Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Nr. 10094. Wien, Freitag, den 30. September 1892 Hanslick, Eduard Wilfing, Alexander FWF Der Wissenschaftsfond.
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Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Herausgegeben von Wilfing, Alexander Projektmitarbeiterinnen Bamer, Katharina Pfiel, Anna-Maria Elsner, Daniel Austrian Centre for Digital Humanities and Cultural Heritage Wien 2024

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Maschinenlesbares Transkript der Kritiken von Eduard Hanslick.

Nr. 10094. Wien, Freitag, den 30. September 1892 Hanslick, Eduard Neue Freie Presse Morgenblatt Herausgegeben von Etienne, Michael Friedländer, Max Wien 30.09.1892
font-style:italic; font-weight:bold; Deutsch Transkribus OCR und Lektorat. Transformierung der Daten des Transkribus TEI-Export mit "editions.xsl". Formatierung und Referenzen eingefügt. Letztkorrektur für Zwischenrelease.
Italienische Oper.

Ed. H. So hätten wir denn rasch nach einander die vier allerneuesten italienischen Opern gehört: „Pagliacci“, Il Birichino“, „La Tilda“ und „Mala vita“. Die Com ponisten Leoncavallo, Mugnone, Cilèa und Gior dano — bisher ganz unbekannten Namens — sollen uns das Beste des jungen Italien repräsentiren, wie es sich heute um die aufgehende Sonne Mascagni schaart. Von dieser Sonne haben die Vier unstreitig den stärksten Theil des Lichtes, das sie nun unter verschiedenen Farbenbrechungen wieder ausstrahlen. Der Einfluß Mascagni’s zeigt sich nicht blos in zahlreichen musikalischen Einzelzügen, harmo nischen und rhythmischen Sonderbarkeiten, sondern haupt sächlich in dem autonomen Vorherrschen des dra matischen Accentes. Die Annäherung beginnt natürlich gleich beim Textbuch. Die tragische Dorfgeschichte als Opern genre, so neu und erfolgreich in der „Cavalleria“, reizte unwiderstehlich zur Nachahmung; ihr Einfluß durchdringt mehr oder minder jede der vier neuen Opern. Auch die Pagliacci“ sind eine Dorftragödie von gewaltiger elek trischer Spannung, die sich in zwei Mordthaten aus Liebe und Eifersucht entladet. „Il Birichino“ endet nicht so schauerlich — die unglückliche Familiengeschichte lamentirt sich nämlich zu einem „glücklichen Ausgang“ durch — aber die Exposition, der Selbstmordversuch der Mutter, ist schlimm genug und alles Weitere eitel Familienjammer, wie aus Kotzebue’s weinerlichster Periode. Auf die Bajazzos und den Gassenjungen folgt „La Tilda“, die Straßen sängerin, eine mordlustige und schließlich selbst ge mordete Furie. Den Zug beschließt in „Mala vitadie Dirne Cristina, die in einem Knäuel von Gemeinheit unter dem Druck eigenen und fremden Lasters zusammen bricht. Also, so weit wir nur blicken, Unglück aller Art, Verbrechen, Selbstmord und Todtschlag. Das göttliche Lachen, das einst aus der italienischen Opera buffa über ganz Europa schallte, es ist verstummt, vielleicht für immer verstummt. Nachdem die Oper in Deutschland und Frank reich gesunde Heiterkeit nicht mehr kennt, war unsere letzte

Hoffnung Italien, insbesondere Neapel, diese einst unerschöpf liche Goldgrube musikalischen Witzes und Frohsinnes. Merkwürdigerweise sind die vier jungen Componisten, deren Opern wir eben in Wien gehört, sämmtlich Nea politaner und im Conservatorium von Neapel ge bildet. Einer von ihnen, so dachten wir, wird uns vielleicht mit einer komischen Oper überraschen, schon seiner Vaterstadt zu Ehren, welche zu Ende des vorigen Jahr hunderts gleichzeitig die drei größten Meister der Opera buffa besaß: Piccini, Cimarosa und Paësiello. Von ihnen überging die Herrschaft auf Rossini und Donizetti, welche ganz Europa mit den köstlichsten musi kalischen Possen und Lustspielen versorgten. Seither ist dieses segenspendende Feld so gut wie verödet. Für Bellini’s senti mentale und für Verdi’s eminent pathetische Natur existirte keine Opera buffa. So ist denn seit dem Tode Donizetti’s diese hellste Saite der italienischen Lyra wie abgeschnitten. Wo gibt es noch in dieser allgemeinen Traurigkeit herzhaft lustige komische Opernmusik? Unsere Operetten können wir doch nicht ernst nehmen, dazu sind sie zu wenig komisch.

Vielleicht ist es gerade Mascagni vorbehalten, uns eines Tages mit einer Opera buffa zu überraschen. Im Freund Fritz“ hat er das Komische mit leichter Hand ge streift und genug innere Heiterkeit besessen, um die elsässische Idylle freizuhalten von falscher Tragik. Mascagni’s nächste Oper, „Die Rantzau“, gehört demselben Boden, dem selben Stoffkreise an, ist aber ungleich ernster, stärker und leidenschaftlicher. Der gegenseitige Haß der beiden feindlichen Brüder, die hoffnungslose Liebe ihrer Kinder hüllt die Handlung in ein Düster, durch welches kaum ein heiterer Lichtstrahl den Weg findet. Ich hatte jüngst das Vergnügen, die ganze Oper kennen zu lernen. Mascagni hat sie einem kleinen Kreis von Freunden von Anfang bis zu Ende auf dem Clavier vorgespielt und vorgesungen, die beiden (bereits gestochenen) ersten Acte aus Noten, die beiden letzten ganz auswendig, ohne auch nur bei einem Wort, einem Ton zu stocken. Er sang sich mit seiner jugendlich kreischenden Componistenstimme in solches Feuer hinein, daß er die Ströme von Schweiß kaum bemerkte, die über sein Gesicht flossen. Hatte das Clavier ein oder zwei Tacte Pausen, so agirte Mascagni zu seinem Gesang wie auf der Bühne.

Wer mit solchem Enthusiasmus seine Oper in Einem großen Zuge vorsingt, ohne die Hörer mit Erläuterungen oder Nebendingen aufzuhalten, der lebt voll und glücklich in seiner Kunst, der ist kein Grübler — diesen individuellen Eindruck nahm ich mit fort aus dieser merkwürdigen Production. Die Wiener sollen „Die Rantzau“ im Monate Februar unter Jahn’s Direction zu hören bekommen; sie dürfen auf sehr Interessantes gefaßt sein. Mehr aus der Schule zu schwatzen, scheint mir nicht schicklich. Einer ganz anderen poetischen Sphäre gehört eine vierte Oper Mascagni’s an, die auch der Hauptsache nach fertig ist: „William Ratcliff.“ Diese Jugenddichtung Heine’s, ein Nachtstück von verwegenster Romantik, hat den jungen Mascagni schon vor Jahren zur Composition gereizt. „Hier haben Sie das Text buch!“ ruft Mascagni und reicht mir ein in Mailand ge drucktes Buch: „Guglielmo Ratcliff. Tragedia di Enrico Heine; Traduzione di Andrea Maffei.“ Das ist ja kein Operntext, bemerkte ich, sondern eine vollständige, wie mir scheint, sehr getreue metrische Uebersetzung des deutschen Originals. „Ich habe es so componirt, wie es dasteht,“ ver sichert Mascagni. Ein merkwürdiger Fall, den sich Heine gewiß nicht hätte träumen lassen. Mascagni hat nichts hinzu gethan, nichts weggelassen; nur die Eintheilung der (bei Heineeinactigen) Tragödie in vier Acte ist von ihm. Diese Eintheilung macht sich fast von selbst, entsprechend dem viermaligen Scenenwechsel: Schloß des Mac Gregor, Diebs herberge, wilde Gegend am Schwarzenstein, Mac Gregor’s Schloß. Mit Mascagni’s Musik darf die wunderliche Heine’sche Tragödie gewiß auf einen besseren Erfolg hoffen als bei jener Aufführung im Teatro Manzoni, deren A. Maffei in seinem Vorwort recht betrübt gedenkt.

Wir kehren zurück zu den Novitäten im Ausstellungs- Theater. Die Oper „La Tilda“ ist eine Verquickung von modern realistischer Poesie mit der kindischesten Räuber- Romantik der Zwanziger-Jahre. Beispiellos ist gleich die Un wahrscheinlichkeit der Exposition. Die Straßensängerin Tilda sinnt auf Rache an ihrem ungetreuen Liebhaber, der sich mit einem angesehenen Fräulein verlobt hat. Zu diesem Zweck besticht sie einen Gefangenhaus-Aufseher, daß er einen eben zur Hinrichtung abgeführten Räuber entwischen lasse — bei hellichtem Tag, vor allem Volk, mitten in Rom! Nach solchen

Vorgängen dürfen wir uns gar nicht wundern, Tilda alsbald ganz gemüthlich bei den Räubern im Walde installirt zu finden; sie flickt die zerrissene Jacke des edlen Banditen, wofür er ihr zerrissenes Herz mit einer Tarantella-Production be schwichtigt. Der ungetreue Liebhaber Gaston, auf der Hoch zeitsreise begriffen, wird sammt seiner jungen Frau von den Räubern gefangen und herbeigeschleppt. Tilda geht mit dem Dolch auf ihre Rivalin los, wird aber gerührt, als diese zu beten anfängt; sie betet mit und läßt sich dann von ihrem Gaston erstechen. Diese blutig dumme Handlung rückt äußerst schwerfällig vom Fleck; jede Scene wird durch langwierige, meist sentimentale, weich liche Musik hingehalten. In mancher Nummer verräth der Componist, Cilèa, ein hübsches lyrisches Talent und eine musikalisch geübte Hand; so in dem langsamen Vorspiel zum dritten Act, in dem Ave Maria für drei Frauenstimmen u. A. Als die Oper anfängt, langweilig zu werden, kommt zu rechter Zeit ein Tänzerpaar mit einer feurigen Tarantella hereingesprungen, welche das Publicum angenehm erfrischt. Diesmal wurde das Da capo ausnahms weise wirklich verlangt. Auch sonst gab es in der „Tildaziemlich viel Applaus und Hervorrufe, ohne daß man von einem richtigen Erfolge sprechen könnte. Mit einer hinreißen den Darstellerin wie die Bellincioni in der Titelrolle hätte die Oper allerdings ein ganz anderes Gesicht bekommen. Signora Torresella, die personificirte Milde und Mäßigung, ist nicht dazu geschaffen, uns die rasende Leiden schaft dieser Tilda glaublich zu machen.

Ein viel lebhafteres Interesse hat die dreiactige Oper Giordano’s „Mala vita“ gefunden. Sie wirkte schon durch den prickelnden Haut-goût ihres gewagten Stoffes. Man hat von der Oper bisher das Verfänglichste und Schmutzigste des Alltagslebens mit Recht ferngehalten, denn die Musik bleibt immer ein ideales Reich, in welchem selbst die stärksten Leidenschaften eine gewisse Grenze gegen das Gemeine einhalten müssen. In den wenigen existirenden Demimonde-Opern, wie „Traviata“, suchte man die an stößigen Personen mindestens durch das malerische Costüm einer früheren Zeit in etwas idealere Umgebung zu rücken. Die Traviata tritt in reichem Brillantschmuck auf und credenzt ihrer noblen Gesellschaft Champagner. In „Mala

vita“ sehen wir die Traviata, welche hier Cristina heißt, im Hauskleide Wasser vom Brunnen holen. Moralisch gelten sie Beide ganz gleich, aber ihr ästheti sches Milieu ist ein Anderes. Der Alfredo unserer Cristina ist ein ganz gemeiner junger Färber, Namens Vito, welcher Blut hustet. Das kommt, wie uns mit großer Aufrichtigkeit in der Introduction erzählt wird, von seiner Liederlichkeit und diese wieder von seinem Liebesverhältnisse mit einer koketten verheirateten Frau Amalia. Herrn Vito wird angst und bang vorm Sterben; er gelobt vor einem Madonnenbild (das auf der Bühne durch eine lächerliche leere Nische vertreten ist), die nächstbeste Dirne zu heiraten, damit sie tugendhaft und er wieder gesund werde. Er sieht Cristina am Brunnen und macht der Ueberglücklichen einen Heiratsantrag. Lange soll ihr Glück nicht dauern. Das arme Ding wird erst von Madame Amalia gereizt, verhöhnt und beleidigt, dann von Vito, der wieder in die alten Liebesnetze gefallen ist, schnöde ver lassen. Verzweifelt sinkt sie an der Thür des Hauses zusammen, aus dem sie anfangs herausgekommen. Damit endet die Oper, in welcher sich noch der nichtsnutzige Gatte der Amalia mit einigen Saufbrüdern breit macht, damit das Ganze hübsch auf dem Niveau der ordinärsten Liederlichkeit bleibe. Die „Mala vita“ ist in ihrer dem Leben abgelauschten unbarmherzigen Wahrheit spannend und ab stoßend zugleich, wie ja die meisten dieser realistischen Stücke.

Die Musik des Maëstro Giordano wirkt durch derb zutreffenden starken Situations-Ausdruck, auch hie und da durch eine zartere Stelle, wie z. B. das erste Auftreten Cristina’s. Der dramatische Geist ist bedeutender an ihm, als die musikalische Erfindung, das Temperament stärker, als die Kunst. Die „Mala vita“ besteht fast aus lauter klei nen Stückchen Musik von verschiedenen Hitzegraden. Selbst ständig geformte, aus sich selbst sich musikalisch entwickelnde Gedankenreihen vermissen wir hier, wo die Musik nur als gehorsamer, ja übereifriger Diener des Dialogs auftritt. Für einige Chöre und Strophenlieder hat der Componist neapolitanische Volksweisen benützt und dadurch frisches Blut in sein Werk geleitet. Freilich ohne musikalische Blutvergiftung geht das bei der modernen Schule nicht ab. Was für schauerlich mißlingende Bässe sind nicht

dem Volkslied zu Anfang des dritten Actes unterlegt! („Va porta a lei.“ Das Trinklied Antiello’s im zweiten Act („Le moglie“) bringt durch viele Tacte, obendrein in mäßigem Tempo, einen G-dur-Satz, in welchem regelmäßig die Quarte Cis statt C gesungen wird; Vito singt in der ersten Scene („O Gesù mio“) eine langsame Me lodie in F-dur auf den consequent im Orchester festgehaltenen D-moll-Dreiklang; wenn auf den guten Tact theil das accentuirte C der Melodie mit dem Grundton D des Basses zusammentrifft, macht sich das besonders gut. Wenn der Componist solche haarsträubende Dissonanzen für einen Ausnahmsfall dramatischer Charakteristik verwendet, dann läßt sich etwa darüber sprechen. Allein bei unseren modernen Italienern werden derlei Dissonanzen und Modu lationen ohne solche Motivirung, als etwas an und für sich Häßliches und durch diese bewußte Häßlichkeit Interessantes und Neues hingestellt, das uns als genial imponiren soll. Es würde uns, offen gestanden, viel mehr imponiren, wenn einer dieser jüngsten Maëstri uns mit einer edlen Gesangsmelodie von dem langen Athem der „Casta Diva“ überraschte. Allein unsere italienischen Componisten scheinen sich der musikali schen Tradition ihres Landes zu schämen und suchen das Geheimniß dramatischer Wirkung nur im einseitig Charak teristischen, Zerrissenen und Dissonirenden. Wenn Bizet in Carmen“ dergleichen Kühnheiten vorbringt, so stehen diese doch in tiefem Zusammenhange mit den harmonischen Grund gesetzen und beleidigen nicht als etwas schlechthin Willkür liches. Wie durchaus neu und doch zugleich schön klingt es, wenn Verdi am Schluß von Rhadames’ B-dur-Romanze die Tonart G-dur berührt! Die harmonischen und modula torischen Kühnheiten der Mascagni-Schule beklagen wir nicht etwa, weil sie gegen Verbote der Harmonielehre sündigen — weit gefehlt! Die alte Harmonielehre konnte Dinge nicht verbieten, auf die man überhaupt nicht gefaßt war. Nun sind diese harmonischen Kunststückchen (die Mischung von Dur und Moll in derselben Melodie, der vertiefte Leitton u. s. w.) überdies sehr leicht zu machen, sie scheinen bereits recht billig zu sein, und in kurzer Zeit wird man sie satt haben. Es ist ein unheilvoller Irrthum der neuesten Componisten, auf diese geistreichen Nebendinge das größte Gewicht zu legen; die entscheidende und nachhaltige Wirkung einer Oper

wird immer in der Melodie liegen. Die Strömung des Zeitgeistes nach der Richtung des einseitig Dramatischen hat nun auch die Italiener erfaßt, das auserwählte Volk der Melodie. Es wäre nutzlos, sich — schaffend oder kritisirend — dieser Strömung entgegenzustellen. Sie wird sich wahr scheinlich noch steigern und dann einer entgegengesetzten Platz machen. Schon Vieles in der Musik hat sich als eine Mode erwiesen, was eine zeitlang für ein Dogma gehalten wurde.

Ein abschließendes Urtheil steht uns über keinen der vier genannten jungen Componisten zu, da wir Jeden von ihnen nur aus einem einzigen Werke kennen. Sie Alle sind jugendlich vordringende begabte Anfänger, die sich erst zu einer festen, bestimmten Physiognomie herausarbeiten wer den. Eine von den Anderen scharf abstechende Individualität konnten wir zur Stunde noch an Keinem von ihnen wahrnehmen. Im Gegensatze zu der Goethe-Schiller’schen Sentenz: „Kei ner sei gleich dem Andern, doch gleich sei Jeder dem Höch sten“, gilt für Jung-Italien eher der Wahlspruch: „Keiner sei gleich dem Höchsten, doch gleich sei Jeder dem Andern!“ Jedenfalls verdanken wir der Ausstellung die Bekanntschaft von vier talentvollen jungen Operncomponisten, deren wei tere Entwicklung wir mit Theilnahme verfolgen wer den. Für die deutsche Bühne dürften sich höchstens die „Pagliacci“ von Leoncavallo eignen. Dem Talent nach steht Giordano mit seiner „Mala vita“ zunächst. Diese Oper jedoch wird schon des Textbuchs wegen in Deutschland verschlossene Thüren finden. Und dann: wo gibt es für die Rolle der Cristina in Deutschland eine Dar stellerin wie Gemma Bellincioni? Sie hat eigentlich nur drei Scenen in der ganzen Oper: die erste Begegnung mit Vito am Brunnen, das Gespräch mit Amalia und die kurze Schlußscene. Es wäre schwer zu sagen, in welcher von diesen Scenen die Bellincioni mehr Geist, mehr Empfindung, mehr überwältigende Wahrheit offenbart. Ich bekenne, Vollendeteres nicht gesehen zu haben. Wenn Herr Giordano beim Componiren seiner „Mala vita“ die Cristina so vor sich gesehen und gehört hat, wie die Bellincioni sie ver körpert, dann ist er ein echter Dichter, Musiker und Maler in einer Person.