Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Nr. 10386. Wien, Sonntag, den 23. Juli 1893 Hanslick, Eduard Wilfing, Alexander FWF Der Wissenschaftsfond.
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Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Herausgegeben von Wilfing, Alexander Projektmitarbeiterinnen Bamer, Katharina Pfiel, Anna-Maria Elsner, Daniel Austrian Centre for Digital Humanities and Cultural Heritage Wien 2024

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Maschinenlesbares Transkript der Kritiken von Eduard Hanslick.

Nr. 10386. Wien, Sonntag, den 23. Juli 1893 Hanslick, Eduard Neue Freie Presse Morgenblatt Herausgegeben von Etienne, Michael Friedländer, Max Wien 23.07.1893
font-style:italic; font-weight:bold; Deutsch Transkribus OCR und Lektorat. Transformierung der Daten des Transkribus TEI-Export mit "editions.xsl". Formatierung und Referenzen eingefügt. Letztkorrektur für Zwischenrelease.
Neue Musik-Literatur. (Maurel. Otto Nicolai. Reisende Musikerinnen. Spitta.)

Ed. H. Sind gründliche physiologische Kenntnisse un entbehrlich, um gut zu singen? Ist es die Wissenschaft der Physiologie und Anatomie, von der wir das Ideal des schönen Gesanges zu erwarten haben? Ich glaube nicht. Wissenschaftliche Einsicht kann niemals schaden, gewiß. Aber ich kann mich schwer von der Ueberzeugung losmachen, daß Gesangs kunst vornehmlich durch lebendiges Beispiel, durch den Unter richt eines tüchtigen Sängers erlangt werde, ohne daß Lehrer und Schüler mehr als die allgemeinsten, jedem Gebildeten geläu figen Begriffe von der Structur und Function der Stimm organe besitzen. Wären Kehlkopfspiegel der Zauberstab für die schönste Tonbildung und anatomische Präparate das sichere Heilmittel gegen die Verderbniß unserer Gesangskunst, dann müßten ja unsere berühmten Laryngoskopen die besten Gesangslehrer, vielleicht gar die vollkommensten Sänger sein. Mit den beim Clavierspiel zusammenwirkenden Muskel thätigkeiten verhält es sich nicht viel anders. Wer das classische Werk des Physiologen Weber über die menschliche Hand noch so fleißig studirt hat, er wird darum als Pianist nicht über ein geläufigeres Passagenspiel, einen klangvolleren Anschlag und lebendigeren Vortrag verfügen. Und der vir tuoseste Ballettänzer, der erfolgreichste Tanzlehrer, ist es derjenige, der von jedem Muskel, jedem Nerv des Fußes am genauesten Rechenschaft zu geben weiß? Einen Ballet meister würde ich mir lieber unter den Schülern Taglioni’s aussuchen als unter jenen von Hyrtl. Physiologie und aus übende Kunst sind in der Praxis getrennte Gebiete. Herrn Maurel kennen wir von seinem Jago und Falstaff her als einen Gesangskünstler von meisterhafter Technik und feinem Geschmack. Wie commandirt er seine folgsame Stimme, wie weiß er sie jedem Ausdruck anzupassen! Angehende Sänger können ungemein viel lernen, wenn sie Maurel hören — mehr, als wenn sie ihn lesen. Sein neues Buch heißt: „Un

Problême d’art“ (Paris1893, chez Tresse et Stock). Victor Maurel gehört zu jenen intelligenten Sängern, welche neben ihrem künstlerischen einen aparten wissenschaftlichen Ehrgeiz besitzen und uns literarisch beibringen möchten, was nur durch lebendige Unterweisung sich lernen läßt. Das „Kunstproblem“, welches er in seinem Buche zu lösen unter nimmt, lautet: „Auf welchem Wege können wir die mensch liche Stimme tauglich machen, alle Wirkungen hervorzu bringen, deren die Gesangskunst fähig ist?“ Darauf ant wortet Maurel kurz und bündig: „Durch die Wissenschaft der Physiologie!“ Den Beweis für seine Thesis führte er in breiter Ausführlichkeit, mit fast pedantischer Einschachte lung von Abtheilungen und Unterabtheilungen, deren Ein theilungsgrund er bei jedem Capitel von neuem wiederholt. Der erste Theil des Buches handelt von den drei Qualitäten des Tones, in deren Wechselwirkung jede stimmliche Production — Sprache und Gesang — besteht: die Höhe, die Stärke und die Klangfarbe. Der Verfasser erklärt nun, welche Stimmwerkzeuge bei jeder dieser drei Eigen schaften in Function treten; wie die Stimmbänder, der Kehl kopf, die Lunge, die Lippen. Jede der drei Tonqualitäten wird nun einzeln vorgenommen und physiologisch geprüft. Nachdem oft eine Collision eintritt, muß der Sänger ein „Equilibrist sein, der mit den drei Eigenschaften des Tones spielt“. Wie Maurel ausdrücklich betont, berücksichtigt sein Buch lediglich die technische Seite des Gesanges. Es wäre uns gewiß erwünscht gewesen, einen Künstler wie Maurel auch über die ästhetische Seite seiner Kunst sprechen zu hören: über den Ausdruck verschiedener Empfindungen und Situa tionen, über das Vorherrschen der recitirenden oder der gesangvollen Tonbildung, über die Auffassung einzelner Rollen und Scenen. Nichts von alledem. Die bisherigen Methoden des Gesangsunterrichtes verurtheilt Maurel sammt und sonders mit dem Worte „Empirismus“: d. h. Beobachtung der Wirkungen, ohne Kenntniß der Ursachen. An jenen ausgezeichneten Sängern, welche sich dem Unterrichte widmen, respectirt Maurel nur die gute Absicht, spricht ihnen aber entschieden die Fähigkeit ab, ihre Kunst auf Schüler über tragen zu können, „denn sie besitzen keine gründliche Kennt niß der physiologischen Gesetze und haben keine Idee von

der dreifachen Qualität des Tones“. Ein Aufschwung der Gesangskunst sei nur möglich, wenn der Unterricht auf streng physiologisch wissenschaftlicher Grundlage geschieht und die Persönlichkeit des Meisters verschwindet (s’efface) vor der Einheit und Unpersönlichkeit der Wissenschaft. Maurel faßt schließlich seine Anforderungen an die Sänger „oder wenig stens an die Gesangslehrer“ in Folgendem zusammen: „Sie müssen aufs gründlichste alle Wissenschaften studiren, welche directe oder indirecte Beziehungen zur Tonbildung haben; also mit der theoretischen und Experimental-Physik an fangen, sodann zur Anwendung der Physik auf Musik fortschreiten; weiter zur theoretischen und praktischen Ana tomie (!), zur theoretischen und praktischen Physiologie, um schließlich anzulangen bei der Anwendung der Physiologie auf den Gesang.“ Kein Zweifel, daß die meisten unserer bereits zahllosen Gesangslehrer ihre Aufgabe zu leicht nehmen. Wenn aber der französische Unterrichtsminister, dem Maurel’s Buch gewidmet ist, dessen Anforderungen billigt, dann dürfte bald nichts schwieriger zu erlangen sein, als ein Befähigungs- Diplom zum Gesangsunterricht.

Das Auftreten Maurel’s in Verdi’s „Falstaff“ hat allenthalben die Erinnerung an Otto Nicolai’s Oper Die lustigen Weiber von Windsor“, wachgerufen und nicht zum Nachtheile des deutschen Componisten. Fast gleichzeitig mit „Falstaff“, also in günstigem Zeitpunkte, sind bei Breit kopf & Härtel „Otto Nicolai’s Tagebuchblätter“ er schienen, herausgegeben mit biographischen Ergänzungen von B. Schröder. An eine Veröffentlichung dieser rein per sönlichen flüchtigen Aufzeichnungen hat Nicolai selbst niemals gedacht. Sie notiren in Schlagworten die bekannten Sehens würdigkeiten, die er in Venedig, Rom, Neapel, Bologna besichtigt, die Bekanntschaften, die er gemacht, die Lectionen, die er schönen Engländerinnen und Russinnen gegeben u. s. w. Dazwischen laufen zahlreiche rothe Fäden stärkerer oder schwächerer Liebesneigungen, die uns einen Blick in das leicht erreg bare, leidenschaftliche Gemüth des jungen Künstlers gewäh ren. Mancher dieser Fäden drohte, sich unfehlbar zu einem Strick um seinen Hals zu winden. Der Herausgeber scheint mir seine löbliche Pietät für Nicolai etwas zu weit auszudehnen, wenn er bei dem Abbruch dieser Liebesaffairen stets die „moralische

Kraft und starke, zielbewußte Selbstbeherrschung“ Nicolai’s rühmt, während es doch fast immer äußere Zwischenfälle waren, die, ohne sein Zuthun, ihn aus den Armen gefährlicher Zaube rinnen retteten. Eine derselben, in den Tagebüchern „Armidagenannt, war die Gattin eines auch von Nicolai geachteten Mannes. Nicolai’s glühende Leidenschaft für sie fand eben so grenzenlose Erwiderung. „Diese ganze Zeit,“ heißt es in dem Mailänder Tagebuche von 1837, „ist nur in der Liebe zu Armida hingegangen.“ Als Capellmeister ans Kärntner thor-Theater berufen, fühlt sich Nicolai unfähig, sie zu ver lassen, und macht ihr den Vorschlag, mit ihm nach Wien zu ziehen. Armida ist aber klüger als er und mag ihre ge borgene, glänzende Existenz an der Seite ihres Mannes nicht einer unsicheren Zukunft opfern. Bald nachher verliebt sich Nicolai in die Sängerin Erminia Frezzo lini. Ihr Vater ist gegen diese Heirat, aber die Liebes leute, Beide majorenn, vollziehen trotzdem ihre förmliche Verlobung. Wenige Monate später bewirbt sich der Tenorist Poggi um Erminia’s Hand und sie heiratet ihn vom Fleck weg. Eine andere Leidenschaft fesselte Nicolai in den nächsten Jahren an eine ungarische Jüdin von blendender Schönheit, aber allerschlechtestem Rufe. „Es waren zwei Jahre wahn sinniger, überseliger, abspannender, tödtlicher Leidenschaft.“ Die Gegenbeweise ihrer vermeintlichen Liebe und Treue wurden aber bald so grell, daß Nicolai seine Gedanken an eine Heirat, „die er ihr glaubte schuldig zu sein“, aufgeben mußte. Julia tröstete sich mit einem adeligen Officier, der, um sie zu heiraten, den Dienst quittirte. Eine einzige, ruhigere Neigung Nicolai’s — die zu seiner Schülerin Pauline v. Stradiot — schien die Gewähr für ein solides Eheglück zu bieten. Aber auch dieser letzte Heiratsplan sollte sich nicht realisiren. Wichtiger, als diese Herzensgeschichten, sind Nicolai’s Notizen über seine musikalische Thätigkeit in Wien. Er hatte mit seiner Oper „Il Templario“ in Turin, dann in Genua und Mailand einen großen Erfolg er rungen und führte, von Merelli engagirt, sie mit den italieni schen Sängern in Wien auf. Der „Templario“ gefällt hier, und Nicolai wird für drei Jahre als erster Capellmeister am Kärntnerthor-Theater engagirt; er bekommt jährlich

2000 Gulden und einen zweimonatlichen Urlaub, während dessen die Gage eingestellt wird. Seine Collegen sind Proch und Reuling, zwei Dirigenten, welche der ebenso feurige wie gewissenhafte Nicolai leicht in Schatten stellen konnte. „Das Bedeutendste,“ schreibt Nicolai1844 in sein Tagebuch, „ist die Gründung der Philharmoni schen Concerte. In diesen Concerten habe ich bis jetzt nur durchaus classische Musik zur Aufführung gebracht, und in diesem Sinne sollen sie auch fortbestehen. Da die Phil harmonischen Concerte durchaus keinem anderen Grund ihr Bestehen verdanken, als meinem freien Willen und dem freien Willen der Orchestermitglieder, so fällt mir in jedem Jahre von neuem die Schererei zu, die Leute dazu zu ver einigen, da sich diesen herrlichen Aufführungen selbst dennoch einige Querköpfe entgegensetzen. Das Unternehmen hat beim Publicum und der Kritik den einstimmigsten Anklang ge funden. Die ersten sechs Concerte ergaben einen Ueber schuß von 8000 Gulden. Wenn bei unserer nur temporären Anstellung ein Pensionsfonds denkbar wäre, so würden diese Concerte den schönsten Fonds dazu beisteuern können. Vielleicht setze ich das auch noch durch!“ Vergleichen wir diese Angaben mit dem gegenwärtigen Be stande unserer Philharmonischen Concerte. Nicolai gab jährlich zwei Concerte, wir haben deren jetzt acht in der Saison. Die Stärke des Orchesters ist beinahe auf das Doppelte gewachsen. (Nicolai besetzte die Harmonie nur einfach und mußte die Geiger durch „Künstler aus der Stadt“ verstärken.) Der Reinertrag der Concerte beträgt heute das Drei- bis Vierfache. Nicolai’s Project eines Pensionsfonds für die Musiker ist zwar nicht bei seinen Leb zeiten, aber doch unter dem gegenwärtigen Dirigenten der Philharmonischen Concerte realisirt worden. Am 7. März 1847 hat das letzte Philharmonische Concert (das zwölfte seit deren Begründung) unter Nicolai’s Direction stattgefunden und durch die schwungvolle Aufführung der Neunten Symphonie von Beethoven tiefen Eindruck gemacht. „Ich glaube,“ heißt es im Tagebuch, „eine zeitlang werden diese unübertrefflichen Concerte auch ohne mich vortrefflich bestehen; für die

Dauer aber dürften sie sich ohne mich, oder doch ohne einen Director, der, wie ich, Zeit und Mühe daran setz, dabei meine Energie und meine Ausdauer besitzt, schwerlich erhalten, wenigstens nicht in dieser Vollkommenheit. Nun, die Zukunft wird es ja lehren!“ Die nächste Zukunft hat wirklich gelehrt, welch großen Verlust für Wien der Abgang Nicolai’s bedeutete. Die Philharmonischen Concerte ver mochten nicht weiter zu gedeihen. Ihre Erfolge gehörten, wie so viele in Oesterreichs Kunstgeschichte, zu den „inter mittirenden“, welche, einmal unterbrochen, sich immer wieder mit verdoppelter Anstrengung von neuem durchsetzen müssen. Nach Nicolai’s Scheiden brachten die folgenden drei Jahre je Ein Philharmonisches Concert unter der Direction von Georg Hellmesberger (1848), W. Reuling (1849) und H. Proch (1850) — „zum Teufel war der Spiritus“. Dann stockten diese Concerte, die nur den Namen mit Nicolai’s Schöpfung gemein hatten und wenig Theilnahme fanden, bis im December 1854 Karl Eckert sie wieder ins Leben rief. Mit fieberhaftem Eifer sucht Nicolai nach einem guten deutschen Textbuch. „Indeß,“ klagt er, „wie soll man Textbücher hernehmen in einem Lande wie diesem, wo erstens keine Dichter existiren, die von der richtigen An fertigung solcher Arbeit auch nur einen leisen Begriff haben, und wo vor Allem — für neue Opern nichts gethan und so gut als nichts gezahlt wird? Scribe verlangt für einen neuen französischen Operntext 12. bis 20,000 Francs, und Deutschland gibt für eine neue Oper sammt Inschluß des Buches entweder nichts, höchstens aber 500 fl., welches die für meine neue Oper stipulirte Summe war. Und das ist noch viel!“ Diese für 1846 „stipulirte Oper“ waren „Die Lustigen Weiber von Windsor“. Nicolai hatte selbst den Plan entworfen, welchen Mosenthal ausarbeitete. Dieser lieferte dem Componisten nummernweise den Text gegen ein Honorar von zehn Gulden für jede Nummer! Im September 1846 war Nicolai so weit, daß er dem Pächter des Kärntnerthor- Theaters, Bolochino, anzeigen konnte, die Oper könnte noch in diesem Jahre gegeben werden. Bolochino refusirte jedoch die Oper, weil Nicolai sie für die vergangene Saison abzu liefern verpflichtet gewesen sei. Alles Vorstellen und Prote

stiren nützte nichts; Nicolai und Bolochino geriethen hart an einander, und der Componist, so unwürdiger Behand lung überdrüssig, folgte einem Rufe nach Berlin. So kam es, daß nicht die Wiener Hofoper, für welche die „Lustigen Weiber“ componirt waren, sondern die Berliner deren erste Aufführung brachte. Sie fand unter Nicolai’s Leitung mit glänzendem Erfolge am 9. März 1849 statt. Ihm war es leider nur vergönnt, drei Wiederholungen zu leiten — dann raffte ihn, den kaum Neununddreißigjährigen, am 11. Mai ein plötzlicher Tod hinweg.

Ein Tagebuch ganz anderer Art erschien kürzlich bei Hartleben in Wien unter dem Titel „Reisende Musikerinnen“. Ein bescheidenes Büchlein von eigen artig intimem Reiz und nicht ohne culturhistorische Be deutung für Oesterreich. Der Herausgeber, Herr Max Delia, kam vor einigen Jahren auf einer Reise durch das Erzgebirge nach Sonnenberg in Böhmen. Es ist dies ein Musikantenstädtchen wie das benachbarte Presnitz. Er kehrt im Gasthof „zur Post“ ein, und indem er sich in der rein lichen Stube umsieht, erblickt er zu seiner Verwunderung einen großen Stahlstich mit einer Ansicht von Saigon in Hinterindien. Die freundliche Wirthin erklärt ihm, daß sie mit ihrem Mann, der damals Capellmeister einer reisenden Musikgesellschaft gewesen, mehrere Jahre dort gelebt habe. Auf ihren Reisen, die sich auf den ganzen Orient und auf Südasien erstreckten, hatte sie ein Tagebuch geführt. Auch die junge Stiefschwester der Wirthin, ein schüchternes blondes Mädchen, war lange mit auf Reisen gewesen und hatte gleichfalls Aufzeichnungen darüber gemacht. Herr Delia nahm Einsicht in diese Tagebücher und erhielt die Erlaubniß, daraus das zur Veröffentlichung Geeignete herauszugeben. „Von den reisenden Musikerinnen“, sagt er, „von denen man in weiten Kreisen so gering denkt, hatte ich einen ziemlich hohen Begriff bekommen, zum mindesten mußte die Verfasserin der Reiseberichte nicht nur eine reich begabte, sondern auch eine menschlich und sittlich sehr hoch stehende Person sein.“ Einundzwanzig Jahre alt, war Frau Marie Stütz mit ihrem Manne, gleich nach der Hochzeit im October 1877, nach Konstantinopel abgereist. Erst nach

sieben Jahren kehrten sie in ihre Heimat zurück. Man wird ihr einfach und naiv geschriebenes Tagebuch mit herzlichem Antheile lesen. Wie viel Muth und Ausdauer zeigten diese Frauen und Mädchen auf so weiten, beschwerlichen Reisen, in den wechselnden fremden Klimaten Egyptens, Indiens, Australiens! „Gar zu gerne wäre ich in der Heimat ge blieben, dem theuersten Plätzchen Erde, das der Mensch hat. Aber uns armen Erzgebirgern ist es bestimmt, unser Brot in fremden Ländern zu verdienen, und dabei müssen wir uns noch von vielen Menschen mit Geringschätzung betrachten lassen.“ In den Productionen dieser Gesellschaft wechseln Instrumentalstücke mit Gesang ab. Ueber die Zusammen setzung des Orchesters lesen wir nichts, doch dürfte sie ziemlich stattlich gewesen sein, denn die Ouvertüren zu Wilhelm Tell“, „Zampa“, „Semiramis“ werden erwähnt. Die beiden Musikerinnen zeigen einen offenen Blick und lebhafte Auffassung alles Sehenswerthen. Sie gehen nicht müßig, suchen sich zu vervollkommnen, wir lesen von Gesang- und Clavierunterricht, von täglichen Proben. Eine Erholung in freien Stunden bietet Auerbach’s Roman „Auf der Höhe“. Am meisten interessirt es uns, hier einen Blick in das Privatleben einer solchen familienhaft zusammenhaltenden reisenden Musikgesellschaft zu thun; da gibt es in ihrer Mitte auf fremder Erde Verlobungen, Hochzeiten, Taufen — leider auch Todesfälle. Die Gesellschaft war überall sehr beliebt; man sieht sie ungern scheiden. Trotzdem bricht die Sehnsucht nach der Heimat gar oft und in rührenden Accenten hervor, am stärksten an allen Familien-Gedenktagen, am Weihnachts- und Osterfeste. Die junge Stiefschwester der Frau Stütz, die in Port-Said zurückgeblieben war mit dem größten Theile der Gesellschaft, betritt erst im August 1889 wieder den heimatlichen Boden. „Die Freude des Wiedersehens war groß,“ schreibt sie. „Wie jubelten wir, als wir die Kirch thurmspitze von Sonnenberg aus der Ferne erblickten, und wie erst, als wir auf dem Bahnhofe unserer Angehörigen, die uns erwarteten, ansichtig wurden! Unser liebes Sonnen berg gefiel mir, als ich es wieder sah, besser, als all die schönen fremden Länder! Ja, ich sehe jetzt mehr als früher, wo mein flatternder Geist noch nicht den rechten Sinn für

das wirklich Schöne hatte, daß unser liebes Städtchen, so arm es auch ist, doch einen großen Reichthum an Natur schönheiten besitzt.“ So schließt denn die musikalische Odyssee unserer braven Erzgebirglerinnen harmonisch mit einem glücklich ausklingenden Accord.

Das Beste zuletzt: Spitta’s neuestes Buch „Zur Musik“. (Berlin, bei Paetel, 1892.) Der stattliche Band enthält sechzehn Aufsätze, welche der berühmte Bach-Biograph, unser vornehmster musikalischer Geschichtsforscher und Ge schichtsschreiber, ursprünglich in verschiedenen Zeitschriften veröffentlicht hat. Die beiden ersten Aufsätze, „Kunstwissen schaft und Kunst“ und „Vom Mittleramt der Poesie“, be wegen sich meistentheils betrachtend auf ästhetischem Gebiete; zum Theile auch, mit einer Wendung zum Praktischen, der dritte: von der „Wiederbelebung der protestantischen Kirchen musik“. Spitta geht von dem Satze aus, daß eine protestan tische Kirchenmusik im strengen Sinne seit hundert Jahren nicht mehr besteht. Das Mittel zu ihrer Wiederherstellung erblickt er in den Bach’schen Cantaten. „Bach’s Cantaten sind nicht Concertmusik, sie sind die protestantische Kirchenmusik in ihrer reinsten und vollendetsten Blüthe. Losgelöst von der Kirche, bleiben sie in ihrem innersten Kern unverständlich; wir besitzen sie nur halb und wir mißverstehen sie unauf hörlich, wenn wir fortfahren, sie wie bisher nur in Con certen aufzuführen.“ Die folgenden Aufsätze sind durchweg historischen oder kritischen Inhalts; so der vortreffliche Essai Bach, Händel und Schütz“ der gelegentlich des Händel-Bach-Jubiläums (1885) bereits in weitere Kreise gedrungen ist. Ganz Neues bringt der Aufsatz „Marianne v. Ziegler und J. Seb. Bach“. Er beruht auf einer für die Musik- wie für die Literatur-Geschichte nicht unwichtigen Entdeckung Spitta’s, welche dieser in seiner Bach- Biographie noch nicht verwerthen konnte. Marianne v. Ziegler (geboren 1693 in Leipzig) war eine gefeierte Dichterin, welche, von Gottsched patronisirt, sogar zur kaiserlichen Poetin gekrönt wurde. Wie nun Spitta ermittelt hat, liegen acht eng zusammengehörige Kirchencantaten Bach’s Dichtungen der Ziegler zu Grunde. Neues erfahren wir auch aus dem Aufsatze „Die älteste Faust-Oper“. Diese, von dem

Theaterdichter Schmieder verfaßt und von dem Tenoristen Franz Walter componirt, ist schon im Jahre 1798 in Hannover zur Aufführung gekommen. Das Merkwürdigste daran ist die Ungenirtheit, mit welcher Herr Schmieder einen großen Theil des 1790 erschienenen Goethe’schen Faust- Fragmentes in seinen Operntext eingeschlachtet hat. Text und Musik der Gluck’schen Oper „Paris und Helena“ (1779) bilden das Object einer eingehenden kritischen Untersuchung Spitta’s. Er weist nach, daß das von Calsabigi gedichtete Li bretto kein Originalgedicht ist, wie man bisher angenommen hat, sondern die einfache Dramatisirung zweier altrömischen erotischen Elegien, des 15. und 16. Briefes in den „Epistolae“ des Ovid. Die Composition stellt Spitta nicht blos weit höher als Otto Jahn, er zählt sie sogar zu Gluck’s größten künst lerischen Thaten. Der Aufsatz über Pohl’sHaydn- Biographie“ führt uns einen Schritt weiter in die moderne Musik. Die wohlwollende Kritik des Pohl’schen Buches bietet Spitta reichlichen Anlaß, eine Reihe eigener, höchst bemerkenswerther Urtheile über Haydn und die von ihm geförderten Kunstformen anzuknüpfen. Unserem vor trefflichen Pohl war es bekanntlich nicht vergönnt, sein Werk zu vollenden. Nur zwei Bände seines „Haydn“ sind er schienen (1875 und 1882); für den dritten und letzten hinterließ er reiches Material. Neuerdings und recht dringend wiederholen wir den seit zehn Jahren mehr als einmal geäußerten Wunsch: es möchte unser geehrter Freund Mandyczewski, der Erbe und Verwalter dieses Nach lasses, uns bald den fehlenden Schlußband schenken. Den Fabius Cunctator der ewig unvollendeten Händel-Biographie möge er sich nicht zum Vorbild nehmen, sondern, anderweitige Arbeiten zurückdrängend, ein Werk abschließen, welches durch so lange Verzögerung an Interesse unmöglich gewinnen kann. In dem Aufsatze „Beethoveniana“ begegnen wir überaus treffenden und lehrreichen Bemerkungen über Beethoven’s Methode, zu componiren. Die Abhandlung über Spohr’s Oper „Jessonda“ beschäftigt sich mit dem Textbuche eingehender, als mit der Musik. Spohr erzählt bekanntlich in seiner Selbstbiographie, er habe den Plan zu seiner Oper in Paris nach einem zufällig aufgegriffenen

alten Roman „La veuve de Malabar“ entworfen. Von Spitta erfahren wir, daß Spohr sich geirrt haben muß: es gibt keinen Roman, wol aber ein Schauspiel dieses Namens von Lemierre, das 1770 zuerst in der Comédie Française ge geben, auch in Deutschland und Italien zahlreiche Nach bildungen hervorgerufen hat. Spitta’s außerordentliche Literaturkenntniß macht uns mit allen diesen Opern bekannt, welchen der „Jessonda“-Stoff zu Grunde liegt. Zwei be sonders anziehende, mit wohlthuender Wärme geschriebene Aufsätze sind die über C. M. Weber und Niels Gade. Eine der umfangreichsten und interessantesten Untersuchungen beschäftigt sich mit „Spontini in Berlin“. Gleich erschöpfend in der Charakteristik des Menschen wie des Künstlers, bringt dieser Aufsatz vieles Unbekannte und Merk würdige über die dritte Periode Spontini’s, an der Hand von Documenten des königlichen Archivs in Berlin. Mit Recht beklagt und verurtheilt Spitta die vollständige Ignorirung der Spontini’schen Opern aus dieser Zeit, „Olympia“ und Agnes von Hohenstaufen“, seitens der deutschen Bühnen. „Wir haben die Verpflichtung, eine Wiederaufführung der „Agnes von Hohenstaufen“ zu versuchen, denn sie ist die einzige Oper, die an Größe der Anlage und Macht der Gestaltung jener großen Zeit deutscher Geschichte würdig ist, aus der sie ihren Stoff entnimmt.“ Ich konnte den Inhalt der Spitta’schen Aufsätze, zu deren Lectüre ich die Leser aneifern wollte, nur mit dürftigen Schlagworten bezeichnen, und trotzdem habe ich die Grenzen eines erträglichen Feuilletons bereits so weit überschritten, daß eine Würdigung der Studie über Brahms hier nicht mehr Platz findet. Sie ist wol das Gründlichste, musikalisch Eindringendste, was von irgend einem warmen Verehrer über Brahms geschrieben worden. Es sei hier nur aus der Einleitung folgender grundlegende Satz citirt: „Schon Brahms’ früheste Compositionen zeigen den ganzen Mann. Was die ersten Sonaten und Lieder verrathen, ist eine völlige Vertrautheit mit Allem, was deutsche Kunst vor ihm geschaffen hatte. Aber die von dorther gewonnenen An regungen haben bereits das eigene Gepräge angenommen. Die Fähigkeit, Alles, was ihm in den Weg kam, aufzu saugen, hat Brahms sein Leben hindurch behalten; sie ge

hört zu seinen hervorragendsten Eigenschaften. Es gibt keinen Musiker, der in seiner Kunst belesener wäre und so unaus gesetzt geneigt, Neues, vor Allem auch neugefundenes Altes sich anzueignen. Diese thatkräftige Persönlichkeit fühlte nicht das Bedürfniß, neue Welttheile zu entdecken. Sie fand in der alten Heimat genug zu thun und ließ sich durch Schlagworte wie „Epigonenthum“ und „erschöpfte Kunst formen“ nicht im Geringsten beirren. Die Zeit hat bewiesen, daß er recht daran that. In diesen Formen quoll der Born eigener Erfindung, unerschöpflich und überall mit gleicher Stärke.“ Hoffentlich gibt uns bald eine neue große Composition von Brahms den Anlaß, auf Spitta’s Aufsatz zurückzugreifen. Aufrichtig danken wir dem Verfasser dafür, daß er uns mit seinem Buche aus der unerträglich gewordenen Ueberfluthung mit Wagner-Schriften auf eine ruhige, fruchtbare Insel gerettet hat, wo reine Luft uns umweht und ringsum Erquickung und Belehrung sprießt. Anderer Meinung sind natürlich die Wagnerianer, die hinter ihrer göttlichen chinesischen Mauer nur noch Sinn haben für Untersuchungen über den Charakter Eva’s, die Philosophie Wotan’s, den Liebestrank Brangäne’s, das Alter König Marke’s und ähnlicher Heilswahrheiten. Es liegt uns eine Kritik des Herrn Seidl in Leipzig vor, worin dieser von beneidenswerthem Selbstgefühl geschwellte junge Herr erklärt, Spitta’s Buch habe ihn „recht sehr gelangweilt“. So, und warum? „Der Name Richard Wagner wird in dem ganzen voluminösen Band vielleicht vier- oder fünf mal höchstens kurz gestreift — eine solch brennende Frage, eine so sehr die Zeit bewegende und die Gemüther beschäf tigende Erscheinung!“ Ja, was hat denn Spitta’s Buch mit Wagner zu schaffen? Es bringt uns eine Fülle des Neuen und Belehrenden über Bach, Gluck, Haydn, Beethoven, Spohr, Weber, Brahms — ist das nicht ein werthvolles Geschenk für Jeden, den ein ernstes Interesse mit der Ton kunst verbindet? Nein, es ist langweilig und taugt nichts, weil der Name Richard Wagner nur vier- bis fünfmal darin vorkommt. Weiter kann die Parteibornirtheit wirklich nicht mehr gehen.