Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Nr. 10477. Wien, Sonntag, den 22. October 1893 Hanslick, Eduard Wilfing, Alexander FWF Der Wissenschaftsfond.
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Maschinenlesbares Transkript der Kritiken von Eduard Hanslick.

Nr. 10477. Wien, Sonntag, den 22. October 1893 Hanslick, Eduard Neue Freie Presse Morgenblatt Herausgegeben von Etienne, Michael Friedländer, Max Wien 22.10.1893
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Charles Gounod. (18181893.)

Ed. H. In Gounod hat das heutige Frankreich seinen bedeutendsten und erfolgreichsten Tondichter verloren. Die zunehmende Verarmung der Opernmusik, wie wir seit De cennien sie in Deutschland und Italien verfolgen, herrscht kaum weniger bedenklich in Frankreich. Zwei vielversprechende Talente, der liebenswürdige Delibes und der noch ungleich bedeutendere Bizet, sind in jugendlicher Manneskraft dahin gesunken. Von Ambroise Thomas, dem 82jährigen Patriarchen, erwartet Niemand mehr Neues. So bleibt denn einzig und allein Massenet mit zwei bis drei Jünglingen, die zu den fürchterlichsten Hoffnungen berechtigen. Gounod, ein weltliches, lyrisch-dramatisches Talent, welches den ersten nach haltig mächtigen Eindruck von Mozart’s „Don Juan“ empfing, hat sich demungeachtet nicht gleich der Oper zugewendet. Wir sehen ihn anfangs mit allem Eifer eines schwärmerischen Katholiken für die Kirche componiren. In Berlin entdeckt er schon 1843 der Familie Mendelssohn sein Vorhaben, ein Oratorium „Judith“ zu schreiben. Von der Ansicht, daß die nächste musikalische Zukunft dem Oratorium gehöre, ist er, nicht zu seinem Nachtheil, bald zurückgekommen. In Paris vermag er den Loreleyklängen der Oper nicht zu widerstehen; ihr widmet er durch mehr als drei Decennien seine ganze Thätigkeit. Erst in den letzten zehn Jahren findet er wieder den Weg zurück von der Bühne zur Kirche, wird Messen- und Oratorien-Componist. So hat sich seine Künstler laufbahn, zuletzt nach ihrem Anfang zurückbiegend, zum Ring geschlossen.

Sappho“ hieß Gounod’s erste Oper (1851). Sie hat nur mäßigen Beifall gefunden, obwol ihr die Meisterschaft einer Viardot in der Titelrolle und der berühmte Name des Textdichters Emile Augier zu statten kam. Aber die ergreifend schöne Schlußscene der Sappho bewies schon allein, daß hier ein echt poetisches, eigenartiges Talent, wenngleich noch tastend, seinen Wirkungskreis erkannt hatte. Auch

Gounod’s zweites Werk, eine große fünfactige Oper mit dem häßlichen Namen „Die blutende Nonne“, ver schwand schnell von den Brettern. So fand denn Gounod in Paris statt des geträumten Lorbeers nur Mühsal und Enttäuschung, wie es fast alle die preisgekrönten französischen Componisten erleben, welche mit frohen Hoffnungen aus Rom heimkehren. Da wendet sich 1859 mit der Oper „Faustdas Schicksal zu Gounod’s Gunsten; freilich nicht so plötzlich, wie man angesichts des beispiellosen Erfolges vermuthen sollte, welcher heute, nach mehr als dreißig Jahren, noch auf allen Bühnen, in allen Sprachen fortwirkt. „Faust“ ist bei der ersten Aufführung im alten Théâtre Lyrique sehr kühl auf genommen worden. Sein Schicksal blieb noch während der ersten dreißig Vorstellungen unentschieden. Beinahe die ge sammte Pariser Presse verhielt sich ablehnend, und ihr musi kalisches Oberhaupt, Scudo, erklärte, es sei außer einem Chor und einem Walzer absolut nichts in der ganzen Oper. Während der Proben drängte man Gounod unablässig zu Kürzungen; ja, noch in der Generalprobe wurde er (wie ich von ihm selber weiß) beschworen, das Liebesduett am Schluß des dritten Actes wegzulassen, da es die ganze Wirkung der vorangehenden Gartenscenen ruiniren müsse! Unter solchen Umständen mochte keine der großen Musik firmen die Partitur erwerben. Endlich fand Gounod einen jungen, unternehmenden Verleger, Choudens, welcher das Geschäft wagte. Für 8000 Francs kaufte er Gounod’s Faust“ und legte damit den sicheren Grund für den gegen wärtigen Wohlstand der Firma. Erst zwei Jahre nach der Première konnte man den Erfolg des „Faust“ und den Ruhm seines Autors als feststehend anerkennen. In Paris hat „Faust“ schon vor sechs Jahren (1887) seine 500. Auf führung erlebt. Nicht einmal Meyerbeer’s „Prophet“, welcher doch zehn Jahre vor dem „Faust“ erschienen war, vermochte damit gleichen Schritt zu halten.

Auch in Wien kam man dem „Faust“ anfangs miß trauisch entgegen. Die oberste Theaterbehörde hatte damals den italienischen Director unserer deutschen Oper, Matteo Salvi, mit einem „Artistischen Beirath“ beglückt, den er hören mußte in Fragen des Repertoires und der Engage ments. Unserem Vorschlag, Gounod’s „Faust“ aufzuführen, opponirte Salvi auf das entschiedenste; er habe die Oper in Darmstadt gehört, sie sei reizlos, lärmend, wagnerisch

und würde in Wien rettungslos durchfallen. Salvi mußte förmlich gezwungen werden, den „Faust“ einzustudiren. Die erste Aufführung (8. Februar 1862) mit der Dustmann und Bettelheim, Ander und Schmid errang einen glänzenden und nachhaltigen Erfolg; schon im October 1890 hatte „Faust“ die 300. Vorstellung erreicht. Die deutsche Kritik hat ihm übrigens das Leben auch nicht leicht gemacht. Rigorose Richter sprachen ihren Bannfluch über „diese Verhöhnung des Goethe’schen Gedichtes“, welche das deutsche Publicum nimmermehr dulden solle. Das deutsche Publicum war anderer Meinung und verstand die beiden Stücke, die in ihrer Absicht und Wirkung nichts mit einander zu schaffen haben, unbefangen auseinander zu halten. Keines von beiden hat dem andern Eintrag gethan, am aller wenigsten bedurfte Goethe’s erhabenes Gedicht der Landes verweisung von Gounod’s reizvoller Musik. Goethe ist toleranter gewesen, als unsere Kritiker; er dachte selbst an die Umgestaltung seines Faust in eine Oper „Mozart,“ sagte er 1829 zu Eckermann, „hätte den Faust componiren müssen. Meyerbeer wäre vielleicht dazu fähig, allein der wird sich wol auf so etwas gar nicht einlassen; er ist zu sehr mit italienischen Opern verflochten.“ Ja, in Bezug auf den zweiten Theil des Faust, welchen der Dichter bekanntlich noch viel höher stellte als den ersten, hat er sogar den Wunsch ausgesprochen, derselbe möchte als Oper für die Bühne be nützt werden. „Wenn die Franzosen nur erst die Helena gewahr werden,“ meinte er, „und sehen, was daraus für ihr Theater zu machen ist!“ Daß Goethe gleich an französische Componisten dachte, ist für unseren Zu sammenhang werthvoll. Goethe theilte nicht die Ansicht Johannes Müller’s, der in KasselStendhal ver sicherte, die Franzosen seien „das undramatischeste Volk der Erde“. Heute erscheint dieses Urtheil noch weit hinfälliger. Insbesondere haben die neueren Componisten Frankreichs sich viel mehr mit deutscher Dichtung und Sitte befreundet, sind viel inniger in deutsche Gefühlsweise eingedrungen, als ihre Vorfahren. Wir besitzen aus neuester Zeit drei französische Opern, welchen Goethe’sche Dichtungen zu Grunde liegen: Faust“ von Gounod, „Mignon“ von Ambroise Tho mas und „Werther“ von Massenet. Die beiden ersten gehören seit Jahren zu den bevorzugten Lieblingen des deutschen Publicums, die dritte beginnt mit gleichem Glück

sich ihnen anzureihen. Wäre dies möglich, wenn sie wirklich nur schnöde Attentate auf Goethe bedeuteten? Ich halte alle drei für ehrlich gemeinte und talentvoll ausgeführte Werke, deren Componisten aufrichtig und liebevoll be müht waren, ihrem Stoffe gerecht zu werden, soweit die nationale Verschiedenheit, welche ja unausweichlich Vieles ins Französische hinüberdenkt und hinüberfühlt, und das Wesen der Oper es zulassen. Unsere Schauspielhäuser wie unsere Opernbühnen müssen unablässig den Vorwurf hören, daß sie Französisches bevorzugen. Sie würden es wahrscheinlich nicht thun, wenn deutsche Componisten ihnen Besseres oder ebenso Wirksames böten. Leider hat das heutige Deutschland äußerst wenige Opern aufzuweisen von der Lebendigkeit, dem melodiösen Reiz und der meisterlichen Bühnentechnik der genannten drei Werke von Gounod, Thomas und Massenet. Der deutsche Kritiker muß, so sehr ihm seine Ideale am Herzen liegen, an solche Productionen stets mit ein bischen Resignation herangehen. Er darf sie nicht an Goethe messen wollen. Die Oper ist eine zu ge mischte, unreine, bedingte Kunstgattung, als daß sie im Stande wäre, einen Faust von der Tiefe und Vollendung des Goethe’schen hervorzubringen, überhaupt den voll kommeneren Organismus einer Tragödie ernstlich nach zuschaffen.

Gounod ist nicht, was man ein Original-Genie nennt; aber einzelne fremde, namentlich deutsche Elemente haben sich mit seiner Individualität so glücklich assimilirt, daß ohne Frage etwas relativ Neues und Eigenthümliches daraus entstand. Seine Musik hat ihre eigene Prägung; man kann bereits von einem „Gounodismus“ in den späteren französischen Opern sprechen. Sein „Faust“ rundet sich nicht zum einheit lichen Kunstwerk, er enthält Stellen von schwacher Erfindung und falschem Effect und entbehrt der vollen Kraft für das Dämonische wie für das Erhabene. Aber als Lyriker schlägt Gounod rührende Herzenstöne an voll Sehnsucht, Schwer muth und Entzücken. Die Gartenscenen im dritten Act und die Volksscenen im zweiten sind in ihrer Frische, ihrem leichten Aufbau und ihrer bis zum Schluß anwachsenden Steigerung Schöpfungen eines glänzenden Talentes und eminenten Bühnenverstandes. Vor dem Erscheinen des „Faust“ war Gounod in Deutsch land beinahe unbekannt. Beinahe, sage ich, denn ein kleines Stück von ihm — mehr ein Einfall als eine Composition — machte bei uns bereits die Runde. In der glücklichen

Laune eines Augenblicks war es Gounod eingefallen, zu dem C-dur-Präludium aus Bach’s „Wohltemperirtem Claviereine selbstständige Melodie zu setzen, welcher jenes unver änderte Clavierstück nunmehr als Begleitung diente. Ur sprünglich für die Violine gesetzt, wurde diese Melodie bald auf alle möglichen Solo-Instrumente übertragen und zuletzt als „Ave Maria“ auch für eine Sopranstimme. Als „Médi tation“ haben wir diese süße, langathmige Melodie von den gefeiertesten Virtuosen im Concertsaale — als „Ave Mariavon den besten Sängerinnen in der Kirche unzähligemal gehört. Sie war der einzige, bescheidene Vorläufer des Faust“ in Deutschland.

Den Erfolg des „Faust“ hat keine zweite Oper Gounod’s erreicht. Am nächsten kommt ihm noch „Romeo und Julie“. Gounod hat dieses Werk 1867 mit noch größerer Liebe und Begeisterung geschaffen, als irgend eine seiner Opern. Das Lieblichste, Zarteste findet sich darin, es fehlt ihm nur der starke Widerhalt des Großen, Kraftvollen. Gounod vermochte nicht der Gefahr der Monotonie zu ent gehen, die schon der Stoff mit sich bringt. Die Liebesduette nehmen einen so großen Raum des Ganzen ein, daß sie zu einer Art Milchstraße zusammenfließen, deren sanftes Licht eine einfärbige Blässe über das ganze Bild breitet. Im Einzelnen anziehend, wirkt „Romeo und Juliedoch ermüdend als Ganzes. Die Wiener Aufführung (1868 unter Dingelstedt) gewann ein besonderes Interesse durch Gounod’s Anwesenheit. Hier ward ihm gestattet, was er in Paris stets vergeblich ersehnt und erbeten: sein Werk persönlich dirigiren zu dürfen. Als Gounod am Dirigenten pult erschien (er trug den ihm vom Kaiser Maximi lian verliehenen Guadeloupe-Orden um den Hals), wurde er vom Publicum mit jubelndem Zurufe be grüßt. Er fühlte sich sehr glücklich in Wien, war auch von der Aufführung ungemein befriedigt. Nur nicht von der Hauptperson, Fräulein Murska als Julie. Diese konnte ihm wol als Coloratur-Sängerin, in der Walzer-Arie, entsprechen, durchaus nicht als dramatische Künstlerin. „C’est un gosier,“ wiederholte er des Oefteren; eine „geläufige Gurgel“, würde Mozart gesagt haben. Schnell erkannte Gounod in Fräulein Ehnn die berufenste Dar stellerin seiner Julie. Warme Stimme, innige Empfindung, überzeugendes Spiel: das waren ihm entscheidende Vorzüge, für die er auf perlende Scalen und Triller gern verzichtete.

Gounod studirte über Hals und Kopf die Partie mit Fräulein Ehnn und sah seine Bemühung reichlich belohnt. Es war die beste Julie, die wir in Wien gehabt haben. Bertha Ehnn schwebte ihm auch für die Hauptrolle einer neuen Oper vor: Francesca di Rimini“. Mit der ihm eigenen lebhaften Beredsamkeit zeichnete er mir damals die Umrisse des Planes. In einem Vorspiel, dessen Schauplatz die Hölle, sollte Dante mit Virgil erscheinen; dieser hieß dann den Florentiner wieder auf die Erde zurückkehren. Hierauf be ginnt erst das eigentliche Drama. Sein Schluß knüpft wieder an das Vorspiel in der Hölle an, welches die Ent wicklung der Handlung vorausgezeigt hat. Gounod’s Vor haben ist nie zur Ausführung gekommen; bekanntlich haben aber nach ihm sowol Ambroise Thomas als Hermann Goetz sich des Stoffes bemächtigt und eine „Francesca di Rimini“ componirt.

Mit sehr wechselndem Glück griff nun Gounod zu ver schiedenen, von einander weit abliegenden Opernstoffen. Eine große Oper, „Die Königin von Saba“, ver mochte ebensowenig durchzugreifen, wie sein für die Opéra Comique geschriebener „Cinq-Mars“, eine Conversa tions-Oper mit tragischem Ausgang nach dem Roman von Alfred de Vigny. Noch zwei Opern hat Gounod für die Opéra Comique componirt: „Philemon und Baucis“ und Mireille“. „Mireille“ wurde in Wien1876 in italienischer Sprache gegeben, mit der Patti in der Titelrolle; die Oper war verspätet, dicht vor dem Schlusse der Stagione, zur Aufführung gelangt und erlebte nur zwei Vorstellungen. Sie hätte deren mehr ver dient. „Philemon und Baucis“ hörten wir 1878 mit der Ehnn, Walter, Rokitansky und Mayerhofer in den Hauptrollen. Der idyllische Charakter des Stoffes ent sprach vortrefflich dem zarten, liebenswürdigen, etwas weich lichen Naturell Gounod’s. Ohne besonders gehaltvoll oder originell zu sein, macht diese Musik doch einen guten Ein druck durch ihre Anmuth und seine Mäßigung. Ich gestehe einige Vorliebe besonders für den ersten Act und glaube, Philemon und Baucis“ würde eine Wiederaufführung ver dienen, jedenfalls mehr, als „Der Tribut von Zamorasie verdient hat. Diese Oper verdankte ihren Erfolg in Wien fast ausschließlich der genialen Darstellerin der Her mosa, Pauline Lucca. Die zehn Jahre, welche auf „Romeo und Julie“ folgten, haben offenbar stark gezehrt an Gou

nod’s Mark. Davon überzeugt uns nicht blos der „Tribut von Zamora“, ein Gounod in der dritten Verdünnung, sondern auch „Polyeucte“ (1878). Religiöse Schwär merei hatte sich wieder einmal Gounod’s bemächtigt und hieß ihn, Glaubenseifer und Märtyrertod in einem musika lischen Drama verherrlichen. Diese religiöse Oper führt nach dem Trauerspiel von Corneille den Titel „Polyeucte“. Gounod war so freundlich, mir Anfangs Mai 1875 einige Stücke daraus in seiner Wohnung vorzusingen. Seine Stimme, weder jung noch kräftig, übte doch einen eigenthümlichen Zauber, denn sie war gut geschult und von inniger, bald sanfter, bald be geisterter Empfindung verklärt. Daß Gounod selbst Sänger war, gereichte seinen Opern zu großem Vortheile, sie sind in den Solopartien wie im Chore durchaus sangbar und wirksam geschrieben. Als junger Mann hat Gounod in einem aus acht Personen (lauter Dilettanten) gebildeten Kirchenchor in der Rue de Bac fünf Jahre lang die erste Tenorstimme gesungen; auch durch sieben Jahre einen Pariser Männergesang-Verein (Orphéon) dirigirt. Was die Oper „Polyeucte“ betrifft, diese Apotheose christlicher Selbst verleugnung und Aufopferung, so hat sie freilich wenig be kehrende Kraft erprobt; der Besuch der Kirchen steigerte sich nicht, aber der des Operntheaters ließ nach. Ueber die Grenzen Frankreichs ist dieses Werk nicht gedrungen. Während der Proben zum „Polyeucte“ arbeitete Gounod bereits an einer neuen großen Oper: „Abälard und Heloise“. Wie leuchteten seine schönen braunen Augen, wie beredt strömten seine Worte, als er mir den Plan dieser Oper entwickelte, welche „eine Verkörperung der höchsten philosophischen und religiösen Ideen“ werden sollte. Der Stoff flößte mir Be denken ein, und ich glaube nicht, daß Gounod stark gefehlt habe, indem er ihn wieder fallen ließ. „Polyeucte“ bildet die Brücke zu Gounod’s letzter, ausschließlich religiöse Musik umfassender Periode. Sie enthält neben Kirchen-Compo sitionen im engeren Sinne (Requiem, Messen) zwei große Oratorien: „Die Erlösung“ (la Redemption) und Mors et Vita“. Das erstgenannte haben wir in Wien1883 im Musikvereinssaale gehört; es ist das Werk eines unver dächtig frommen, aber recht schwach gewordenen Talents. Das zweite, „Mors et Vita“, wollte mir nicht besser gefallen, obgleich ich es in großartig stimmungsvoller Umgebung kennen lernte: in der Londoner Westminster-Abtei. Es ist in dem selben weichlichen, bewußt unschuldsvollen Style, in dem

selben dünnen homophonen Satz geschrieben, wie die „Er lösung“; fast noch redseliger und seichter. Nach seiner Fröm migkeit gehörte Gounod unzweifelhaft in die Kirche, nach seinem Talent ins Theater.

Einen nicht unwesentlichen Zug zu Gounod’s Charakter bild liefert seine literarische Thätigkeit. Quantitativ erreicht sie freilich nicht die vielbändigen Gesammelten Schriften von Liszt, Berlioz oder gar von Wagner. Nur von Zeit zu Zeit, in vereinzelten Journal-Artikeln hat Gou nod seine Ansicht über irgend eine ihn besonders interessi rende Frage veröffentlicht. Wir haben von ihm einen treff lichen Aufsatz über das Dirigiren — worin er den Compo nisten das in Frankreich ihnen vorenthaltene Recht vindicirt, ihre Werke selbst zu dirigiren — eine Einleitung zu Ber liozLettres intimes“, Vorreden zur Oper „Polyeucte“, zur „Redemption“ und Aehnliches. In einem Aufsatze „La critique“ verficht er mit vielem Geiste das Paradoxon, daß Musik-Kritiken nur von berufsmäßigen Tonkünstlern, von Fachmusikern geschrieben werden sollen. Liszt hat dieselbe Forderung noch viel heftiger ausgesprochen. Beide Meister waren wol zu stark interessirt in dieser Sache, als daß ihr Urtheil ganz unbefangen ausfallen konnte. Einen akademi schen Vortrag über Mozart’s „Don Juan“ hat Gounod nachträglich 1890 zu einem Büchlein erweitert, in welchem er, die Partitur Scene für Scene durchgehend, ihre Schönheiten in begeisterter Rede preist und erklärt. Etwas Neues wird man kaum darin finden; aber wer hörte nicht gern einen modernen französischen Opern-Componisten mit solcher Einsicht und Verehrung von Mozart sprechen! Für Gounod ist Mozart das größte Musikgenie und „Don Juan“ das Non plus ultra aller dramatischen Composition. Gounod’s Schriften glänzen von feinen Bemerkungen und geistreichen Einfällen, nur zeitweilig ermüdend durch die maßlos gehäuften Amplificationen — Variirungen desselben kurzen Themas — worein französische Schriftsteller so gern verfallen, wenn sie warm werden.

Gounod war eine durchaus ideale Natur, ein echtes warmes Künstlerherz, neidlos, gerecht und wohlwollend. Frankreich verliert in ihm nicht blos ein glänzendes Talent, sondern auch eine der liebenswürdigsten, geistreichsten Per sönlichkeiten. Die Welt wird dankbar sich noch lange an seinen Melodien erfreuen, aber Paris ist jetzt um eine Anziehungskraft ärmer.