Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Nr. 10223. Wien, Dienstag, den 7. Februar 1893 Hanslick, Eduard Wilfing, Alexander FWF Der Wissenschaftsfond.
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Maschinenlesbares Transkript der Kritiken von Eduard Hanslick.

Nr. 10223. Wien, Dienstag, den 7. Februar 1893 Hanslick, Eduard Neue Freie Presse Morgenblatt Herausgegeben von Etienne, Michael Friedländer, Max Wien 07.02.1893
font-style:italic; font-weight:bold; Deutsch Transkribus OCR und Lektorat. Transformierung der Daten des Transkribus TEI-Export mit "editions.xsl". Formatierung und Referenzen eingefügt. Letztkorrektur für Zwischenrelease.
Concerte. (Philharmonisches Concert. Hugo Becker. Thomson. Adelina Herms. Amalie Joachim. Drittes Gesellschaftsconcert.)

Ed. H. „Aus Böhmens Hain und Flur“ nennt Smetana die vierte von sechs symphonischen Dichtungen, welche, unter einander ganz unabhängig, durch den Gesammt- Titel „Mein Vaterland“ eine nationale Beziehung erhalten. Es ist somit kein „Bruchstück“, was Hanns Richter im letzten Concert aufgeführt hat, kein aus dem „Ganzen“ herausgerissener einzelner „Satz“, wie ein hiesiges Blatt in vorwerfender Absicht gegen die Philharmoniker behauptet. Diese sechs symphonischen Dichtungen — ungefähr von dem Bau und Umfang der Liszt’schen — hängen mit einander ebensowenig zusammen, wie etwa die vier Novellen, die Paul Heyse unter dem Haupttitel „Buch der Freundschaft“ ver einigt hat. Smetana’s „Hain und Flur“ fesselt uns durch Ursprünglichkeit der Empfindung und echt nationales Colorit; letzteres gehoben von ungewöhnlichem, nur allzu brennendem Glanz der Instrumentirung. Mit seinem Titel können wir das Stück freilich nicht recht in Einklang bringen. Wir stellen uns doch vor, „in Wald und Flur“ eine trauliche Idylle zu erleben, ein sinniges, auch fröhliches Versenken in die Natur, nicht aber eine bei türkischer Musik gestrampfte Polka. Auf dem Titelkupfer der Partitur erblicken wir einen schalmeiblasenden Hirten, dem zwei junge Rehe furchtlos lauschen. Wie würden sie davonrennen bei dem Trompetengeschmetter dieser Hain- und Flurmusik! Das Stück beginnt fortissimo mit einer sehr lang fortgesetzten monotonen Terzenfigur aller Geigen und Holzbläser in G-moll, von vier zu vier Tacten markirt durch Paukenwirbel und Triangelschläge. In die sich allmälig lichtende Begleitungs figur mischen dann Oboë und Fagott eine zarte Volksmelodie; das Alles sehr hübsch und eigenartig. Urplötzlich setzt aber die erste Violine mit einem achttactigen Thema ein, das in vierstimmiger Fuge (sogar mit zwei hübschen Engführungen) kunstgemäß ausgeführt wird. Der blasende Hirtenbub hat sich unver sehens in einen gelehrten Organisten verwandelt. Daß dieser Fugensatz pianissimo gespielt und in der Coda durch lange

Trillerketten aufgeschmückt ist, das löst allerdings die der Fugenform anhaftende Steifheit; allein weder zu dem Vorher gehenden, noch zu dem Nachfolgenden will der akademische Excurs recht passen. Dieses Nachfolgende ist nämlich eine urböhmische Polka, die sehr ungenirt in den stillen Hain fällt und gar tanzlustig anzuhören ist. Smetana’s E-moll- Quartett und sein vor zwei Jahren hier aufgeführtes Orchesterstück „Die Moldau“ stehen durch edleren Inhalt und einheitlichere Form entschieden über der „Hain und Flur“-Symphonie. Immerhin war uns letztere eine sehr erfreuliche und durch ihr fast unbändiges Temperament er frischende Erscheinung. Gespielt wurde das Stück unter Hanns Richter’s Leitung ganz außerordentlich. Desgleichen Schu mann’sC-moll-Symphonie, deren mittlere Sätze zu den entzückendsten Eingebungen Schumann’s gehören. Welch un beschreiblicher, ewig junger Zauber webt in diesem Adagio, an dessen schön geschwungenen, weit ausgreifenden Aesten Triller ketten wie Thauperlen glänzen!

Zwischen den beiden Symphonien waren, nicht sehr praktisch, zwei lange Violoncellstücke postirt. Unmäßiger Violoncell-Genuß macht melancholisch und verdrießlich. Saint-SaënsVioloncell-Concert — wir haben es vor Jahren von de Munck gehört — beginnt so sprudelnd und elegant, als hätte es ausnahmsweise gar nicht im Sinn, langweilig zu werden. Und doch besinnt es sich anders und ennuirt uns späterhin ganz ordentlich. Mit all seinen bizarren Wendungen und Absprüngen kann es das rasche Schmelzen des Ideenvorrathes nicht aufhalten. Ruhiger und gesangvoller erhebt Max Bruch seine bekannte Concert klage „Kol nidrai“. Sehr lange Gebete hört man aber nicht einmal gerne gesungen in der Oper, geschweige denn gegeigt auf den tiefen Saiten der Schwermuth, noch in der Recon valescenz nach Saint-SaënsVioloncell-Concert. Diese miß launigen Bemerkungen haben nichts zu schaffen mit Herrn Hugo Becker, welchem für seinen ausgezeichneten Vor trag der beiden genannten Stücke das höchste Lob gebührt. Er hat Viele mit Bruch’s „Versöhnungstag“ versöhnt. Ein Sohn Jean Becker’s, des unvergeßlichen Primgeigers im „Florentiner Quartett“, hat Hugo Becker die musikalische Empfindung, den feinen Geschmack, die solide Virtuosität seines Vaters überkommen und individuell fortgebildet. Der

junge Mann gehört heute schon zu den Allerersten seines Faches, sowol was Schönheit und Fülle des Tones, als was Technik und Vortrag betrifft. Alle diese Vorzüge des Spielers und seines überaus kostbaren Instrumentes konnte Hugo Becker am folgenden Abende in seinem eigenen Concert reichlichst ent falten. Vor Allem in dem „Adagio und Allegro“ von Boccherini, einem altmodischen, aber nicht ungraziösen Concertstück, das von Schwierigkeiten, musikalischen Scherzen und Hexereien aller Art überströmt. Hier führt Becker seinen Bogen mit der Leich tigkeit eines Violinspielers, ein eleganter, unfehlbarer Tausend künstler. So, daß nämlich dem Virtuosen weder Anstrengung noch Unsicherheit anzumerken ist, läßt man sich auch die abenteuerlichsten Bravourstücke gefallen. Becker spielte noch einige glänzende Solostücke und mit Ignaz Brüll die Brahms’sche Violoncell-Sonate op. 99. Unmittelbar auf diese nicht leicht zu fassende, leidenschaftlich wühlende Composition folgten, von Brüll vorgetragen, vier der neuesten Clavierstücke von Brahms. Es sind dies sieben „Phantasien“ (op. 116) und drei „Intermezzi“ (op. 117). Lange hatten die Clavierspieler sich nach etwas Neuem von Brahms gesehnt, der gar nicht mehr willens schien, dieses Gebiet wieder zu betreten. Von seinen im Ganzen nicht zahlreichen Clavier-Compositionen drängt sich das Meiste in Brahms’ erste Periode zu sammen; nach seinen berühmten Händel-Variationen (1862) währte es 18 Jahre, bis wieder zwei Hefte Clavierstücke“ und die „Zwei Rhapsodien“ erschienen. Seither sind wieder zwölf Jahre verflossen. Mit seiner besten Kraft den großen Chor- und Instrumentalformen zugewendet, scheint Brahms gegen die musikalische Kleinkunst gleichgiltig geworden. Wenn es ihn zur Miniatur-Malerei hingezogen hätte, er würde nicht auf das drängende „Baal, erhöre uns!“ der Clavierpriester gewartet haben. Nun werden ihnen doch plötzlich drei Hefte auf einmal bescheert. Die sieben „Phan tasien“ sind kurze Charakterstücke ungefähr in der Form von Schumann’s „Nachtstücke“, „Kreisleriana“ u. dgl., nur ohne Ueberschriften. Aehnlich geartet sind die drei Intermezzi, welche ganz wohl unter die „Phantasien“ gereiht werden könnten. Sämmtliche Stücke klingen entweder wild leidenschaftlich oder schmerzlich resignirt — ein Brevier des Pessimismus. Von den zehn Nummern stehen nur vier in Dur, auch diese bewegen sich langsam, in sanfter Schwermuth. Kein einziges heiteres

oder scherzendes Stück. Fast durchwegs spricht Brahms hier eine herbe, harte Sprache, die im Affect auch zu schneiden den Dissonanzen greift. Eine kraftvolle stolze Natur, die theils schroff, unversöhnt, theils tieftraurig, wie von heim lichem Weh benagt, uns gegenübertritt. Schöne Melodie im engeren, also allgemein giltigen Sinn dürfte wol nur den Intermezzi in E-moll und E-dur Nr. 2 und 6 der „Phan tasien“ nachgerühmt werden. Im großen Publicum dürften diese auf melodiösen Reiz verzichtenden Stücke kaum große Eroberungen machen. Der Musiker möge sich dieselben aber näher besehen. Sie verrathen durch wegs die Klaue des Löwen. Klarer und eindringlicher können sie uns gewiß nicht entgegengebracht werden, als es von Ignaz Brüll geschehen ist. Als Componist und Virtuose hatte Brüll am selben Abend noch einen Doppel erfolg mit seiner Clavier-Suite op. 58. Die vier Sätze der selben (Präludium, Scherzo, Thema mit Variationen, Gavotte) vereinigen gefällige Erfindung mit solider Eleganz des Claviersatzes. Am wenigsten will uns das D-moll-Scherzo zusagen, ein altmodischer Hexentanz in Sechsachtel-Tact, bei dem Niemand das Gruseln lernen wird. Hingegen ist das An dante sehr hübsch variirt, überhaupt die ganze Suite musi kalisch von guter Art und lohnend für den Clavierspieler. Am Abend nach Becker concertirte der belgische Violin-Virtuose César Thomson. Welche Erquickung, nach einander zwei vollkommene Beherrscher ihres Instrumentes zu hören, inmitten so vieler anständiger Mittelmäßigkeiten, die wir zu erdulden haben! Der junge Nachwuchs halb reifer, aber ganz zuversichtlicher Pianisten, Geiger und Sänger, ins besondere weiblichen Geschlechtes, nimmt ja in beängstigender Weise zu. Thomson hat uns schon vor zwei Jahren in Erstaunen gesetzt durch seine unerhörte, fast geheimnißvolle Technik. Im Vortrag namentlich Paganini’scher Compositionen macht er Kunststücke und Kunstgriffe, die mitunter den ge wiegtesten Geigern zu rathen geben. Sein Erfolg war auch diesmal glänzend wie seine Leistungen.

Die Berliner Concertsängerin Fräulein Adelina Herms hat drei „Liederabende“ veranstaltet — ein Beweis für ihre Beliebtheit im Publicum. Ich konnte erst ihr drittes Concert besuchen und eilte um so erwartungsvoller dahin,

als einzelne Kritiken von Bewunderung für die „junge Sängerin“ überflossen und sie sogar in Einem Athem mit Alice Barbi nannten. So hochgespannt konnte meine Er wartung freilich nicht stichhalten. Fräulein Herms ist eine intelligente Sängerin, die ihre Stimme beherrscht und die Worte musterhaft deutlich ausspricht. Sie singt verständig, auch gefühlvoll, aber nicht schön. Ihre Stimme, ein ziemlich umfangreicher Mezzosopran, hat einen hohlen Beiklang und wirkt, da sie nur über wenige Farben-Nuancen verfügt, bald monoton. Fräulein Herms liebt es, anhaltend viel Ton zu geben, wodurch der Uebelstand eines kurzen Athems, welcher oft eine Periode mitten entzweischneiden muß, noch mehr hervortritt. Auch ihre Intonation war in leidenschaftlichen Steigerungen nicht immer rein. Schumann’s Cyklus Frauenliebe und Leben“ verleitet durch seine weichlich schwärmende Sentimentalität und rhythmische Gleich förmigkeit nur allzu sehr zu monotonem Vortrag. Fräulein Herms ist dieser Gefahr nicht entgangen; in mancher gleichförmig stark und pathetisch gesungenen Nummer verfiel sie förmlich ins Lamentiren. Für solche Aufgaben muß man die edle Tonbildung und den fein schattirten Vortrag der Barbi besitzen. Fräulein Herms hat übrigens zwei Lieder aus dem Cyklus unterdrückt: eines der allerschönsten, „Süßer Freund“ — doch nicht aus Prü derie? — und ein zweites, „An meinem Herzen“, um das uns weniger leid ist. Viel besser gelang ihr das Schu bert’sche „Haidenröslein“, weil es zu leichterer Stimm behandlung und zierlichem, nicht leidenschaftlichem Vortrag auffordert. Fräulein Herms hat außerordentlichen Beifall gefunden. Von den beiden mitwirkenden jungen Damen hat die Pianistin mehr befriedigt, als die Violinspielerin. Erstere, Fräulein Wilhelmine Bibl, spielt zart und geläufig, vorderhand noch ohne besondere Individualität. Hingegen suchte Fräulein Hönigswald durch ununterbrochen großen Ton und kecken Strich zu wirken. So gewaltsames Reißen und Scharren möge sie, sammt den dazugehörigen Unrein heiten, lieber gewissen Herren der Schöpfung überlassen, die noch nicht Herren des Violinspiels sind.

Im October vorigen Jahres hat bekanntlich Frau Amalie Joachim im Vortragssaale der Musik- und

Theater-Ausstellung drei Concerte gegeben, welche „das deutsche Lied von seinen Anfängen bis zur heutigen Zeit“ illustriren sollten. Eine Wiederholung dieses Liedercyklus erleben wir jetzt im großen Musikvereinssaale. Der erste Abend (3. Februar) gehörte dem „volksthümlichen Lied“ vom 16. Jahrhundert an bis zu Brahms. Viel Schönes und Merkwürdiges, nur vielleicht zu viel für die Hörer wie für die Sängerin. Frau Joachim absolvirte das ganze Programm allein, ohne fremde Mitwirkung. Einundzwanzig Lieder nach einander, mit nur zwei kurzen Zwischenpausen, vorzutragen, das ist eine geistige und physische Anstrengung, vor welcher selbst jüngere Sängerinnen zurückschrecken würden. Frau Joachim hat diese starke Aufgabe vollkommen bewältigt und sich als Meisterin der Gesangskunst bewährt. Der Besuch ihrer beiden nächsten Liederabende (am 7. und 11. d. M.) ist jedem Musikfreunde zu empfehlen.

Das dritte Gesellschaftsconcert bot ein anziehendes und abwechslungsreiches Programm. Die „Sin fonia“ (Einleitungsmusik) zu Bach’s Cantate „Ich gehe und suche mit Verlangen“ beruht auf einer bei Bach nicht seltenen Umwandlung weltlicher Compositionen zu Kirchen zwecken. Die „Sinfonia“ bildete ursprünglich das Finale eines Clavierconcerts in E-dur; der Claviersatz wurde der Orgel angepaßt und ein Oboë d’amore im Orchester hinzu gefügt. Das Stück wirkt hauptsächlich durch den Rhythmus seiner ununterbrochen fortströmenden Figuration und durch den Wechsel zwischen Orgel und Orchester. Es folgte ein geistliches Stück moderner Herkunft: „Der 46. Psalm“, für Doppelchor und acht Solostimmen von Hanns Kößler. Der Componist, einer der vorzüglichsten Professoren an der Budapester Musik- Akademie, erweist sich in diesem Werke als ein ernster, ge diegener Musiker. Sein Psalm — vom Wiener Tonkünstler verein preisgekrönt — ist von edlem Ausdruck, reiner und sangbarer Stimmführung und schöner Klangwirkung. Wir hätten ihn nur etwas weniger unruhig gewünscht, die Con traste mehr gemildert mit Rücksicht auf die Grundstimmung, welche doch in den Worten: „Gott ist unsere Zuversicht und Stärke“ ein- für allemal gegeben ist. Wenn auch diese Grundstimmung in den Absätzen des Psalms verschiedene Phasen durchlebt, so durfte doch in jedem einzelnen dieser

Absätze mehr Einheitlichkeit herrschen. Ausbrüche wie „Darum fürchten wir uns nicht“ oder „Das Erdreich muß vergehen“ sprengen zu gewaltsam die ruhige Frömmigkeit des Ganzen. Auch dürften einige Kürzungen sich im In teresse des Werkes wie der Sänger empfehlen. Ein so aus gedehntes schwieriges Chorwerk a capella tadellos durchzu führen, ist eine starke Probe. Der Wiener Singverein hat sie unter Gericke’s Leitung tapfer und erfolgreich be standen. Der Componist, Herr Kößler, wurde stürmisch ge rufen. Unter den Solostimmen ist der helle, klangvolle Sopran des Fräuleins Chotek allgemein sehr angenehm aufgefallen. In zweckmäßiger Abwechslung von Vocal- und Instrumentalwerken folgte auf den Psalm das Spohr’sche Violinconcert „in Form einer Gesangsscene“. Die talent volle junge Rosa Hochmann spielte es rein und ge läufig mit noch zartem, aber süßem Ton und warmer Empfindung. Die werthvollste Nummer des Con certes war das „Schicksalslied“ von Brahms. Das Pro gramm bemerkt zwar, daß von allen Chorwerken Brahmsdas Schicksalslied in den Gesellschaftsconcerten am häufigsten aufgeführt wurde, das will aber nicht viel bedeuten. Ist es doch vor zehn Jahren zuletzt gehört und überhaupt seit ein undzwanzig Jahren nur fünfmal gegeben worden, die gestrige Aufführung mit inbegriffen. Nach dem „Deutschen Requiemist das Schicksalslied wol die vollendetste Schöpfung des Meisters. Ihr Inhalt ist auch eine Art „Tod und Verklä rung“ — aber mit wie anderen Mitteln dargestellt, als die so betitelte symphonische Dichtung von Richard Strauß! Während dieser unsere Sinne mit der realistischen Aus malung aller Aeußerlichkeiten beschäftigt und krankhaft reizt, zieht Brahms die großen ewigen Gegensätze in die Tiefen seines Gemüthes und läßt sie in dem wundervollen Orchesternachspiel versöhnt ausklingen. Director Gericke hat über der ernsten Musik auch nicht gänzlich auf die Herrschaft des Carnevals vergessen. Er schloß das Concert mit drei Balletmusikstücken aus Rubinstein’s Oper Feramors“ und „Der Dämon“. Sie gehören zu dem Frischesten, Originellsten, was wir von Rubinstein besitzen, und sind mit ebenso viel Vergnügen gespielt wie aufge kommen worden.