik und sah es gern, wenn seine Familie im Vereine mit dem hohen Adel selbst an den Auf führungen mitwirkte. Sein Sohn, der römische König Joseph, und dessen Gemalin folgen diesem Beispiel, und ihre Kinder feiern mit musikalischen Productionen die Festtage der Eltern. Diese Uebung erhielt sich bei Hofe noch lange Zeit. Alle Kinder Karl’s VI. waren musikalisch gebildet, insbesondere geübte Sänger. Gesangskunst und Geschmack für den bel canto vererbten sich in der kaiserlichen Familie. Davon geben auch die Compositionen Kaiser Leopold’s Zeugniß; sie sind alle sangbar und fließend geschrieben. Sein Meisterwerk ist der Psalm „Miserere“, der lange für ein Werk späterer Zeit ge halten, ja direct dem Kaiser Karl VI. zugeschrieben wurde. Indeß liegt jetzt der Entwurf von der Hand Kaiser Leopold’s vor, aus dessen letzten Lebensjahren das Stück stammt. Ein Facsimile desselben liegt der Publication bei. Von einem Italiener, dem Grafen Portia, erzogen, faßte Kaiser Leopold schon in der Jugend eine Vorliebe für die italienische Sprache und den italienischen Musikstyl, dessen Herrschaft sich über ganz Deutschland auszubreiten begann. Demungeachtet com ponirte Leopold auch drei deutsche Singspiele und zwei Oratorien in deutscher Sprache, deren Pflege damals noch sehr im Argen lag. Das Italienische war die Sprache des Hofes und der vornehmen Gesellschaft. Ein alter Biograph Leopold’s verwundert sich sogar, daß der Kaiser überhaupt gut Deutsch sprechen konnte, „absonderlich da in Oester reich diese Sprache fast in fremden Landen ist.“ Von seiner Mutter her und seiner ersten Gemalin Margarethe zuliebe pflegt der Kaiser auch die spanische Sprache, setzt selbst Musik zu spanischen Intermezzos und verlangt wiederholt von seinem Gesandten Compositionen aus Spanien. So sehen wir den Kaiser im regen Verkehre mit den Ländern, wo Musik ge pflegt wurde. Sein Ruf als musikkundiger Fürst und der Ruhm seiner Hofcapelle verbreiteten sich weit. „Seine Ca pelle,“ schreibt Leopold’s erster Biograph Rink, „kann wol

die vollkommenste in der Welt genennt werden, und dieses ist gar kein Wunder, nachdem der Kaiser allemal selbst das Examen anstellte, wenn einer darinnen sollte angenommen werden, da denn blos nach Meriten und nicht nach Nei gungen geurtheilt ward. Wenn alle Collegia in Wien auf solche Art untersucht und besetzt worden, so ist kein Zweifel, Wien wäre ein Paradies auf Erden gewest. Man kann aus der Menge der erfahrensten Künstler urtheilen, wie hoch sie dem Kaiser zu stehen kommen!“ Freilich kamen sie ihm sehr hoch zu stehen, denn sie waren fürstlich bezahlt und sehr zahlreich, aber auch gehörig angestrengt im Dienst. Während innerhalb des Zeitraumes 1630 bis 1657 nur sechzehn Aufführungen von Opern und Oratorien stattgefunden hatten, wurden unter Leopold von 1658 bis 1705 mehr als vierhundert veranstaltet. Der Kaiser nahm die Musiker auch auf seinen Reisen mit. Dieser strenge Dienst — und wie wir wol beisetzen dürfen, der mitunter in Rückstand gebliebene Sold — machte die Musiker zeitweilig mürrisch und nachlässig. Da tritt der Kaiser einmal persönlich mit seiner Autorität ein für Disciplin und Gehorsam. Eigenhändig entwirft er die strengen Verhaltungsregeln, die im Facsimile von des Kaisers Handschrift dem Buche beigegeben sind. („Punti ch’io voglio che siano delli miei Musici sempre inviolabilmente osservati.“) Für seine Hofmusiker zeigt Leopold fortwährend das größte Interesse. Er befreit sie von einem Theil der Kopfsteuer, fördert junge Talente, schafft das Amt der „Hof compositoren“, um tüchtige Meister, die nicht als Capell meister oder Organisten angestellt werden können, zu unter stützen. Der berühmte Johann Joseph Fux, ein Steier märker, war der Erste in dieser neuen Würde. In seiner Vorliebe für prächtige Instrumentation erscheint Leopold als echter Repräsentant des süddeutschen Geschmacks; seine Rich tung beförderte jenen Sinn für Klangschönheit und Instru mental-Colorit, der für unsere Musik charakteristisch wurde. (Ein Beispiel liefern die glänzenden Eintritte der Cornetti in seinem Psalm „Laudate pueri“.) So bildete sich die Grundlage, auf welcher im kommenden Jahrhundert die Wiener Kunst sich zur Classicität erheben sollte. Die Liebe zur Musik blieb dem Kaiser treu bis zur letzten Stunde. Als Leopold sein Ende herannahen fühlte, befahl er, daß seine Capelle im Nebenzimmer mehrere seiner Lieblingsstücke spielen solle. Unter den Klängen derselben entschlief er.

Im Gegensatze zu dem unerschütterlich gelassenen Gleich muthe Leopold’s war das Temperament seines Sohnes Joseph I. lebhaft und feurig. Von schneller Auffassung und ehrgeizig, gehörte er zu jenen hochbegabten Prinzen, an deren Thronbesteigung sich die schönsten Hoffnungen knüpfen. Leider starb er, 33 Jahre alt, schon im sechsten Jahre seiner Re gierung. Sein musikalisches Talent war noch persönlicher und intensiver, als das seines Vaters und Großvaters. Nur drei Compositionen sind uns von ihm erhalten, eine geist liche und zwei weltliche. Aber diese Proben berechtigen zu der Vermuthung, Joseph I. wäre ein bedeutender Componist geworden, wenn seine Geburt ihn nicht zum Herrscher über ein großes Reich bestimmt hätte. Allerdings haben seine wissenschaftlichen und ritterlichen Beschäftigungen, seine Regentenpflicht, endlich auch ein Zug von Ungeduld in seinem Charakter zusammengewirkt, um sein musikalisches Talent nicht völlig zur Reife kommen zu lassen. Joseph’s Compositionen zeigen gegen die seiner Vorfahren ein origi nelleres Talent und einen merklichen Fortschritt in der musikalischen Kunst. Er stand eben auf den Schultern einer vorgeschrittenen Zeit. Während seine Ahnen in einer musikalischen Uebergangszeit geschaffen hatten, schrieb Joseph bereits unter dem Einflusse eines genialen, epochemachenden Meisters wie Alessandro Scarlatti. Nicht nur seine Kirchen- und Kammermusik stand auf hoher Stufe, auch die Opernaufführungen unter Joseph I. übertrafen an musikalischer Vollkommenheit und äußerer Pracht noch die berühmten zu Leopold’s Zeit. Joseph I. erbaute als Ersatz für das 1699 abgebrannte Opernhaus ein prächtiges neues, das zwischen der Hofbibliothek und der kaiserlichen Reitschule stand. Hier wurden die besten Werke der italienischen Meister Alessandro Scarlatti, Ziani, Bononcini, Ariosti, Caldara in vollendeter Ausführung gehört. Mit der glänzenden Sopran- Arie Joseph’s I.Regina coeli“ schließt der uns vorliegende Band des großen musikalischen Kaiserwerkes. Wir dürfen demselben nicht blos musikgeschichtliche Wichtigkeit, sondern auch ein eminent culturhistorisches Interesse zuerkennen. Die ganze gebildete Welt, die jetzt zum erstenmal einen Einblick in das musikalische Schaffen der habsburgischen Dynastie empfängt, wird dasselbe mit Antheil verfolgen. Wir Oester reicher aber betrachten mit Stolz und Rührung dieses Monument einer sich forterbenden künstlerischen Thätigkeit, welche in der Culturgeschichte nicht ihresgleichen hat.