Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Nr. 10272. Wien, Mittwoch, den 29. März 1893 Hanslick, Eduard Wilfing, Alexander FWF Der Wissenschaftsfond.
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Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Herausgegeben von Wilfing, Alexander Projektmitarbeiterinnen Bamer, Katharina Pfiel, Anna-Maria Elsner, Daniel Austrian Centre for Digital Humanities and Cultural Heritage Wien 2024

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Maschinenlesbares Transkript der Kritiken von Eduard Hanslick.

Nr. 10272. Wien, Mittwoch, den 29. März 1893 Hanslick, Eduard Neue Freie Presse Morgenblatt Herausgegeben von Etienne, Michael Friedländer, Max Wien 29.03.1893
font-style:italic; font-weight:bold; Deutsch Transkribus OCR und Lektorat. Transformierung der Daten des Transkribus TEI-Export mit "editions.xsl". Formatierung und Referenzen eingefügt. Letztkorrektur für Zwischenrelease.
Aus meinem Leben. Von Eduard Hanslick. (October 1848.)

Mit freundlicher Zustimmung J. Rodenberg’s entnehmen wir obiges Fragment dem (für das Aprilheft der „Deutschen Rundschau“ bestimmten) zweiten Buche von Hanslick’s Memoiren. Die Redaction. In Wien wurde es allmälig immer schwüler; immer drohender das Wetterleuchten der politischen Atmosphäre. Nach dem kindischen Barricadenbau vom 26. Mai mußte jeder Unbefangene einsehen, daß wir auf einer schiefen Ebene herabrollten. Und wir rollten immer schneller und schneller bis zu dem grausigen 6. October, dem Tage der Ermor dung des Kriegsministers Latour durch einen wüthenden Pöbelhaufen. Auf dem Wege nach meiner Wohnung war ich unwillkürlich von einer fluthenden Menschenmenge mit fortgedrängt worden auf den „Hof“. Da sah ich die Leiche Latour’s, blos mit einem Leintuche bekleidet, an einem Laternenpfahle aufgehenkt, vor der Hauptwache des Kriegs ministeriums, wo unbegreiflicherweise der Officier mit seiner Compagnie unthätig zusah. Der Pöbel hatte die Gasflammen über dem Haupte des Ermordeten angezündet und schrie und johlte um die Leiche herum, setzte sie auch zeitweilig durch einen Stoß in schaukelnde Bewegung. Ich drängte mich, im Innersten schauernd, aus der Menge heraus, welche den ganzen Platz anfüllte, und rannte fast bewußtlos nach Hause. Da zündete ich meine Lampe an und schlug einen Band Goethe auf, um mich rein zu waschen von dem Gesehenen.

Am nächsten Morgen nahm ich in meinem gewöhn lichen Kaffeehause eine Zeitung zur Hand; da war der Mord Latour’s als eine Heldenthat des Volkes gepriesen. Ich konnte einen Ausruf des Abscheus nicht unterdrücken. Da fuhr mich eine Stimme vom Nebentische höhnisch an: „Na, ist vielleicht schad’ um ihn? Ist Ihnen vielleicht gar leid um ihn?“ — „Ja,“ antwortete ich kurz und ging, um jeder weiteren Replik auszuweichen. Böse Worte folgten mir. Mich entsetzte diese moralische Verwilderung des sonst so gutmüthigen Wiener Volkes. Die sittliche Rohheit, die

sich in den Urtheilen der revolutionären Blätter und des aufgehetzten Volkes aussprach, schien mir nicht viel besser, als jene gräßliche Unthat selbst.

Ich suchte mich wieder in mein Studium zu vertiefen, aber es war kaum möglich, der zerstreuenden und auf regenden Gewalt des politischen Sturmwindes zu entgehen. Meine Verwandten und fast alle Beamten hatten längst Wien verlassen. Ich pflegte Abends, im September und October, wo die Sehnsucht nach einer freundschaftlichen An sprache und einer Erinnerung an Kunst und Wissenschaft fast brennend geworden, in einer kleinen Weinstube in der Bäckerstraße mit den Componisten Nottebohm und Franz Jüllich, dem Musikschriftsteller Graf Laurencin und einem in skandinavischer Literatur thätigen Beamten, Karl Oberleithner, mich zusammenzufinden. Diese Weinstube, in welcher wir uns meist ganz ungestört be fanden, hatte Nottebohm entdeckt, der Kenner und Schätzer eines „schönen Weines“. Wir Anderen waren Laien in diesem Fache; insbesondere Laurencin und ich bewiesen es, von Nottebohm verspottet, indem wir nur ein Gläschen süßen Tokaiers oder Rusters tranken. Einige Schnitten Wurst dazu, das war das ganze Gelage.

Gustav Nottebohm, ein Westfale und Protestant, der als angehender Componist sich noch der Unterweisung und Auf munterung Mendelssohn’s zu erfreuen gehabt, war ein tüchtig geschulter Musiker. Sein feines, etwas anlehnendes Talent hat er in einigen Clavierstücken in gewinnendster Weise be wiesen, aber nicht lange cultivirt. Er wendete sich mit Vor liebe bald der theoretischen und geschichtlichen Seite seiner Kunst zu und genoß als Lehrer der Composition, wie als musikalischer Forscher bekanntlich großes Ansehen. Seine Bücher „Beethoviana“, „Mozartiana“, seine thematischen Kataloge der Beethoven’schen und Schubert’schen Werke sind Muster einer gewissenhaften, reinlichen Arbeit. In unserem kleinen Kreise war er der Aelteste und übte eine gewisse Auto rität. Er war ein spröder Hagestolz und Sonderling. Unter einer außerordentlich breiten, zurückfliegenden Stirne blitzten zwei giftig blaue Aeuglein hervor, welche neben der rothen Nase und dem röthlichen Bart noch greller schienen. Er hatte keine gesellschaftlichen „Manieren“, eckige Bewegungen, eine scharf abgehackte, in kurzen Sätzen springende Rede

weise. Ein durchaus ehrenwerther, selbstständiger, in seiner Lebensführung anspruchsloser Mann, war er doch keines wegs ein liebenswürdiger oder bequemer Gesellschafter. Aber ich hielt mich gern zu ihm, da mir der Verkehr mit einem tüchtigen, praktischen Musiker, der mehr Bildung besaß als die meisten seiner Wiener Collegen, werthvoll war, und seine warme Verehrung für Mendelssohn und Schumann, sowie sein Widerwille gegen Liszt’s Compositionen mich sympathisch berührten. In späteren Jahren haben Beschäftigung und Geselligkeit uns weiter von einander entfernt, wie dies leider in großen Städten zu gehen pflegt. Nottebohm ist nach kurzer Krankheit im Jahre 1882 gestorben; ein Verlust für seine Freunde und für die Musikwissenschaft.

Ein Original ganz anderer Art war Graf Ferdi nand Laurencin. Im Gegensatze zu dem verstandes scharfen, kritischen Nottebohm war er der musikalische Enthusiast vom reinsten Wasser. Mir ist nie wieder ein Mensch begegnet, den Musik so vollkommen entzücken und beglücken konnte, der so ausschließlich in Musik webte, lebte und — starb. Er war der Sohn eines Kammerherrn des Cardinals Erzbischofs Rudolph und hat seine erste Jugendzeit am Hofe dieses musikliebenden Fürsten in Olmütz verlebt. Er erinnerte sich noch des vortrefflichen Clavierspieles des Erz herzogs, dem bekanntlich Beethoven Unterricht ertheilt und seine Missa solennis gewidmet hat. Seine musikalischen Stu dien hatte Laurencin bei Tomaschek und bei dem Organisten Pietsch in Prag betrieben. Dann übersiedelte er nach Wien, wo er, mit einer bescheidenen Apanage von seiner Mutter ausgerüstet, hauptsächlich der Musik lebte. Wer kannte ihn nicht, den auffallend kleinen Mann mit dem sehr großen Kopfe und den über die Brille hinausschielenden kurzsich tigen Aeuglein? Wer hat ihn nicht an Sonntag Vormittagen, mit einer dicken Partitur unter dem Arm, durch die Straßen eilen sehen? Laurencin pflegte nämlich, der Musik wegen, zwei Messen nach einander zu hören; er rannte von der Minoriten kirche in die Hofburgcapelle und von da sofort in das Mittagsconcert der Philharmoniker oder der Gesellschaft der Musikfreunde. Um halb 5 Uhr Nachmittags war er in der Quartett-Production Jansa’s oder Hellmesberger’s (welche erst in späteren Jahren auf die Sieben-Uhr-Stunde verlegt wurde) und um 7 Uhr, wenn es eine classische Oper gab,

auf der vierten Galerie des Hofoperntheaters. Er konnte unglaubliche Massen von Musik vertragen mit der gleichen Empfänglichkeit. Selbst die allerbekanntesten Werke, wie Beethoven’s Quartette op. 18, oder Mozart’s G-moll- Symphonie, verfolgte er in jeder Aufführung eifrig mit lesend in der Partitur. Dabei kritzelte er unaufhörlich mit seinem Bleistift Notizen, deren Inhalt ich niemals ent räthseln oder erfahren konnte. Bei jeder schönen Stelle, und deren gab es für Laurencin sehr viele, nickte er vergnügt mit dem Kopfe, that einen Ausruf des Entzückens, schmun zelte, lachte und setzte seinen Bleistift in wüthende Bewe gung. Seine musikalische Empfänglichkeit und Begeisterung kannte keine Grenzlinie. Eine canonische Stimmführung in irgend einer unbedeutenden Schulmeistermesse, eine sentimen tale Modulation von Spohr, der gewaltigste Bach’sche Choral und Beethoven’s Neunte Symphonie — Alles tauchte den beneidenswerthen Mann in die gleiche Fluth von Entzücken. Er hatte in diesem Gebahren ohne Frage etwas Komi sches, aber auch etwas Liebenswürdiges, durch kind liche Naivetät Rührendes. Es versteht sich fast von selbst, daß einer solchen Gewalt fast elementarischen Musikempfindens nicht eine gleiche Stärke ästhetischen Ur theiles zur Seite stand. Laurencin war auch sehr leicht aus seiner ursprünglichen Ansicht zu verdrängen. Wir gingen einmal zusammen zu einer Aufführung von Haydn’s mir damals noch nicht bekannten „Sieben Worten“. Auf dem Wege hin überströmte Laurencin von Bewunderung dieses Werkes und versprach mir Wunderdinge davon. „Nun, was habe ich dir gesagt?“ fragte er freudestrahlend beim Heraus gehen. „Aufrichtig gestanden,“ erwiderte ich, „habe ich mich schrecklich gelangweilt.“ Ich suchte dieses pietätlose Wort nach Möglichkeit zu rechtfertigen und empfing nach einer Weile Laurencin’s zustimmendes Votum: „Ja, du hast Recht, es ist doch eigentlich ein Zopf!“ Laurencin schrieb unter dem Namen Philokales in die Wiener Musikzeitung von August Schmidt und versah sie insbesondere mit Be richten über die Kirchenmusik-Aufführungen. Er hatte einen Artikel über Mendelssohn’s „Elias“ angekündigt, ein Werk, von dessen Schönheit er ganz erfüllt war. Der Gewalt seiner Empfindung entsprach aber leider auch ein in Super lativen überströmender, sich in den längsten Perioden fort

windender Styl. Laurencin hat viel Hegel gelesen, was schwerlich zur Klärung seiner etwas confusen Darstellungs weise beitragen konnte. Da begann er nun mit einer langen philosophischen Untersuchung des Begriffes „Oratorium“, welche mehrere Nummern der Zeitung füllte, dann folgte ein historischer Rückblick, abermals von ansehnlicher Länge, endlich war er bei der Ouvertüre angelangt und kam unter der bedrohlich anwachsenden Ungeduld der Leser und der Redaction nicht vom Fleck mit seiner gründlichen Analyse. Der Aufsatz gelangte ungefähr bis zur Kritik der zweiten oder dritten Nummer des Oratoriums — da riß dem guten August Schmidt die Geduld: er strich das fürchterliche „Fortsetzung folgt“ unbarmherzig von dem Manuscript und versetzte dem bestürzten Grafen den vernichtenden Bescheid: „Jetzt ist’s aus.“ Es ist niemals eine Fortsetzung des groß artigen „Elias“-Artikels erschienen.

Mit einem schüchternen Versuch, Laurencin als Musik referenten vorzuschlagen, bin ich einmal schlecht angekommen. Es war bei Dr. Ignaz Kuranda, dem Herausgeber der Ostdeutschen Post“ und hochverdienten Begründer der Grenzboten“, die als verbotener, gierig verschmauster Lecker bissen eine so wichtige Rolle gespielt haben im vormärzlichen Oesterreich. Wir Wiener wissen, daß der geistvolle Kuranda mitunter recht komisch aussehen konnte. Die illustrirten Witz blätter lebten geraume Zeit von seiner mit drei Linien um rissenen, sofort kenntlichen Caricatur. Wenn das kleine hagere Männchen in Eifer gerieth — und das geschah sehr leicht — dann schien seine berühmte Nase noch weiter vorzuspringen, seine Bewegungen überhasteten sich und seine Stimme überschlug in einen wunderlichen, orientalisch modulirenden Discant. Kuranda ersuchte mich eines Tages, das Musikreferat in der „Ostdeutschen Postzu übernehmen. Das konnte ich nicht, denn ich sollte eben nach Klagenfurt verbannt werden — nicht wie Görgey aus politischen, sondern aus bureaukratischen Gründen. „So schlagen Sie mir jemand Anderen vor!“ Das war damals wirklich nicht leicht; doch äußerte ich nach einigem Nach denken, Laurencin würde vermuthlich gern für die „Ost deutsche Post“ schreiben. „Ja, er wird schreiben, freilich er wird schreiben,“ sprudelte Kuranda, „aber“ — und hier flog seine Stimme in die höchste Octave — „aber wer wird’s

lesen?“ Das klang so schlagend und zugleich so komisch, daß ich vor Lachen nichts entgegnen konnte.

Eine durchaus innerliche musikalische Natur, hatte Laurencin unüberwindlichen Abscheu vor der „verfluchten Politik“ und jeder dahin einschlägigen Discussion. In Momenten der größten politischen Aufregung und Be stürzung, während des Barricadenkampfes und des An marsches Jellacic’ gegen Wien fand ich Laurencin in seiner hochgelegenen Stube emsig vertieft in Hegel’s „Phäno menologie“ oder in die H-moll-Messe von Bach. Er wußte gar nicht, was draußen vorging, wollte es auch nicht wissen. Eine zeitlang prakticirte er beim Landesgerichte und sollte die erste Richteramtsprüfung machen. Da hatte er denn an statt Hegel und Bach das Strafgesetzbuch vor sich liegen. Aber bei seiner philosophischen Gründlichkeit und Umständ lichkeit blieb er immer an dem §. 7 haften, so daß man in jedem Sinne sagen darf, er ist in seiner richterlichen Lauf bahn nicht über den „Versuch“ hinausgekommen. Eine kleine Erbschaft von seiner Mutter machte es ihm später möglich, diesem Berufe, für den er schlechterdings nicht paßte, rasch Adieu zu sagen. Laurencin hatte sich mit einer nicht mehr ganz jungen hochgebildeten Dame verlobt, welche als Gouvernante bei einer gräflichen Familie in Böhmen lebte. Ich ergötzte mich oft daran, ihn Abends im „Juridisch-politischen Leseverein“, diesem wohlthätigen Asyl für uns studirende Junggesellen, emsig schreiben zu sehen, einen dicken Folianten vor sich. „Was schreibst du denn da?“ — „O,“ erwiderte er mit einem glückstrahlenden Lächeln, „an meine göttlichst liebenswür digste Antoinette.“ — „Und so viele Blätter?“ — „Ja, ich schreibe ihr täglich sechzehn bis vierundzwanzig Seiten, und ja kein Wort von der gottverdammten Politik — nur was mein Herz mir dictirt!“ Seine Mutter, „die alte aristokra tische Frau“, wie er oft schmähte, wollte die Heirat nicht zu geben. Später erreichte er doch sein Ziel und ward einer der glücklichsten Ehemänner, die es gegeben hat. Der kleine Laurencin neben seiner ungewöhnlich großen Frau bot freilich einen komischen Anblick, aber seine Ehehälfte (von Ambros „sein Ehe-Siebenachtel“ genannt) wußte ihm das Leben zu glätten und zu verschönern. Es war der härteste Schlag für ihn, als der Tod ihm seine Antoinette raubte, und nie hat er sich völlig von diesem Schlage erholt. Die Musik mußte

ihm nun Alles sein und ward auch thatsächlich sein Alles. Im Jahre 1891 hatte ich noch die Freude, im engsten Freundeskreise den siebzigsten Geburtstag Laurencin’s zu feiern. Durch allerlei Künste hatte ich dieses Datum aus gekundschaftet. Wie erquickte uns seine kindliche Freude, sein dankerfülltes Gemüth! In einem scherzhaften Toast sagte ich, auf seine Hinneigung zur neudeutschen Schule anspielend, Laurencin habe zwar den übermäßigen und den verminderten Dreiklang verherrlicht, aber seine Seele werde dereinst sicher lich in Gestalt eines reinen Dreiklanges zum Himmel auf steigen. Wir ahnten nicht, daß dies so bald geschehen werde. Laurencin hat seinen siebzigsten Geburtstag nur um wenige Wochen überlebt.

Wenn wir in unserem stillen Weinstübchen uns des Abends von Musik unterhielten, so betraf das natürlich nur unsere musikalischen Studien und Erinnerungen. Von lebendiger Musik künstlerischen Gehalts war ja in dem ganzen Revolutionsjahre nichts zu vernehmen. Die Concert säle waren geschlossen, die Oper, die sich mit dem aller nöthigsten Personal und abgespielten Werken behalf, verödet. Dafür hörte man allenthalben das „Fuchslied“, das zu einer Art harmloser Marseillaise der Studenten geworden war, und das lyrische Frag- und Antwortspiel „Was ist des Deutschen Vaterland“. Ein sehr reactionärer hoher Militär- Beamter, in dessen Familie ich viel verkehrte, ärgerte sich täglich einigemale darüber, daß eine Treppe über ihm das Fuchslied“ gespielt wurde; sofort setzte er sich ans Clavier und spielte mit aller Macht die österreichische Volkshymne. Man replicirte oben noch stärker mit „Was kommt dort von der Höh’?“, worauf unten in wüthendem Fortissimo „Gott erhalte unsern Kaiser“ gehämmert wurde. Dieses musikalische Duell zwischen zwei unsichtbaren Gegnern wiederholte sich mehrmals des Tages. Eine recht schöne Unterhaltung.

Das alte harmlose „Fuchslied“ hatten die Wiener aus Benedix Studenten-Lustspiel „Das bemooste Haupt“ kennen gelernt, das allabendlich im Theater an der Wien gegeben wurde. In diesem Stücke kommt auch eine solenne „Katzen musik“ vor, die, von dem lernbegierigen Wien schnell aufge faßt und begeistert acclamirt, bald unzählige Katzenmusiken ins Leben rief. Unvergeßlich bleibt mir eine davon, die mit Thalberg’s Abschiedsconcert in komische Verbindung gerieth.

Der berühmte Pianist, nach seiner letzten Nummer stürmisch hervorgerufen, setzte sich nochmals ans Clavier und begann mit der Volkshymne, welcher ohne Zweifel brillante Varia tionen folgen sollten, aber schon während der ersten Tacte hörte man verdächtiges Pfeifen und Miauen von der Straße her — Thalberg merkte Unheil und schloß resignirt mit dem Thema ohne Variationen. Und in der That gerieth man aus dem Concertsaal unmittelbar in ein anderes, sehr kräf tiges Concert, welches in der Eigenschaft eines Ständchens der k. k. Polizei-Direction gebracht wurde. Das Publicum war hier noch viel, viel zahlreicher als in Thalberg’s Con cert, schien aber nicht ebenso beifallslustig und anerkennend — es pfiff aus Leibeskräften.

Wenige Tage, bevor in Wien das „Fuchslied“ für immer verstummen sollte, an einem sonnigen October-Nachmittag, stieß ich nächst der Universität auf den Dr. Alfred Becher. Er hatte sich aus dem harmlosen Componisten und Musik-Kritiker in den radicalsten Journalisten der Re volutionspartei umgewandelt. Das Gewehr geschultert, mit rasselndem Schleppsäbel und zerknülltem Calabreser begrüßte er mich kurz: „Wohin? Kommen Sie mit mir auf die Rothenthurmbastei, wir brauchen noch junge Leute!“ — „Fällt mir nicht ein,“ erwiderte ich. „Aber Sie, lieber Becher, sollten lieber mit mir kommen; ich wäre glücklich, sähe ich Sie wieder zu Ihrer Kunst, zur Musik, zurückkehren aus diesem aussichtslosen, verderblichen Treiben!“ — „Wird auch geschehen, wird gewiß bald geschehen!“ rief er mir be gütigend zu und eilte weiter. Ich habe ihn nie wieder ge sehen. Er war kriegsrechtlich wegen Hochverraths verurtheilt und am 23. November 1848 erschossen worden. Obgleich ich eigentlich nie in intimerem freundschaftlichen Verkehre mit ihm gestanden habe, ging mir sein schreckliches Ende doch sehr nahe. Becher war ein unsteter, leidenschaftlicher, aber sehr begabter und im Grunde redlicher Mensch gewesen; überdies der beste Musikkritiker des vormärzlichen Wien, ja der einzige, der überhaupt ernst zu nehmen war. Von deutschen Eltern in Manchester geboren, hatte er in Leipzig Musik studirt und eine große Verehrung für Mendelssohn von dort mitgenommen. In Wien — ich weiß nicht, welcher Anlaß ihn hergeführt — gab er einige Musikstunden, com ponirte und schrieb zeitweilig für die „Sonntagsblätter“ und

Schmidt’s Musikzeitung. Er hielt viel größere Stücke auf seine Compositionen, als auf seine Kritiken; mir schien das Umgekehrte richtig. Er war ein grübelnder Componist, welcher geistreiche, oft abstruse Combination für musikalische Erfin dung hielt. Ein Heft Clavierstücke, meines Wissens die einzige gedruckte Composition von ihm, gewährte, theilweise an Mendelssohn anlehnend, noch einiges Vergnügen; eine Symphonie und ein Streichquartett hingegen, beide auf den späteren Beethoven „fortbauend“, machten den Eindruck des trostlos Erzwungenen. Grillparzer hat Becher’s Musik mit folgendem Epigramm von wahrhaft vernichtender Anschaulich keit charakterisirt: Dein Quartett klang, als wenn Einer Mit der Axt gewicht’gen Schlägen Und drei Weiber, welche sägen, Eine Klafter Holz verkleiner’!

Wie eine traurige Ironie des Schicksals erscheint es, daß Becher im letzten Spirituel-Concert (Ende April) einen Trauermarsch mit Chor: „Ueber den Gräbern der am 13. März Gefallenen“, zur Aufführung brachte, in deren Schlußstrophe er die österreichische Volkshymne verwebte! Wenige Monate nach dieser patriotischen Gelegenheits-Musik wurde der Componist als Hochverräther hingerichtet. Becher frappirte durch seine auffallende Erscheinung; eine lange, hagere Gestalt mit einem Shakespeare-Kopfe, von dessen hoher, bereits etwas kahler Stirne lange, graublonde Haare bis auf die Schultern fielen. Er war sehr nachlässig gekleidet, nervös-unruhig in seinen Bewegungen und sah in Folge seines unregelmäßigen Lebens früh gealtert aus. Becher mochte viel Aehnlichkeit mit dem genialen, unordentlichen und gleichfalls dem Weine ergebenen F. A. Kanne haben, dem besten Wiener Musikkritiker zu Beethoven’s Zeit. Die Namen Kanne und Becher waren für Beide sehr bezeichnend. Wie es geschehen konnte, daß dieser der Politik ganz fernstehende fünfundvierzigjährige Mann sich so weit in das wüste Treiben der extremsten Wiener Revolutionspartei verstricken ließ, ist mir nie ganz klar geworden. Er hat seine nachgiebige Schwäche und Verblendung schwer gebüßt. Dem politischen Fortschritt ist er von gar keinem Nutzen gewesen, für die musikalische Bildung Wiens hätte er gewiß noch sehr förder lich gewirkt.