Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Nr. 10465. Wien, Dienstag, den 10. October 1893 Hanslick, Eduard Wilfing, Alexander FWF Der Wissenschaftsfond.
Georg-Coch-Platz 2 1010 Wien Österreich Wien
Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Herausgegeben von Wilfing, Alexander Projektmitarbeiterinnen Bamer, Katharina Pfiel, Anna-Maria Elsner, Daniel Austrian Centre for Digital Humanities and Cultural Heritage Wien 2024

Sie dürfen: Teilen — das Material in jedwedem Format oder Medium vervielfältigen und weiterverbreiten

Bearbeiten — das Material remixen, verändern und darauf aufbauen und zwar für beliebige Zwecke, sogar kommerziell.

Der Lizenzgeber kann diese Freiheiten nicht widerrufen solange Sie sich an die Lizenzbedingungen halten. Unter folgenden Bedingungen:

Namensnennung — Sie müssen angemessene Urheber- und Rechteangaben machen, einen Link zur Lizenz beifügen und angeben, ob Änderungen vorgenommen wurden. Diese Angaben dürfen in jeder angemessenen Art und Weise gemacht werden, allerdings nicht so, dass der Eindruck entsteht, der Lizenzgeber unterstütze gerade Sie oder Ihre Nutzung besonders.

Keine weiteren Einschränkungen — Sie dürfen keine zusätzlichen Klauseln oder technische Verfahren einsetzen, die anderen rechtlich irgendetwas untersagen, was die Lizenz erlaubt.

Hinweise:

Sie müssen sich nicht an diese Lizenz halten hinsichtlich solcher Teile des Materials, die gemeinfrei sind, oder soweit Ihre Nutzungshandlungen durch Ausnahmen und Schranken des Urheberrechts gedeckt sind.

Es werden keine Garantien gegeben und auch keine Gewähr geleistet. Die Lizenz verschafft Ihnen möglicherweise nicht alle Erlaubnisse, die Sie für die jeweilige Nutzung brauchen. Es können beispielsweise andere Rechte wie Persönlichkeits- undDatenschutzrechte zu beachten sein, die Ihre Nutzung des Materials entsprechend beschränken.

Maschinenlesbares Transkript der Kritiken von Eduard Hanslick.

Nr. 10465. Wien, Dienstag, den 10. October 1893 Hanslick, Eduard Neue Freie Presse Morgenblatt Herausgegeben von Etienne, Michael Friedländer, Max Wien 10.10.1893
font-style:italic; font-weight:bold; Deutsch Transkribus OCR und Lektorat. Transformierung der Daten des Transkribus TEI-Export mit "editions.xsl". Formatierung und Referenzen eingefügt. Letztkorrektur für Zwischenrelease.
Das fünfzigjährige Jubiläum des Wiener Männergesang-Vereins.

Ed. H. Mit Kränzen geschmückt, mit Geschenken be laden, von Lob und Liebe erdrückt, schließt der Wiener Männergesang-Verein das Fest seines fünfzigjährigen Be standes. Was in einem halben Jahrhundert nur immer ge wünscht und verdient werden kann, die Wiener Bevölkerung hat es für sein Schoßkind in eine halbe Woche zusammen gepreßt. In Bild und Schrift, in Rede und Gesang floß das Lob des Wiener Männergesang-Vereins in Einem langen Strom dahin. Ich müßte mich schämen, wollte ich heute, auf das beendete Fest zurückblickend, die Verdienste des Jubilars neuerdings aufwärmen. Sein jüngstes Ehrenmit glied, bin ich zugleich einer seiner ältesten Freunde und habe sein Wirken durch mehr als vierzig Jahre mit herzlichem Antheil begleitet. Es war an einem October-Abend des Jahres 1846, daß ich, damals noch Student, von Dr. August Schmidt in seinen erst drei Jahre alten Verein eingeführt wurde. Ich fand da in einem Vorstadtlocal dreißig bis vierzig Männer versammelt, welche, das Noten blatt in Händen, auf schmalen Bänken saßen und ihre Chöre sangen. Sie gehörten den verschiedensten Gesellschaftsclassen an und verkehrten durchaus kameradschaftlich mit einander. Demokratisch war die Verfassung, demokratisch im besten Sinn die Seele dieser Gesellschaft. In ihren Zusammen künften sollte Musik ihnen den Staub des Lebens fortspülen und sie der Poesie des Lebens wieder zuführen. Eine be redte Illustration des Goethe’schen Ausspruchs: „Man weicht der Welt nicht sicherer aus, als durch die Kunst, und man verknüpft sich nicht sicherer mit ihr, als durch die Kunst.“ Dem Programm wie der Ausführung war an dem Abend anzumerken, daß es sich mehr um ein Ver gnügen handelte, als um ein Studium. Völlig unbefangen gab sich hier noch der gesellige Musiktrieb, diese ursprüng liche Quelle aller Liedertafeln, von der man heute, vielleicht allzu vornehm, sich weit zu entfernen liebt. Außer zwei ein fachen Chören von Schubert sang man an jenem Abend nur leichtere, größtentheils humoristische Stücke, von denen

ein von Zöllner recht witzig componirter „Speiszettelmir in heiterer Erinnerung geblieben ist. August Schmidt ging, sich vergnügt die Hände reibend, mit freundlichem Zu spruch hin und wieder; die zwei Chormeister, Anton Storch und Gustav Barth — Beide unbesoldet — diri girten abwechselnd. Mir war die ganze Sache etwas voll ständig Neues. Wo hätte man auch in Oesterreich vor dem Jahre 1848 dergleichen gefunden? In Wien selbst mußte der Verein bekanntlich einige Jahre incognito bleiben und existirte eigentlich nur, indem man ihn ignorirte. Während in Deutschland seit 30 Jahren die Liedertafeln blühten und nach ihrem Muster bereits ähnliche in Holland, Belgien und Elsaß sich gebildet hatten, gab es in ganz Oesterreich, dem gesangfreudigen und stimmenreichen, nichts Aehnliches. Die Ursache lag einzig in der Bevormundung durch eine Polizei, die aus dem politischen Angstschweiß nie herauskam und in dem Vortrage des „Deutschen Liedeseine Gefahr für die Monarchie witterte. Den „Gesang“ hat man in Oesterreich jederzeit geliebt, auch in den hohen und höchsten Kreisen, aber eine Verbindung von „Männer“ und „Verein“ versetzte die zärtlich wachenden Behörden in böse Aufregung. August Schmidt hatte bekanntlich zuerst den Muth, dreißig Freunde an jedem Freitag Abend zur Uebung im vierstimmigen Männergesang zu vereinigen. Das Gast haus „zum goldenen Löwen“ am Rennweg, wo vor fünfzig Jahren die erste Versammlung stattfand, ist seither demolirt und hat einem gleichfalls sehr musikalischen, aber viel schö neren Hause Platz gemacht: dem von Victor Miller v. Aichholz.

Nach beendeter Liedertafel, um zehn Uhr Abends, be gaben sich die Sänger zu einer anderen, nahrhafteren Tafel in einem bescheidenen Gasthause. Dort konnte ich mein Ge spräch mit Dr. Schmidt fortsetzen und die Bekanntschaft mit den beiden Chormeistern anknüpfen. August Schmidt war eines jener treuherzigen musikpassionirten Originale, wie sie nur im vormärzlichen Wien gedeihen konnten. Dem sehnlichsten Wunsche des Knaben, Musiker zu werden, hatten sich die Eltern entgegengestellt. Aber er begründete und redigirte in Wien eine Musikzeitung, schuf den Männer gesang-Verein, schrieb unermüdlich musikalische Aufsätze und Gedichte. Er lebte nur in der Musik — von ihr konnte er freilich nicht leben. Seinen Unterhalt verdiente er, wie die meisten

Dichter und schöngeistigen Schriftsteller im vormärzlichen Wien — als Beamter. Sobald er sein Bureau in der Staatsschuldenkasse abgesperrt hatte, wußte der Glückliche nichts mehr davon; jetzt war er mit Einem Schlage Musiker und nur Musiker — bis zum nächsten Vormittag 9 Uhr, wo wieder aufgesperrt wurde. Zahllose Schwierigkeiten und Polizei-Sekkaturen ertrug er geduldig, um seinem Männer gesang-Verein endlich ein legales Dasein zu erwirken. Ein hübscher Beitrag ist folgender: Auf Einladung des Gemeinderathes sollte sich 1849 der Männergesang-Verein an einem zu Ehren des greisen Feldmarschalls Radetzky veranstalteten Ständchen und Fackelzug betheiligen. Die Veranstalter bewarben sich um die Mitwirkung einer Militär-Capelle bei diesem Feste und be gaben sich deßhalb zu dem Stadtcommandanten FML. Baron Welden. Dieser schlug ihre Bitte rund ab. Erst als man von anderer Seite ihm vorstellte, daß ein Festaufzug ohne Musikbande unmöglich sei, gab Welden seine Einwilligung, jedoch nur unter der Bedingung, daß die Regimentsbanda (beim Radetzkyfest!) in Civilkleidern erscheine. Da die Militärmusiker nicht im Besitze von Civilkleidern waren, mußten solche in der Schnelligkeit aus den Trödlerbuden herbeigeschafft werden. Daß unter diesen Umständen die Regiments-Capelle eher einer Zigeunerbande ähnlich sah, läßt sich leicht vorstellen. Es war dem braven Manne vergönnt, noch durch volle sechsund vierzig Jahre an dem Wachsen des Vereines sich zu erfreuen und seinen achtzigsten Geburtstag im Kreise seiner Sänger zu verleben. ... Mit dem Chormeister Anton Storch wußte ich nicht viel anzufangen; das finstere Gesicht des schweigsamen Mannes paßte ganz zu seinem verwahrlosten Aeußern und seinen ungefälligen Manieren. Er war ein für sein specielles Fach begabter, insbesondere sehr productiver und populärer Componist. Als entschiedenes Gegenstück zu Storch präsentirte sich dessen College Gustav Barth, eine stattliche, elegante Persönlichkeit von feinen Umgangsformen. Er schien mir ein vornehmeres Talent zu sein als Storch, nach dem Wenigen, das ich von ihm kennen gelernt. Ein sehr hübsches Lied „Ade, du grüner Tannenwald!“, dann ein zartes, melodiöses Chorständchen „Komm’ in die stille Nacht“, auch ein „Soldatentrinklied“ sind mir noch lebhaft gegen wärtig. Aber Barth hat auffallend wenig veröffentlicht; er gehörte zu jenen anspruchsvollen, empfindlichen Naturen, die vor lauter Unverstandensein niemals recht zum Arbeiten kom men. Oft sprach er mir von einer großen Oper, die er aber in Wien nicht einreichen könne, so lange seine Frau (die

berühmte Hasselt-Barth) hier engagirt sei, was ich gerade für einen sehr hilfreichen Umstand erachtet hätte. Gustav Barth hat den Männergesang-Verein und Wien bald ver lassen; seit dreißig Jahren völlig verschollen, vermuthete man ihn kaum mehr unter den Lebenden. Da überrascht uns eben jetzt die willkommene Nachricht, daß der alte Chormeister zurückgezogen in Wiesbaden lebt und herzlichen Antheil nimmt an dem Wiener Jubiläum.

Seit Storch und Gustav Barth ist der Verein mächtig gewachsen an Umfang, Ruhm und Kunstfertigkeit, aber die culturhistorische Bedeutung, welche seine Anfänge hatten, besitzt er längst nicht mehr. Wichtig in diesem Sinn ist nur seine erste Periode gewesen, der Kampf um seine Existenz, die heimliche junge Macht seiner nationalen und politischen Propaganda. Alle die erfolgreichen, weiten Concertreisen, welche der Verein heute unternimmt zur Freude seiner Mit glieder und seiner Zuhörer — sie haben nicht entfernt die Bedeutung jener harmlosen ersten Ausflüge nach Haimbach und Weidling, wo (1844) „Des Deutschen Vaterland“ zum erstenmale in Oesterreich öffentlich gesungen wurde. August Schmidt hatte die Polizei mit keiner Voranzeige dieser Sängerfahrten belästigt, da er bestimmt wußte, daß ein Verbot als einzige Antwort auf sein Ansuchen erfolgen würde. Dem harmlosen Arndt-Reinhardt’schen Liede ging es übrigens in Oesterreich nicht anders, als der blutgierigen Marseillaise in Frankreich: beide waren zeitweilig erlaubt, sogar begünstigt, zeitweilig wieder streng verboten, je nachdem die Regierung eben in ihren politischen Gefühlen wechselte. Dr. Schmidt hatte solche Ausflüge in die Wiener Umgebung zunächst aus dem praktischen Gesichtspunkt geplant, daß die concertfeindlichen Sommermonate seinen Verein nicht blos lockern, sondern vielleicht für immer sprengen dürften. Die Wirkung der „Sängerfahrten“ ging jedoch weit über diese interne Absicht hinaus. Sie wurden bald zu echten Volks festen und waren, um mit August Schmidt zu sprechen, „die ersten Lichtstrahlen, welche erweckend in das deutsche Bewußt sein des Volkes fielen, das dem gesungenen Worte mit ganzer Hingebung zuhorchte, denn für dasselbe existirte da mals noch nicht das von der Censur gefesselte gesprochene Wort“.

Aus der nachfolgenden Periode ragen besonders drei ausdrucksvolle Charakterköpfe hervor: Herbeck, Dumba und Olschbaur. Daß es Herbeck nicht vergönnt sein solle, das Jubiläum des Vereins, seines Vereins, zu erleben, hat Jeden von uns mit schmerzlicher Wehmuth erfüllt. Ihm dankt der Wiener Männergesang-Verein seinen höchsten Aufschwung. Herbeck’s Verdienste um denselben sind bekannt, leben in Aller Erinnerung und wirken heute noch fortbildend nach. Mit unfehlbarer Sicherheit wußte er diesem Chor Kraft und Feuer, sowie die zartesten Schattirungen aufzuprägen. Neben der feinsten Ausgestaltung des Vortrages war die stetige Erweiterung und Bereicherung des Repertoires seine vornehmste Sorge. Als Dirigent übte er eine magische Gewalt; Keiner hat vor oder nach ihm mit gleicher Unmittelbarkeit die Chormassen zu elektrisiren vermocht. Gleichzeitig mit Herbeck wirkte durch volle 25 Jahre Nikolaus Dumba als Vorstand des Vereines. Schon vor 40 Jahren stand er als Sänger von Talent und nicht üblem Aussehen in Reih’ und Glied mit den Uebrigen. Erst seine angestrengte Thätigkeit als Landtags- und Reichsraths- Abgeordneter zwang ihn, die Vorstandschaft des Männer gesang-Vereines niederzulegen; doch hat er nie aufgehört, demselben freundschaftlich mit Rath und That beizustehen. Wo rief überhaupt irgend eine Lebensfrage musikalischer oder bildender Kunst in Wien, ohne daß Nikolaus Dumba ihr ungesäumt Kopf und Hand gewidmet hätte! Auf Dumba folgte als Vorstand des Vereines Dr. Karl Olschbaur. Man hat bei den jüngsten Festlichkeiten wieder sein Rednertalent bewundert. Olschbaur ist ein Gut redner, weil kein Schönredner. Auf die meistens steifen, druck fertigen Gratulations-Ansprachen hatte er immer eine treffende, ungekünstelte, gemüthvolle Antwort. Er besitzt, was manchem berühmten Redner fehlt, zu dem rechten Wort auch den rechten Ton. Ich habe Olschbaur noch als hinreißenden Liedersänger gekannt; sein blühendes Organ erinnerte an die schönsten italienischen Tenorstimmen. Ach, daß so eine Stimme sich nicht wie Gemüse conserviren oder wie ein Landhaus vererben läßt!

Was Alles der Verein in seinen fünfzig Jahrgängen gelebt und gesungen hat, welche Reisen er unternommen und

welche Auszeichnungen empfangen, davon berichtet uns ein stattlicher Großquartband von 650 Seiten, der von dem Fleiß und der Genauigkeit des Verfassers Rudolph Hof mann rühmendes Zeugniß gibt. Es ist dies keine prag matische Darstellung, sondern eine richtige „Chronik“, die Jahr für Jahr alle Erlebnisse des Vereins aufzählt; also mehr ein Nachschlagebuch als eine Lectüre. Einen schlankeren Beitrag, im Ton einer begeisterten Apologie, hat Oskar Teuber mit seiner Festschrift „Fünfzig Jahr’ in Lied und That“ geliefert. In diesen beiden dankenswerthen Publica tionen dürfte auch der neugierigste Liedertäfler Alles finden, was ihn diesfalls noch zu wissen verlangt.

Das große Festconcert des Männergesang-Vereins am 8. October zählte zu den glänzendsten Productionen dieser Art. Um den ungewöhnlich feierlichen Anlaß auch äußerlich zu kennzeichnen, hatte der Verein für dieses Concert die kaiserliche Winter-Reitschule gewählt. Seit dem 25. October 1866 ist dieser prächtige große Raum nicht zu musikalischen Zwecken benützt worden. Damals vereinigten sich unter Her beck’s Direction sämmtliche Männergesang-Vereine Wiens und der Umgebung, 1200 Mann stark, zu einem Monstre-Concert, dessen Ertrag den Familien der im Kriege gefallenen öster reichischen Soldaten zu statten kam. Diesmal wirkten blos 400 Musiker zusammen; die colossale Winter-Reitschule war also nicht sowol nöthig, um die Sänger, als um die reichlich zu strömenden Besucher unterbringen zu können. Lewinsky sprach mit gewohnter Meisterschaft einen Prolog von Fer dinand v. Saar, einem Dichter, dessen edle Persönlichkeit und Begabung einem großen Kreise von Verehrern theuer ist. In dem musikalischen Programm wechselten Perlen des älteren Repertoires mit Novitäten. So hörten wir Schu bert’s unvergleichlichen „Gesang der Geister über den Wassern“, Mendelssohn’sWasserfahrt“, Schumann’s süß träumerisches Ritornell „Die Rose stand im Thau“, den Pilgermarsch aus „Tannhäuser“. In Kremser’s melodiösem „Nachtlied“ erzielte Walter’s herzgewinnender Gesang neuerdings die ihm nie versagende Wirkung. Kremser, der mit Sicherheit und Energie die Chöre leitete, darf auch als Dirigent einen neuen großen Erfolg verzeichnen. Zur ersten Aufführung gelangten drei eigens für das

Jubiläums-Concert geschriebene umfangreiche Compo sitionen für Männerchor und großes Orchester: „Leo nidas“ von Max Bruch, „Phöbos Apollon“ von F. Gernsheim und „Helgoland“ von Anton Bruckner. In ihrer Absicht und Ausführung erinnerten mich diese drei Novitäten an die langen, schwierigen und hochstrebenden Chorwerke, welche (1868) Liszt, Franz Lachner, Esser und Herbeck zu dem fünfundzwanzigjährigen Jubiläum des Männergesang-Vereins gespendet hatten. Ich fand die bis zum Zerspringen gewaltsame Ausdehnung der Grenzen des Männergesangs bedenklich und meinte, nach all den An strengungen, diesen Musikzweig zu höchsten Zielen und selbst ständiger Kunstbedeutung emporzuziehen, werde derselbe doch immer wieder mit eigener Schwerkraft in jene bescheidene Region zurückfallen, die ihm von Haus aus behaglicher und natürlicher ist. Auch in den genannten neuesten Producten dreier geachteter Meister erkenne ich keinen reellen Gewinn; sie bestärken nur den Wunsch, es möge der vier stimmige Männerchor allmälig wieder mehr in seine Heimat, die Lyrik, und in den engeren Kreis einer poetischen Ge selligkeit zurückkehren. Im Vergleich zu jenen im Jahre 1868 aufgeführten Jubiläumschören scheinen mir die vom letzten Sonntag, bei gleich bedenklicher Wahl der Gedichte, noch anspruchsvoller, noch anstrengender, gekünstelter und erfindungsärmer. Man gebe sie einmal ohne Jubiläum und in Abwesenheit der geschätzten Componisten und sehe zu, wie das Publicum, bei aller Zärtlichkeit für den Männergesang- Verein, sich dabei langweilen wird. Um mit einer Com position so spröder Stoffe und so ermüdender Ausdehnung das Publicum zu erwärmen und zu entzücken, dazu gehört das Genie eines Schubert. Auch Sonntags schienen die Zuhörer von den neuen Werken mehr ermüdet als erbaut zu sein, doch bezeigten sie den Tondichtern die ihrem Rang und Namen gebührende Achtung. Es braucht nicht daran erinnert zu werden, daß wir von diesen (insbesondere von dem Componisten des „Frithjof“ und „Achilleus“) ungleich frischere, gehaltvollere Stücke kennen; diesmal haben sie leider der blendenden Technik ein zu großes Uebergewicht über den musikalischen Gehalt eingeräumt und in dem ge waltsamen Streben nach größtmöglichen Effect das Geheimniß der echten Wirkung verloren.