Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Nr. 10303. Wien, Sonntag, den 30. April 1893 Hanslick, Eduard Wilfing, Alexander FWF Der Wissenschaftsfond.
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Maschinenlesbares Transkript der Kritiken von Eduard Hanslick.

Nr. 10303. Wien, Sonntag, den 30. April 1893 Hanslick, Eduard Neue Freie Presse Morgenblatt Herausgegeben von Etienne, Michael Friedländer, Max Wien 30.04.1893
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Verdi’s „Falstaff“. Sorrento, im April.

Ed. H. Nicht um Musik zu hören, sondern um sie abzuschütteln, entfloh ich für einige Zeit von Wien. Aller hand Melodien aus den letzten Opern und Concerten flat terten mir wie lästige Möven ums Haupt und unserem Schiffe nach. Ich sehnte mich vorläufig nach keinen neuen. Aber Eines wollt’ ich doch nicht versäumen: den alten Verdi noch einmal zu sehen und seinen „Falstaff“ zu hören. Diese neueste Oper des Achtzigjährigen ist ein Stück Musikgeschichte und ihre Première in Rom ein denkwürdiges Ereigniß. Verdi hatte Rom seit Jahren vermieden. Ruhebedürftig und ruhm gesättigt, scheute er neue Ovationen und den Empfang bei Hofe. Selbst nach seiner Ernennung zum Senator unterließ er es, sich persönlich beim Könige zu bedanken. Nun endlich hat ihn die erste Aufführung seines „Falstaff“ doch nach Rom gezogen. Welch ein Theaterabend! Ein Fest der Nation, eine Herzensangelegenheit des ganzen Volkes! Von diesem Enthusiasmus beim Erscheinen Verdi’s auf der Bühne macht man sich in Deutschland kaum eine Vorstellung. Und noch stürmischer erbrauste der Jubel, als Verdi in der Loge des Königs erschien und zur Rechten desselben Platz nahm. Einen hochbejahrten, hochberühmten Künstler also gefeiert zu sehen, hat etwas unendlich Er hebendes und Rührendes, auch für den Fremden. Mit der fortreißenden Gewalt dieser Stimmung verband sich die Be geisterung sämmtlicher Künstler. Eine berauschendere Wirkung wird man wol niemals vom „Falstaff“ erleben als an jenem 15. April in dem großen prächtigen Teatro Costanza. Da ich auf dieses Erlebniß durchaus nicht vorbereitet war, ver mag ich nur den unmittelbaren individuellen Eindruck zu schildern, welchen die Oper auf mich gemacht hat. Die bevor stehende Wiener Aufführung wird mir wol eine motivirte Ausführung und Berichtigung meines Urtheils gestatten.

Unter den berühmten Componisten Italiens sind Bellini und Verdi die einzigen, von denen wir keine komische Oper besitzen. Alle übrigen sind im ernsten und im heiteren Fach mit gleicher Lust und meistens gleichem Er folge thätig gewesen; von Pergolese, dessen „Serva Padrona“ die erste Knospe der Opera buffa bedeutet, und Piccini, in dessen „Cecchina“, diese Knospe zur Blüthe erwächst, bis auf Rossini und Donizetti, die unauf hörlich zwischen Lustspiel und Tragödie abwechseln. Nur Bellini und Verdi, Beides eminent pathetische und senti mentale Naturen, schienen für das Komische unzugänglich und ungeschaffen. Bellini ist jung gestorben; Verdi bringt heute als Achtzigjähriger dem überraschten Publicum seine erste komische Oper. Welch unerwartet schöne, bedeutsame Wendung, daß der Greis an der Neige seines Lebens sich der Tragik entwindet und mit der Weisheit eines glücklichen Alters noch den Blick auf der sonnigen, heiteren Seite des Daseins ausruhen läßt!

Als ich am Tage der römischen „Falstaff“-Aufführung Aehnliches zu Verdi äußerte, antwortete er, es sei zeitlebens sein Lieblingswunsch gewesen, eine komische Oper zu schreiben. „Und warum haben Sie es nicht gethan?“ — „Weil man nichts davon wissen wollte (parceque l’on n’en voulait pas).“ Den „Falstaff“ habe er eigentlich zu seiner eigenen Unter haltung componirt. Daß er bereits einen „König Lear“ be gonnen habe, stellt er in Abrede. „Ich bin nicht zwanzig Jahre alt,“ meinte er mit einem mehr schalkhaften als schmerzlichen Lächeln, „sondern viermal zwanzig!“ Die schlichte Herzlichkeit, mit welcher Verdi — hier so gut wie unnahbar für jeden Fremden — mich empfing und begrüßte, hat mich, der ich manche Jugendsünde gegen ihn auf dem Gewissen habe, tief bewegt. Es leuchtet etwas unendlich Mildes, Bescheidenes und in der Bescheidenheit Vornehmes aus dem Wesen dieses Mannes, den der Ruhm nicht eitel, die Würde nicht hochfahrend, das Alter nicht launisch gemacht hat. Tief gefurcht ist sein Gesicht, das schwarze Auge tief liegend, der Bart weiß — dennoch läßt die aufrechte Haltung und die wohltönende Stimme ihn nicht so alt erscheinen.

Eine Anspielung auf Wagner’schen Einfluß beantwortete Verdi etwas ausweichend mit den Worten: „Der Gesang

und die Melodie müßten doch immer die Hauptsache bleiben.“ In jenem absoluten Sinn der früheren Verdi’schen Opern sind sie es im „Falstaff“ allerdings nicht mehr. Im Vergleich zu der zweiten Periode Wagner’s sind sie es noch immer. Nirgends wird im „Falstaff“ die Singstimme vom Orchester unterdrückt oder überfluthet, nirgends das Gedächtniß durch Leitmotive gegängelt, die Empfindung von klügelnder Re flexion durchkältet. Hingegen hat die Musik zu „Falstaff“ doch mehr den Charakter einer belebten Conversation und Decla mation, als den einer ausgeprägten, durch selbstständige Schönheit wirkenden Melodik. Daß er Musik von letzterer Art auch mit fließendem Lustspielton vortrefflich zu verschmelzen verstand, beweist der zweite Act seines „Ballo in maschera“. Damit verglichen kann man — in weiterem Sinn und libe ralster Auslegung — von Wagner’schem Einfluß auf „Fal staff“ sprechen. Gewiß eine unschätzbare Methode für geist reiche Componisten, welche langjährige Erfahrung und Technik, aber nicht mehr die reiche blüthentreibende Phantasie der Jugend besitzen. Die ganze Anlage des Falstaff“-Librettos und ähnlicher moderner Textbücher mit ihrer dem recitirenden Schauspiel fast gleichkommen den Ausführlichkeit der Diction hat eine neue, verschie dene Methode des Componirens zu Folge. Ehedem definirte man das Gedicht als „die Zeichnung, welche der Componist zu coloriren habe“. Das paßt nun und nimmermehr auf die Musik der früheren Opern. Die Melodien Mozart’s, Rossini’s sind weit mehr und etwas ganz Anderes, als das bloße Coloriren einer fertigen Zeichnung; sie sind ein Neues, Selbstständiges, das von dem Text zwar die Richtung, die Stimmung empfängt, aber sich seine Zeichnung selbst schafft. Man könnte eher sagen, die älteren Gesangstexte liefern dem Componisten nur größere oder kleinere Rahmen mit einer Aufschrift: Liebe, Zorn, Frohsinn — in diesen Rah men schuf der Componist als musikalischer Selbstherrscher Zeichnung und Farbe zugleich. Der Text zu den Arien Mozart’s, Rossini’s und des jungen Verdi enthält oft nur 6 bis 8 Verszeilen allgemeinen Inhalts; damit konnte der Componist frei schalten. Man vergleiche damit das Libretto zu „Falstaff“; der Monolog „Was ist Ehre?“ ist eine wörtliche Uebersetzung aus Shakespeare, wenn ich nicht irre

mit noch weiter detaillirenden Zusätzen. Da kann der Com ponist musikalisch Neues, Selbstständiges nicht schaffen; er kann nur Wort für Wort nachfolgen und diese bis ins Kleinste vom Dichter ausgeführte Zeichnung „coloriren“. Der große Erfolg dieses Monologs ist eigentlich das Ver dienst Shakespeare’s und Maurel’s; die Musik hat wenig hinzuzuthun, und ich kann nicht sagen, daß die Wirkung im Burgtheater, ohne Musik, eine geringere sei. Aehn liches gilt von dem langen Monolog des eifersüch tigen Mr. Ford und von den meisten Duetten, die lustspielmäßig ausgeführte Dialoge sind. So paßt merk würdigerweise die alte Lehre von „Zeichnung und Colorit“ erst auf eine viel spätere, nämlich die heutige Compositions weise. Nur wenige Stücke im „Falstaff“ sind von Haus aus für abgerundet musikalische Form gedichtet: das Vocal- Quartett der Frauen am Schlusse des ersten Actes, die kleine Cavatine Fenton’s, der Gesang der Elfenkönigin (mit Frauenchor) und der fugirte Schlußgesang im dritten Acte. Alle diese geformten Musikstücke machen gute Wirkung, als Ruhepunkte zwischen den dialogisch fortfluthenden Conver sations-Scenen; sie erfreuen durch Wohlklang und übersicht liche Form, entbehren auch nicht einer gewissen Wärme. Eine besondere Kraft und Originalität der melodischen Erfindung vermochte ich daran nicht wahrzunehmen, höchstens daß die kleine Cantilene Fenton’s „Bocca baciata“ an den sinnlichen Reiz des früheren Verdi erinnert.

Der Gesammteindruck, den ich von dem Werke empfing, ist der einer sorgfältig ausgearbeiteten, feinen und lebhaften Con versations-Musik, welche nirgends roh oder weichlich wird, weder in possenhafte Trivialität noch in ungehöriges Pathos überschlägt. Die Charakteristik Falstaff’s ist von echt komischer Kraft, die der übrigen Personen nicht hervorstechend. Das Ganze berührt uns wie die fließende Unterhaltung eines geistreichen Weltmannes, der nicht den Anspruch erhebt, neue Wahrheiten oder tiefe Gedanken auszutheilen. Also mehr Causerie als starke musikalische Schöpfung. Verdi’s Falstaff“ hat mich keinen Augenblick gelangweilt oder ab gestoßen, aber auch nur höchst selten durch musikalische Schönheiten entzückt. Wenn unser geehrter College, Robert de Fiori, in seinem Mailänder Berichte den „Falstaff“ ein

Triumphlied des Alters, ein fast übermüthiges Spottlied auf das „Senectus ipse morbus“ nennt, so muß man ihm vollständig beipflichten. Die Musikgeschichte kennt kein Bei spiel von einer solchen Bühnenschöpfung eines Achtzigjähri gen. Wir haben in Deutschland und Italien einzelne Meister gehabt, die in hohem Alter noch gute Kirchen musik schufen; keine Nation darf sich aber eines Componisten rühmen, der im Alter Verdi’s noch die dramatische Lebendigkeit, die anmuthige Laune, die sichere Führung besessen hätte, welche die Partitur des „Falstaff“ auf weist. Richard Wagner schrieb einmal, gelegentlich der „Afri kanerin“ von Meyerbeer: mit dem sechzigsten Jahr müsse man aufhören, Opern zu schreiben — ein Ausspruch, den er freilich selbst widerlegt hat. Hat man vor sechs Jahren den „OtelloVerdi’s schon als ein erstaunliches Ereigniß begrüßt, so ist „Falstaff“, als die noch spätere und gewiß nicht farblosere Blüthe eines seit sechzig Jahren unablässig producirenden Talents, ein halbes Wunder.

Die Wiener haben alle Ursache, sich auf die „Falstaff“- Aufführungen der Ricordi’schen Künstlergesellschaft zu freuen. Das Ensemble ist ganz vorzüglich, Alles ebenso genau und fein studirt wie lebendig ausgeführt. Ein Künstler allerersten Ranges ist der Darsteller des Falstaff, Herr Maurel, be wunderungswürdig als Sänger wie als Schauspieler. Unter den Damen ragt die Altistin Pasqua als Wirthin Hurtig hervor. Die Uebrigen sind nur in gemessenem Abstand von diesen zu rühmen; als Einzelne nicht bedeutend, tragen sie doch zusammen zu der guten Wirkung des Ganzen erheblich bei. Verdi’s „Falstaff“ wird als Gastvorstellung in Wien sicher lich eine große Anziehungskraft üben. Ob diese zum nach haltigen Erfolg und zu bleibender Eroberung des deutschen Repertoires sich steigern werde, ist eine andere Frage. In Deutschland stehen der Einbürgerung von Verdi’s „FalstaffDie lustigen Weiber“ von Otto Nicolai als ein Hinderniß gegenüber, das schwer zu nehmen sein wird. Als Total erscheinung spielt Nicolai gewiß eine sehr bescheidene Figur neben Verdi. Allezeit experimentirend, schwankend zwischen deutscher und italienischer Musik, zwischen pathetischem und leichtem Styl, hat Nicolai den zahlreichen Triumphen Verdi’s einen einzigen Erfolg entgegenzustellen: eben

Die lustigen Weiber von Windsor“. Aber in dieser einen Oper steigerte und concentrirte sich die ganze Kraft seines Talents so bedeutend, sowol nach der dramatischen, wie nach der rein musikalischen Seite hin, daß nur die blanke Ungerechtigkeit sie geringschätzen könnte. Gegenüber der moderneren, einheitlicheren Form der Verdi’schen Oper hat die Nicolai’sche jedenfalls mehr musikalische Substanz. Nach meiner Empfindung sind die besten Nummern aus den „Lustigen Weibern“ den analogen Scenen in Verdi’s „Falstaff“ musikalisch entschieden überlegen. Solche Stücke sind, ganz abgesehen von der reizenden Ouvertüre zu den „Lustigen Weibern“: das erste Duett der beiden Frauen, das Duett zwischen Fluth und dem seine Werbung anbringenden Fenton, ferner das Duett der beiden Bässe im zweiten Act, die Arie der Frau Fluth, endlich die ganze Elfenscene im dritten Act. (Von den gemeinen Gesangseinlagen, welche Herr Proch unter der Marke „Recitative“ in Nicolai’s Partitur einge schmuggelt, muß man natürlich absehen.) Der Junker Spärlich mit seinem unwiderstehlich komischen: „O süße Anna!“ fehlt gänzlich in Verdi’s Oper; Doctor Cajus, sowie die aus „Heinrich IV.“ herübergenommenen Figuren Pistol und Bardolf haben bei Verdi keine individuelle Physiognomie sie sind nur Füllstimmen für das Ensemble; Boito’s Textbuch läßt die Hand des gewandten, geistreichen Mannes nicht verkennen; aber das Mosenthal’sche Libretto hält sich enger an das Shakespeare’sche Lustspiel und sorgt doch zugleich besser für die Entfaltung musikalischer Form. Die Erfahrung lehrt, daß zwei Opern desselben Inhalts zugleich auf derselben Bühne unmöglich sind. In der Regel siegt der Reiz der Neuheit, und das jüngere Werk pflegt, bei nicht allzu großem Abstand in der Qualität, das ältere definitiv zu verdrängen. Gounod’sFaust“ hat den Spohr’schen, Gounod’sRomeo“ den Bellini’schen auf gezehrt, Verdi’sBallo in maschera“, den „MaskenballAuber’s. Es kann sein, daß mit dem Erscheinen von Verdi’s Novität das letzte Stündchen für Otto Nicolai ge schlagen hat. Wahrscheinlicher will es mir trotzdem vorkom men, daß man in Deutschland den Verdi’schen „Falstaffüberall geben, loben, bewundern wird und dann — zurück kehren zu Nicolai’s „Lustigen Weibern“.