Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Nr. 10020. Wien, Sonntag, den 17. Juli 1892 Hanslick, Eduard Wilfing, Alexander FWF Der Wissenschaftsfond.
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Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Herausgegeben von Wilfing, Alexander Projektmitarbeiterinnen Bamer, Katharina Pfiel, Anna-Maria Elsner, Daniel Austrian Centre for Digital Humanities and Cultural Heritage Wien 2024

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Maschinenlesbares Transkript der Kritiken von Eduard Hanslick.

Nr. 10020. Wien, Sonntag, den 17. Juli 1892 Hanslick, Eduard Neue Freie Presse Morgenblatt Herausgegeben von Etienne, Michael Friedländer, Max Wien 17.07.1892
font-style:italic; font-weight:bold; Deutsch Transkribus OCR und Lektorat. Transformierung der Daten des Transkribus TEI-Export mit "editions.xsl". Formatierung und Referenzen eingefügt. Letztkorrektur für Zwischenrelease.
Vom Théâtre Français. I. Regnier und Talma.

Ragatz, im Juli. Ed. H. Während unsere Wiener Freunde im Aus stellungs-Theater die Künstler der Comédie Française be wunderten, war es mir wenigstens vergönnt, mich hier in den Gartenanlagen des herrlichen „Quellenhofs“ literarisch damit zu beschäftigen. Ich that es an der Hand eines kürz lich erschienenen Buches von P. Regnier („Souvenirs et Études de Théâtre“), das mich nicht allein durch den Stoff, sondern auch durch die Persönlichkeit seines Autors anlockte. Vor etwa 15 Jahren hatte ich das Vergnügen, Herrn Regnier kennen zu lernen, der nach vierzigjähriger rühmlicher Thätigkeit am Théâtre Français noch als Lehrer am Conservatorium wirkte. Ein kleiner Kreis intim befreun deter Schriftsteller und Künstler in Paris versammelte sich damals regelmäßig einmal im Monat zu einem zwanglosen Diner. Von meinem Freunde Szarvady dort eingeführt, kam ich zwischen Labiche und Regnier zu sitzen, also zwischen übersprudelndem Witz und ruhiger magistraler Würde. Labiche, einer der unerschöpflichen Lustspiel dichter, um welche wir Frankreich beneiden könnten, war auch im Gespräch voll heiterer guter Ein fälle. Als Alexander Dumas, sein Vis-à-Vis, ihm einige im Salon ausgestellte Bildhauerwerke rühmte, ent gegnete Labiche: „Lassen Sie mich in Ruhe mit der ganzen Plastik! Was ist das, die Plastik? Leute, die sich nackt aus ziehen, um Flöte zu blasen.“ Das brachte selbst den ernst haften Regnier zum Lachen. Eine Art Oberster Gerichtshof in allen Fragen der correcten Aussprache und Declamation, galt Regnier zudem als lebendiges Nachschlagebuch der Geschichte des französischen Theaters. Er rühmte sich lächelnd, der Alterspräsident aller französischen Schauspieler zu sein, viel leicht nicht seinen Jahren, aber seinem ersten Debüt nach. Dieses hatte thatsächlich im Jahre 1811 stattgefunden. Regnier war damals vier Jahre alt und verdankte seine

erste Rolle der Geburt des Königs von Rom. Hundert und Ein Kanonenschuß verkündeten, daß die Kaiserin Maria Louise eines Sohnes genesen sei. Ein Sohn! Ein Prinz! Vive l’Empereur ! Die Leute umarmten sich jubelnd auf den Straßen. Frankreich und die Dynastie Napoleon’s waren gerettet, gesichert für alle Zeiten! Neun Jahre später, 1820, wieder 101 Kanonenschüsse, derselbe Enthusiasmus: ein Knabe! ein Prinz! Der neugeborene Sohn der Herzogin von Berry befestigt für immer den Thron der Bourbons; so sangen die Poeten Victor Hugo und Lamartine, so jubelte das Volk. Und wieder 45 Jahre später hört Regnier abermals die 101 Kanonenschüsse, das Jubelgeschrei: ein Sohn! ein Erbe! und daß der Thron Louis Napoleon’s feststehe in Ewigkeit! Und was war das Schicksal dieser unter tumultuarischen Freudenrufen des Volkes geborenen Prinzen? Das Exil und der Tod in fremden Landen.

Zur Feier der ersten dieser drei Entbindungen, der von 1811, hatte ein gewisser Rougemont ein Gelegenheitsstück gedichtet: „Der Olymp. oder Paris, Rom und Wien“, eine Verherrlichung Napoleon’s I. als Eroberer, Gesetzgeber, Gatte und Vater. In der Schlußscene erschien sein Erbe, um geben von der Weisheit, der Stärke und dem Sieg. Für diese kleine, aber hochwichtige Rolle suchte man ein wohl genährtes Kind mit rothen Backen und einem den künftigen Helden verrathenden kecken Gesichtchen. Das Söhnlein der Schau spielerin Madame Regnier wurde dafür ganz passend gefunden und genau unterrichtet, wie es sich zu benehmen habe. Wie überglücklich war der Knirps, als man ihm statt seines Hemdchens eine flitterbesetzte weiße Tunica anzog, darüber einen Purpur mantel und auf dem Kopfe eine goldene Krone! Bei der Probe zeigte er sich sehr anstellig in seiner Rolle: er hatte auf dem Throne, einem Sammtfauteuil, aufrecht zu stehen, die linke Hand an der Hüfte, mit der rechten ein Scepter empor haltend. In eigensinnigem Eifer verharrt aber der Kleine schon lange vor dem Aufziehen des Vorhanges in dieser Stellung; er ermüdet während der Scene und läßt das Scepter fallen. Zwei Hofdamen sollen ihn die Stufen des Thrones herabführen; dazu fühlt er sich jedoch zu groß, zu stolz; er will durchaus allein gehen, wehrt sich heftig gegen

die Hofdamen, verwickelt sich in seinen Purpurmantel und — unter lautem Gelächter des ganzen Hauses kollert der König von Rom bis vor den Souffleurkasten. Seine Mutter, als Minerva an seiner Seite postirt, hebt ihn auf, aber be schämt, verwirrt, vermag er sich kaum auf den Beinchen zu erhalten. Zum Unglück fühlt er auch einen prickelnden Schmerz auf der Haut von den Goldflittern seiner Tunica und beginnt sich heftig zu kratzen. Neues Jubelgelächter im Publicum. „Unglückliches Kind,“ ruft ihm die Mutter mit fast erstickter Stimme zu, „willst du endlich aufhören?“ — „Ich kann nicht, ich kann nicht,“ schreit der Kleine weinend und kratzend, „ich habe einen Floh!“

So endete das erste Debüt Regnier’s. Obwol schon mit vier Jahren auf die Bühne gestellt, sollte er doch keineswegs zum Theater gehen. Seine Mutter, selbst Schau spielerin, war zu tief durchdrungen von der Gefährlichkeit und den Täuschungen dieses so verlockenden Berufs. Ihre Meinung theilen sehr viele Schauspieler unserer Zeit, welche, trotz ihrer eigenen glänzenden Erfolge, die Kinder dennoch mit aller Kraft von der gleichen Laufbahn abhalten. Ein merkwürdiges Beispiel ist der große englische Schauspieler Macready, Vater von neun Kindern, von denen kein einziges ihn jemals hat spielen sehen. Er fürchtete, der An blick seiner Erfolge könnte ihnen Lust machen zum Schau spielerstand. Man weiß, daß wieder andere Bühnenkünstler, nicht minder talentvoll, aber minder klug als Macready, ihre Kinder demselben Berufe widmen, welchem sie selbst ihre Berühmtheit verdanken. Meinen sie vielleicht, das Talent eines Künstlers lasse sich übertragen, wie das Amt eines Notars? Sie haben ihre Nachgiebigkeit meistens zu bereuen. Nach Regnier’s Erfahrungen gehört es zu den großen Seltenheiten, daß das Talent des Schauspielers, des Poeten, Malers, Tondichters sich auf eine zweite oder dritte Generation vererbt. Aller dings besitzt Deutschland eine ganze Dynastie von Devrients und England große Schauspieler-Familien, wie die Keans, Matthews, vor Allem die Kembles. Allein mit einer oder zwei Ausnahmen zählt keine dieser Familien mehr einen Künstler von hervorragender Bedeutung und hat keiner der Nachkommen die Größe seines Ahnherrn erreicht. Der junge Regnier sollte ursprünglich Soldat werden

obgleich seine Mutter sich so sehr vor dem Kriege fürchtete, daß sie bei seiner Geburt schmerzlich ausrief: O weh, die Conscription!

Als Theaterkind hatte Regnier bald das Glück, den größten Schauspieler seiner Zeit, Talma, kennen zu lernen. Als dieser dem Knaben zum erstenmale an der Hand der Mutter begegnet, ihn liebevoll anspricht und küßt, fühlt sich Regnier so stolz und überglücklich, als hätte Napoleon selbst, das Ideal seiner Jugend, ihm diese Ehre erwiesen. Er hat während der letzten vier Jahre von Talma’s Wirksamkeit kaum eine einzige Vorstellung desselben versäumt. Nach dem Theater harrte der junge Regnier mit Anderen im Vor zimmer von Talma’s Garderobe auf den Augenblick, wo dieser, ausruhend, die Thür öffnete und Besuche empfing. Regnier hörte in seinem Winkel jedes Wort, das Talma sprach. Da hatte man nicht mehr den berühmten Künstler vor sich, sondern den einfachsten, natürlichsten Menschen. Niemals ist ein Schauspieler im täglichen Leben weniger Schauspieler gewesen, als Talma. Darin unterschied er sich von so vielen gefeierten Künstlern, z. B. von Kean, welcher, auf der Bühne natürlich, aber Comödiant in der Gesellschaft, immer eine Rolle spielen wollte und jeden Tonfall, jede Be wegung berechnete. Talma empfing mit liebenswürdiger An muth und ohne eitle Bescheidenheit die ihm gespendeten Lob sprüche; alsbald schien er sie aber bestreiten zu wollen, indem er nicht davon sprach, was er erreicht, sondern was er zu erreichen beabsichtigt hatte. Er erörterte die dem Gelingen hinderlichen Umstände und offenbarte so die Geheimnisse seiner Kunst, seines Studiums. Zu der Zeit, von welcher Regnier als Augenzeuge erzählt, genoß Talma ausnahmslos die unbedingteste Hochachtung seiner Collegen. Es war nicht immer so gewesen. Am Anfange seiner Laufbahn, beim Ausbruche der Revolution, hatten politische Leidenschaften und Discussionen eine feindselige Spannung zwischen ihm und den meisten seiner Collegen hervorgebracht. Nach der Schreckens zeit, welche ja Alle mit denselben Gefahren bedroht hatte, stiftete man allerdings eine Art Versöhnung; aber ein Nach gefühl von Bitterkeit und Mißtrauen war doch zurückgeblieben. Künstlerneid hatte nichts damit zu schaffen; Talma war von

Anbeginn ohne Hindernisse seinen ruhmvollen Weg gegangen und keinem eifersüchtigen Rivalen begegnet. Die einzige Schwierigkeit, die er zu bekämpfen gehabt, war die Abneigung seiner Eltern vor dem Schauspielerstande. Aber seine außerordentliche Begabung ließ sich nicht lange unter jochen. Ein angesehener Arzt, der Vater Eugène Sue’s, welcher Talma’s Stubengenosse war, als dieser medicinische Studien trieb und Zahnarzt werden sollte, schilderte dieses Zusammenleben als unerträglich, weil Talma ganze Nächte hindurch Verse declamirte. Im Jahre 1787 debütirt Talma in der Comédie Française, wird sofort engagirt und schafft noch im selben Jahre die Rolle Karl’s IX., welche seinen Ruf begründet hat. Aber der schnell erworbene Künstlerruhm will seinem ungeduldigen Ergeiz nicht genügen; er mischt sich eifrig in die politischen Kämpfe, denen er besser fern geblieben wäre. Seit der Revolution verkehrt Talma freund schaftlich mit den Männern der vorgeschrittensten Partei und sucht jede Gelegenheit auf, sich an revolutionären Kund gebungen zu betheiligen. Unbedacht läßt er sich zu mancherlei Schritten, auch vor dem Publicum, hinreißen, welche das Interesse seines Theaters beeinträchtigen. Die Conflicte häufen sich. Müde der stummen Feindseligkeit, von der er sich umgeben fühlt, entschließt sich Talma, seinen Rechten als Societär der Gesellschaft zu entsagen, und über tritt im Jahre 1791 zu dem neuerrichteten Theater im Palais Royal, das den Titel „Théâtre français de la rue Richelieu“ annahm und das heutige Théâtre Français ist. Mit 27 Jahren heiratet er die 35jährige Julie Car reau, eine durch ihren Geist und ihren Charakter noch mehr als durch ihre Anmuth bezaubernde Frau. Ihr Glück währt nicht lange. Der Flattersinn des ungetreuen Gatten bringt die Frau, die ihn leidenschaftlich liebt, zur Verzweif lung; die Ehe wird nach sechs Jahren getrennt. Im Salon seiner Frau Julie Carreau schließt Talma Freundschaft mit Condorcet, Vergniaud und den meisten Girondisten. Bald aber haben die Jacobiner die Herrschaft über die Girondisten erlangt, und Marat ist der Erste, welcher einen vernichten den Streich gegen Talma als Patrioten führt. Er gehört nunmehr zu den Verdächtigen, den Reaktionären. Die meisten

seiner Freunde aus der ersten Zeit der Revolution enden auf dem Schaffot; Talma verzehrt sich in quälender Angst und ewiger Unruhe. Da der Wohlfahrtsausschuß Verhaftun gen nur zur Nachtzeit vornahm, legt sich Talma niemals zu Bett, ohne daß irgend ein Kamerad sein Schlafgemach theile. Im Hofe hält er zwei wachsame riesige Hunde. Aber viel besser als das Gebell dieser Köter schützte ihn sein bewundertes Talent. Mit jedem Tag wuchs die Begeisterung des Publicums für ihn. Nur seine Popularität als Künstler hat ihn — ganz wie später den Maler David — vor der Guillotine gerettet. Nach der Schreckenszeit finden wir Talma gründlich geheilt von seiner Passion für Politik. Trotzdem unterhielt er stets Beziehungen zu den hervorragendsten Persönlichkeiten des Staatswesens, insbesondere mit Dem, welcher bald über Alle Herr werden sollte: Napoleon Bonaparte.

Regnier hörte von allen Theater-Habitués oft erzählen, daß Bonaparte sowie Duroc von Talma und Michot zwischen die Coulissen geführt wurden an Abenden, wo der Zudrang des Publicums den freien Eintritt nicht erlaubte. Das er klärt die besondere Freundlichkeit, welche die beiden Schau spieler später vom Kaiser erfuhren. Dieser schenkte Michot ein kleines Landhaus bei Paris; Talma zahlte er seine Schulden und schenkte ihm zu verschiedenen Zeiten bedeutende Summen. Die Thüren der Tuilerien waren stets offen für Talma. Dieser hat aber wiederholt und nachdrücklich der von Chateaubriand verbreiteten Fabel widersprochen, daß Napoleon sich von ihm in würdevoller Haltung und Dra pirung des Königsmantels habe unterrichten lassen. „Er spielte seine Rolle viel zu gut,“ versichert Talma, „als daß er meiner Lectionen bedurft hätte. Im Gegen theil hat Napoleon mir über gewisse Theile meiner Rollen mancherlei Winke gegeben, die ich verwerthete; denn er liebte das Theater und sprach sehr gut darüber.“ Seiner Dankbarkeit gegen Napoleon stets eingedenk und geständig, war Talma dennoch beflissen, sich die Gunst des neuen Königs Ludwig XVIII. zu erwerben. Zu diesem Zweck spielte er die Rolle des Königs in der „Jagdpartie Heinrich’s IV.“, dem Lieblingsstück der Royalisten. Diese Rolle, welche für den Tragöden Talma ein ganz ungewohntes Fach bedeutete,

erregte die höchste Neugierde des Publicums. Er spielte sie einfach, gemüthvoll, vortrefflich. Trotzdem erfuhr dieses Lob manche Einschränkung, manchen Widerspruch. Das geschieht fast immer, wenn ein Künstler sich zum erstenmal in einem neuen, von seinen berühmten Rollen ganz verschiedenen Genre versucht. Er stößt im Publicum und in der Kritik auf eine gewisse Feindseligkeit, ein vorgefaßtes Mißtrauen. Damals gingen die Meinungen überwiegend dahin, daß ein Schauspieler un möglich in zwei verschiedenen Gattungen ausgezeichnet sein könne. Man konnte ihnen entgegnen, daß Garrick dieses Problem thatsächlich gelöst habe. Dennoch findet Regnier dieses Argument nicht entscheidend für die französischen Schauspieler und macht folgende feine Bemerkung: „Unsere französischen Tragödienspieler, sowie die von ihnen interpre tirten Dichter wurzeln in der antiken Kunst, wie man diese im siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert verstand. Sie stellen Halbgötter, Heroen, Könige dar und bewegen sich auf der Bühne mit einer Hoheit und Würde, welche dem feier lichen Styl Corneille’s, Racine’s, Voltaire’s entspricht. Die englischen Schauspieler sind freier, unbefan gener in ihren Manieren; sie sind durch den Text, den sie recitiren, nicht zu pompöser Haltung gezwungen. Shakespeare, der für sie zugleich Molière und Racine ist, gab ihnen Rollen, worin Verse mit Prosa abwechseln und eine gewöhnliche, familiäre Sprache die pathetischesten Scenen unterbricht. Sie haben somit alle eine Hinneigung zur Comödie und sind in letzterer nicht genöthigt, sich wie unsere Tragöden gewaltsam von Gewohnheiten loszureißen, die sie unter dem Königsmantel des Pyrrhus oder der Toga Cinna’s angenommen haben.“ Regnier unterläßt es leider, hier auf eine Analogie im deutschen Theater hinzuweisen. Die Stücke Lessing’s, Goethe’s, Schiller’s haben unseren Darstellern gleichfalls eine freiere Bewegung und größere Vielseitigkeit gegeben und zahlreiche bedeutende Schauspieler gebildet, welche, wie Schröder, Ludwig Devrient, Döring, Seydelmann, Fichtner, Löwe, in der Tragödie und im Lustspiel glänzten. Als GarrickRichard den Dritten und Tags darauf den possenhaften schmutzigen Tabakkrämer Abel Drugger gespielt hatte, schrieb ihm der Maler Hogarth: „Ob Sie von

Straßenschmutz oder von Blut triefen — immer erscheinen Sie wie in Ihrem eigensten Elemente.“ Rollen wie diesen Abel Drugger hätte Talma freilich nicht spielen können, nicht spielen wollen; dagegen sträubte sich seine ganze Natur. Es war ihm unmöglich, eine triviale Person darzustellen. Außerhalb der Tragödie vermochte er aber im Drama und im höheren Lustspiele zu zeigen, welche Macht ein wahrer, natürlicher Darsteller auch ohne die gewaltsamen Mittel des Tragöden auf die Zuschauer ausüben kann. Im Lustspiele hin und wieder angezweifelt, ist Talma’s Meisterschaft un bestritten geblieben in der Tragödie. Mit einer einzigen Ausnahme. Der Kritiker Geoffroy, ein Mann von ebenso viel Geist als parteiischer Befangenheit, war zwölf Jahre unablässig bemüht, Talma’s Vorzüge als Fehler hinzustellen und ihn mit boshaftem Spott zu verfolgen. Wo er Talma nicht schlechtweg tadeln konnte, schilderte er wenigstens, wie unvergleichlich besser Lekain die Rolle gespielt habe. Wahrscheinlich würde uns heute selbst Talma zu pathetisch und declamatorisch scheinen; ohne Zweifel war er jedoch natürlicher, realistischer als sein berühmter Vorgänger Lekain. Er hatte über Letzteren den Vortheil, eine gewaltige sociale Revolution, eine an Tugenden und Verbrechen fruchtbare Periode durchlebt zu haben, welche ihm eine Auswahl werth vollster Modelle bot für sein Studium. Mit seinem leiden schaftlichen Gesichtsausdrucke, seinen abwechselnd furchtbaren und tief melancholischen Accenten war Talma nach Regnier’s Empfindung eine Inspiration Shakespeare’s. Daher die Antipathie Geoffroy’s, welcher alles „Schwarze“ haßte, selbst im Trauerspiele. Talma war der Ausdruck seiner Zeit, einer Zeit, welche Geoffroy verabscheute und unablässig verschrie. Seltsam, daß diese ganz vereinzelte Stimme des Tadels in mitten der allgemeinen lautesten Bewunderung Talma auf das schmerzlichste zu verwunden vermochte. Die Angriffe Geoffroy’s erhielten den äußerst nervösen Künstler in einem beständigen Fieber, das sich bis zu schwerer Erkrankung steigerte. Können wir diese Empfindlichkeit großer Schauspieler gegen die Kritik verstehen? fragt Regnier; und ist es wahr, daß Maler, Poeten, Tondichter darin weniger reizbar sind, als die Schauspieler? Letzteres, meint er, würde man schwerlich be

haupten, wenn die Ateliers und Arbeitszimmer so indiscrete Echos hätten, wie die Coulissen des Theaters. Wir wollen dies nicht untersuchen. Das Entscheidende ist, daß der Schau spieler stets seine eigene Person ins Feld führt. Dichter, Componisten, Maler schaffen nicht unter den Augen der jenigen, die sie kritisiren werden; sie können an ihren Werken daheim mit Muße ändern, nachbessern. Der Schauspieler hingegen muß vom ersten Moment an vor den Blicken von Hunderten schaffen, welche Beifall oder Verurtheilung bereit halten. Kein gesprochenes Wort kann er zurück nehmen, keine Geste, keinen Tonfall verbessern. Er muß vollkommen Herr seiner selbst sein, um so schwieriger Aufgabe zu genügen. Das erklärt die ganz besondere Dispo sition des Bühnenkünstlers, von der Kritik zu leiden. Sie verwundet ihn nicht blos in seiner Eigenliebe, sondern auch in seinem Selbstvertrauen, indem sie ihm mit der nöthigen Kaltblütigkeit auch einen Theil der Mittel raubt, welche ihm, wie er nur zu gut weiß, unentbehrlich sind für seine Wirkung. So befiel denn auch Talma ein unbeschreibliches, bohrendes Mißbehagen, sobald er die boshaften Augen Geoffroy’s auf sich geheftet sah. Der bloße Anblick dieses Menschen ließ ihn Fehler begehen, deren unbarmherzige Verurtheilung er im nächsten Blatt mit Sicherheit zu erwarten hatte. In furchtbarer Aufregung über einen ganz besonders gehässigen Artikel stürzt Talma eines Abends in die Loge, welche Geoffroy seit Jahren unentgeltlich eingeräumt war, und fordert den Kritiker auf, sich zu entfernen. Geoffroy erklärte in seinem Journal, daß er nie mehr ein Wort über Talma schreiben werde, welcher fortan nicht mehr für ihn existire. Trotz dieser feierlichen Erklärung vermochte er aber sein Wort und seine Galle nicht zu halten; er ließ, von Nachsucht über mannt, in einem seiner letzten Feuilletons noch einmal seine Wuth gegen Talma aus, den er als den Verderber der Tra gödie bezeichnete. Die bekannten enthusiastischen Schilderungen Chateaubriand’s und der Staël, welchen auch Regnier beipflichtet, lassen uns das Gegentheil für wahr an nehmen. Ihnen erschien Talma als eine großartige Ver schmelzung von Shakespeare und Racine. (Ein Schlußartikel folgt.)