Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Nr. 10178. Wien, Freitag, den 23. December 1892 Hanslick, Eduard Wilfing, Alexander FWF Der Wissenschaftsfond.
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Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Herausgegeben von Wilfing, Alexander Projektmitarbeiterinnen Bamer, Katharina Pfiel, Anna-Maria Elsner, Daniel Austrian Centre for Digital Humanities and Cultural Heritage Wien 2024

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Maschinenlesbares Transkript der Kritiken von Eduard Hanslick.

Nr. 10178. Wien, Freitag, den 23. December 1892 Hanslick, Eduard Neue Freie Presse Morgenblatt Herausgegeben von Etienne, Michael Friedländer, Max Wien 23.12.1892
font-style:italic; font-weight:bold; Deutsch Transkribus OCR und Lektorat. Transformierung der Daten des Transkribus TEI-Export mit "editions.xsl". Formatierung und Referenzen eingefügt. Letztkorrektur für Zwischenrelease.
Concerte.

Ed. H. Mit gespannter Aufmerksamkeit und warmer Theilnahme hat man jüngst das Verdi’sche Requiem wieder gehört. Trotz mancher schwächeren, trockenen Stellen ist es doch eine von Wohllaut getränkte, in klare musikalische Form gefaßte Tondichtung, die selbst in ihrem dramatisch bewegtesten Theile, dem Dies irae, nicht verletzend aus Styl und Zu sammenhang fällt. Ein seltsames Gegenstück zu dieser Frucht Italiens brachten uns bald darauf die Philharmoniker in einer ur- und neudeutschen Symphonie von Bruckner. Sie ist die achte in der Reihe und seinen früheren in Form und Stimmung sehr ähnlich. Diese neueste hat mich, wie Alles, was ich von Bruckner’schen Symphonien kenne, in Einzelheiten interessirt, als Ganzes befremdet, ja abgestoßen. Die Eigenart dieser Werke besteht, um es mit Einem Worte zu bezeichnen, in der Uebertragung von Wagner’s drama tischem Styl auf die Symphonie. Bruckner verfällt nicht nur alle Augenblicke in specifisch Wagner’sche Wendungen, Effecte, Reminiscenzen — er scheint sogar gewisse Wagner’sche Stücke als Vorbild für seinen symphonischen Aufbau vor Augen zu haben. So namentlich das Vorspiel zu „Tristan und Isolde“. Bruckner setzt mit einem kurzen chromatischen Motiv ein und wiederholt es auf immer höherer Tonstufe ins Endlose, bringt es vergrößert, verkleinert, in Gegenbewegung, so lange, bis wir von diesem monotonen Jammer trostlos niedergedrückt sind. Neben diesen hinauflamentirenden Rosalien oder „Schusterflecken“ sind es die hinablamentirenden (nach dem Recept in der „Tannhäuser“-Ouvertüre), welche Bruckner mit beharrlicher Vorliebe pflegt. Wagner’schen Orchester-Effecten, wie das Tremolo der getheilten Violinen in höchster Lage, Harfen-Arpeggien über dumpfen Posaunen- Accorden, dazu noch die neueste Errungenschaft der Siegfried- Tuben, begegnen wir auf Schritt und Tritt. Charakteristisch auch für Bruckner’s neueste C-moll-Symphonie ist das un vermittelte Nebeneinander von trockener contrapunktischer

Schulweisheit und maßloser Exaltation. So zwischen Trunken heit und Oede hin und her geschleudert, gelangen wir zu keinem sicheren Eindruck, zu keinem künstlerischen Behagen. Alles fließt unübersichtlich, ordnungslos, gewaltsam in Eine grausame Länge zusammen. Jeder der vier Sätze, am häufigsten der erste und dritte, reizt durch irgend einen inter essanten Zug, ein geniales Aufleuchten — wenn nur daneben alles Uebrige nicht wäre! Es ist nicht unmöglich, daß diesem traumverwirrten Katzenjammerstyl die Zukunft gehört — eine Zukunft, die wir nicht darum beneiden. Vorläufig aber wüßten wir gerne die Symphonie- und Kammermusik rein gehalten von einem Styl, der nur als illustrirendes Mittel für bestimmte dramatische Situationen relative Berechtigung hat. Von der außerordentlichen „Tiefe“ der Bruckner’schen C-moll-Symphonie liefen schon vorher so aufregende Gerüchte, daß ich nicht unterließ, mich durch das Studium der Partitur und den Besuch der Generalprobe gehörig vorzubereiten. Gestehen muß ich dennoch, daß das Mysterium dieser welt umfassenden Composition sich mir erst entschleierte, als das Verständniß mir in Gestalt eines erklärenden Programmes in die Hand gedrückt ward. Der Verfasser desselben ist nicht genannt, doch errathen wir leicht den Schalk, der seinem Herrn am wenigsten verhaßt ist. Durch ihn erfahren wir denn, daß das verdrießlich aufbrummende Hauptmotiv des ersten Satzes „die Gestalt des aischyläischen Prometheus“ sei! Eine besonders langweilige Partie dieses Satzes erhält den verschönernden Namen: „Ungeheuerste Einsamkeit und Stille“. Unmittelbar neben dem „aischyläischen Prometheussteht — „der deutsche Michel“. Wenn ein Kritiker diese Blasphemie ausgesprochen hätte, er würde wahrschein lich von den Bruckner-Jüngern gesteinigt. Aber der Componist selbst hat dem Scherzo den Namen des deutschen Michel beigelegt, wie Schwarz auf Weiß in dem Programm zu lesen. Nun der Erklärer diese authentische Parole hat, ist er nicht verlegen und findet in dem Michel- Scherzo „die Thaten und Leiden des Prometheus parodistisch auf ein geringstes Maß reducirt“. Um so er habener ist alles Folgende. Im Adagio bekommen wir nichts Geringeres zu schauen, als „den alliebenden Vater der

Menschheit in seiner ganzen unermeßlichen Gnadenfüllen“! Da das Adagio genau achtundzwanzig Minuten dauert, also ungefähr so lang wie eine ganze Beethoven’sche Symphonie, so wird uns für diesen seltenen Anblick gehörig Zeit ge lassen. Das Finale endlich, das uns mit seinen barocken Themen, seinem confusen Aufbau und unmenschlichen Ge töse nur als ein Muster von Geschmacklosigkeit erschien, ist laut Programm: „der Heroismus im Dienste des Gött lichen“! Die darin herumschmetternden Trompetensignale sind „Verkünder der ewigen Heilswahrheit, Herolde der Gottesidee“. Der kindische Hymnenton dieses Programms charakterisirt unsere Bruckner-Gemeinde, welche bekanntlich aus den Wagnerianern und einigen Hinzukömmlingen besteht, denen Wagner schon zu einfach und selbstverständlich ist. Man sieht, wie der Wagnerismus nicht nur musikalisch, sondern auch literarisch Schule macht. Und die Aufnahme der neuen Symphonie? Tobender Jubel, Wehen mit den Sacktüchern aus dem Stehparterre, unzählige Hervorrufe, Lor beerkränze u. s. w. Für Bruckner war das Concert jedenfalls ein Triumph. Ob Herr Hanns Richter auch seinen Abon nenten einen Gefallen damit erwiesen habe, ein ganzes Phil harmonisches Concert ausschließlich der Bruckner’schen Sym phonie zu widmen, ist zu bezweifeln. Dieses Programm scheint doch nur einer geräuschvollen Minorität zuliebe ge macht worden zu sein. Irren wir, so ist die Gegenprobe leicht zu machen: man gebe die Bruckner’sche Symphonie in einem Extraconcert, außer dem Abonnement. Damit wird allen Parteien geholfen sein, nur schwerlich den Phil harmonikern.

In dem eben veröffentlichten Nachlasse Gottfried Keller’s finden wir die Beschreibung eines Männergesang festes und dabei folgende hübsche Bemerkung: „Bekanntlich gibt es jetzt selten einen Liedercomponisten, der einen trivia len, gehaltlosen Text wählt, während eher das Gegentheil vorkommt und manch mittelmäßiger Zeisig zu finden ist, dem die Texte nicht tiefsinnig und pikant und zugleich wohl lautend genug sein können.“ Auch in den Concerten unseres Wiener Männergesang-Vereins“ spiegelt sich das immer bewußter aufkommende Streben, den Stoffkreis der

Männerchöre möglichst zu erweitern, seine Aufgaben zu ver tiefen und zu erschweren. So lobenswerth diese Absicht, so gefährlich wird ihre Ausführung manchem allzu kühnen Componisten. Der Erfolg auch des letzten Concertes bewies, daß die einfach lyrischen, besonders die ans Volkslied anklingenden Chöre immer den aufrichtigsten Bei fall finden. Daran ist nicht etwa „schlechter Geschmack“ des Publicums schuld, sondern die Natur des vierstimmigen Männergesanges, dessen engbegrenzter Stimmumfang und geringer Farbenreichthum ihn auf knappe übersichtliche For men und einfache Stoffe hinweist. In der That haben letzt hin die beiden anspruchslosesten Stücke den größten Anklang gefunden: ein amerikanisches Volkslied „Der Alten Heim“, dessen Bariton-Solo Herr Hell mit Empfindung vortrug, und Engelsberg’s bekannter Chor „Im Maien“. In der Wahl ihrer Liedertexte zeigten diesmal alle Componisten einen auffallend guten Geschmack; es figurirten auf dem ganzen Programme nur folgende Dichternamen: Mathisson, Rückert, Geibel, Scheffel, Julius Wolff, Rodenberg, Gott fried Keller. Mit der Composition des Keller’schen Gedichts Schlafwandel“ für Männerchor hat sich Friedrich Hegar eine um so schwierigere Aufgabe gestellt, als er auf die stützende und malende Hilfe einer Clavier- oder Orchester begleitung verzichtet. In dieser Beschränkung vermag die Musik dem langen erzählenden Gedichte kaum ganz gerecht zu werden. Fein anschmiegend, maßvoll und musikalisch interessant bleibt der Componist die ersten vier Strophen hindurch; an der jähen Wendung der Schlußstrophe scheitert er. Der fast komisch wirkende Aufschrei: „Ein Schuß!“ und die ihm folgenden, bis zur Unverständlichkeit überhetzten Zeilen sind von üblem Eindruck. Derselbe wird nur theilweise dadurch gemildert, daß der Componist, freilich gegen die Absicht des Dichters, eine frühere Strophe wiederholt, also die Soldaten, kaum erwacht, schnell wieder einschlafen und weiterträumen läßt. Immerhin zeigt sich Hegar in dem Stücke als technischer Meister und Mann von Geist. Eine Motette für Doppelchor (op. 93) von Schumann erfüllte nicht die hohen Erwartungen, welche sich an diesen Namen knüpfen. In den ersten Strophen („Verzweifle nicht“) durch

dringt die Musik noch warm und innig das schöne Rückert’sche Gedicht; je länger aber die ungebührlich aus gedehnte Composition sich fortspinnt, desto mehr machen Erfindung und Innigkeit einem trockenen Fortsetzen Platz. Die Monotonie eines fast immer gleich stark singenden und von der Orgel stark begleiteten Männerchors wird drückend, insbesondere wo die endlos wiederholten Worte „Harr’ aus im Leid!“ sich zu dichtem harmonischen Gestrüpp verschlingen. An den sehr schwierigen Schumann’schen Doppelcher hat Herr Kremser und sein Verein ein gewaltiges Studium ge wendet. Der Name Schumann schwebte noch einmal leise durch den Saal, als Fräulein Lola Beeth das Brahms’sche Lieblingslied aller Sängerinnen: „Meine Lieb’ ist grün“, vortrug; das Gedicht ist nämlich von Schu mann’s Sohn Felix, dem zu Ehren Brahms es verewigt hat. Neben den Liedervorträgen von Fräulein Beeth fanden auch zwei virtuos gespielte Violin-Soli des Herrn Lewinger verdienten Beifall.

Einige Concerte im Bösendorfer-Saale verdienen noch Erwähnung. Der Pianist Herr Karl Prochaska, den wir schon vor zwei Jahren rühmend genannt, hat neuerdings gezeigt, daß er sein Instrument zu behandeln und zu be herrschen versteht. Sein Spiel ist klangschön, deutlich und temperamentvoll. Sein Programm war das eines ernsten Musikers: zwei Präludien und Fugen von Bach, die Phan tasie op. 77 von Beethoven, eine Schubert’sche Sonate, zwei Balladen von Brahms, drei Clavierstücke von Dvořak. Schließlich spielte er noch Stücke von Liszt und Rubinstein, um zu zeigen, daß er das Virtuosenhandwerk auch los hat. Prochaska’s Spiel berücksichtigt echt musikalisch mehr den Inhalt der Composition als dasjenige, was äußeren Effect machen kann, und er hat mehr Beifall gefunden, als man bei dieser Richtung gewöhnlich erwarten darf. ... In dem Concert der jungen Violin-Virtuosin Bianca Panteo waren alle Geiger und Geigerinnen Wiens zu sehen, außerdem viele auf anderem Gebiete anerkannte Künstler; ein sicheres Zeichen, daß man Außergewöhnliches erwartete. In ihrem Benehmen noch ganz kindlich, ist Bianca Panteo doch bereits eine glänzende und dabei sympathische Erscheinung in der moder

nen Virtuosenwelt. Mit ihrer mühelosen brillanten Tech nik und ihrem feurigen Temperament macht sie einen über raschenden Eindruck. Was Mark und Größe des Tones betrifft, steht sie unter ihren Colleginnen einzig da. In einigen Jahren, wenn ihr Empfinden sich geklärt und be reichert hat und das Kind zur reifen Künstlerin gediehen ist, dürfte sie einen Platz neben den Ersten ihres Faches ein nehmen. Fräulein Nina Pollatschek, eine anmuthige Schülerin unserer Dustmann, sang mit wohlklingender Stimme und hübscher Technik die große Arie der Rose Friquet und einige Lieder. ... Fräulein Adele Mandlick, die wir dem Leser nicht erst als tüchtige Pianistin vorzu stellen brauchen, hatte die lobenswerthe Idee, zwei Clavier- Quintette in ihr jüngstes Programm aufzunehmen: das in F-moll (op. 34) von Brahms und ein neues in F-dur von Rückauf, das wir allen Quartettvereinen als ein interessantes und dankbares Stück empfehlen können. Großen Beifall fanden die ausgezeichneten Liedervor träge der Berliner Concertsängerin Fräulein Adelina Herms. ... Mit besonderer Wärme wurde eine graziöse Clavierspielerin begrüßt, die wir öffentlich zu hören kaum mehr erwartet hätten: Fräulein Olga Segel, die jetzt als Frau Walter sich ein schönes, sorgloses Heim gegründet hat. Ihr Erfolg war ein wohlverdienter. In dem Vortrag des herrlichen G-moll-Quintetts von Brahms, noch mehr in den ihrem feinen, nervösen Naturell besonders zu sagenden Chopin’schen Stücken hat Frau Segel-Walter be wiesen, daß sie seit ihrer Verheiratung viel gelernt und nichts vergessen hat. Ihr Concert gab sie zum Besten der Poliklinik. Mitwirkende waren das Winkler’sche Quartett, der Hof opernsänger Herr Ritter und eine junge Altistin, Fräulein v. Jung, welche, im Besitz eines schönen Rohmaterials und eines weniger schönen Rohvortrages, noch längere Zeit fleißigen Studiums brauchen wird, um die ihr so reichlich zugetragenen Blumenspenden wirklich zu verdienen. „Sie muß wol eine große Künstlerin sein — oder viel Freunde haben,“ so ungefähr könnte man die Auskunft Rocco’s über Florestan für gewisse Concert- und Theater-Erfolge umkehren.