Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Nr. 10493. Wien, Samstag, den 7. November 1893 Hanslick, Eduard Wilfing, Alexander FWF Der Wissenschaftsfond.
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Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Herausgegeben von Wilfing, Alexander Projektmitarbeiterinnen Bamer, Katharina Pfiel, Anna-Maria Elsner, Daniel Austrian Centre for Digital Humanities and Cultural Heritage Wien 2024

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Maschinenlesbares Transkript der Kritiken von Eduard Hanslick.

Nr. 10493. Wien, Samstag, den 7. November 1893 Hanslick, Eduard Neue Freie Presse Morgenblatt Herausgegeben von Etienne, Michael Friedländer, Max Wien 07.11.1893
font-style:italic; font-weight:bold; Deutsch Transkribus OCR und Lektorat. Transformierung der Daten des Transkribus TEI-Export mit "editions.xsl". Formatierung und Referenzen eingefügt. Letztkorrektur für Zwischenrelease.
Hofoperntheater. (Gemma Bellincioni. Georg Müller.)

Ed. H. Mit großer Spannung und ein klein wenig Mißtrauen drängte sich das Publicum zu der jüngsten Aufführung von „Freund Fritz“, um Gemma Bellincioni als Susel zu hören. Eine Welt liegt zwischen der vulcanischen Natur und dem tragischen Schicksal der Santuzza oder Ro sella und dem freundlichen Schwabenmädchen, das sich als Geburtstags-Gratulantin mit Knix und Blumenstrauß ein führt, beim Kirschenpflücken ihr Herz entdeckt und schließlich aus einem leichten Mißverstehen als glückliche Braut hervor geht. Wird unsere heißblütige Italienerin sich wirklich in diese kleinbürgerliche Idylle einleben, nicht blos hinein zwingen? Daß geniale Darsteller solche und noch viel schärfere Contraste mit gleichem Erfolge bewältigt und heute in tragi schen, morgen in heiteren, sogar possenhaften Rollen geglänzt haben, wissen wir aus der Geschichte der englischen und deutschen Schauspielkunst. In der Reihe der weiblichen Künstlerinnen wiederholt sich dieses Phänomen viel seltener, wie das ja ihrer einheitlicheren, begrenzteren Natur und ihrem von der äußeren Erscheinung stärker abhängigen Talent entspricht. Die äußere Erscheinung — da liegt der einzige Punkt, an welchem eine Art von Mißtrauen gegen unsere italienische Susel sich nicht unbegründet erwies. Ihre Per sönlichkeit — aber nur diese — reagirt gegen das Bild, das wir uns von der Susel machen: ein schüchternes Mädchen, unerfahren, rothwangig und kerngesund. Dagegen die lange, hagere Gestalt der Bellincioni, diese großen, dunkel glühenden Augen, diese scharfgemeißelten, bedeutenden Ge sichtszüge — eine Wahlstatt von Gedanken und Schicksalen! Damit sind aber auch alle Bedenken erschöpft, welche bei dem ersten Auftreten Susel’s vielleicht in uns aufsteigen. Haben wir uns mit dieser Aeußerlichkeit befreundet oder wenigstens abgefunden, so lohnt uns sofort der Genuß einer vollendeten Kunstleistung. So wie die Bellincioni die Rolle singt und spielt, wir könnten nicht das Geringste anders

wünschen und haben es niemals besser gesehen. Sie hat ihre Aufgabe nirgends zu hoch gegriffen, nirgends zu stark ange faßt; kein Accent, keine Bewegung verrieth die eminente Tragödin. Ihr Blut und ihr Talent triumphiren im Sturm der Leidenschaften, aber ihrem Kunstverstand fehlt nicht die Empfindlichkeit der feinen Wage. Davon hat jede Scene uns überzeugt. Susel’s Verschämt heit im ersten, ihre aufblühende Neigung zu Fritz im zweiten Act, im dritten endlich der Wechsel von Schmerz und un verhoffter Freude — es war Alles echt, natürlich und von seelischer Anmuth durchhaucht. Ja, manche Stelle, die durch ihre hohe Stimmlage und declamatorische Uebertreibung leicht zu falschem Pathos verleitet — wie die biblische Er zählung am Brunnen — sang die Bellincioni viel maßvoller, als unsere deutschen Sängerinnen. Nach Fritzens Abreise sinkt sie nicht gleich vernichtet zusammen; ihre Ent täuschung äußert sich, sehr richtig, anfangs als bitterer Verdruß. Sie zerpflückt hastig den für Fritz gewundenen Strauß, und erst allmälig löst sich ihr Mißbehagen in Trauer und Thränen auf. Kurz: eine große Kunstleistung und ein großer Erfolg. Ein Erfolg, der, wie mir scheint, nicht allein die Sängerin, sondern auch das Publicum ehrt. Denn dieses hat, ein wenig voreingenommen, doch sofort die echte Künstler schaft der Bellincioni selbst in der ihr ferner liegenden und recht undankbaren Susel-Rolle erkannt und gefeiert, trotz San tuzza und Rosella. Undankbar ist die Partie hauptsächlich durch Schuld des Componisten. Ich will die rein persönliche Empfindung nicht verhehlen, daß Mascagni’s Opern mir bei jeder Wiederholung weniger Eindruck machen, um nicht zu sagen, einen unangenehmeren. Nach längerer Pause, wie sie ja so förder lich ist zur Richtigstellung unseres Urtheils, habe ich gelegent lich des Bellincioni-Gastspiels die „Cavalleria“ sowie Amico Fritz“ wieder gehört und die Dürftigkeit ihrer musikalischen Erfindung fast peinlich empfunden. In der Cavalleria“ wird sie durch das Aufgebot materieller Mittel verdeckt, und der Contrast dieser Massengewalt hebt wiederum das nur durch flachen Wohlklang wirkende, unverdient be rühmte Intermezzo. „Freund Fritz“ entbehrt die dramatisch fortreißende Gewalt der „Cavalleria“, aber zu seinem Vor

theil auch die Rohheit derselben. Das musikalische Flickwerk im „Freund Fritz“, die Methode des Melodie-Anstückelns springt jedesmal deutlicher in die Augen. Der zweite Act enthält geistreiche Einfälle, Partien von feinem Lustspiel glanz. Aber rechts und links davon? Ein erster Act, der einfach Null ist, und ein dritter, welcher mit aller An strengung es nicht über das Banale hinausbringt; beide unver blümt langweilig. Das Geschäft, uns über diese musikalische Armuth zu täuschen, müssen die harmonischen Nadelstiche besorgen, womit Mascagni die allergewöhnlichsten Melodien ausstattet. Sie thun, was nur in ihrer Macht steht, uns das Gehör zu ruiniren. Die einfachen Grundgesetze der Harmonie sind in der Natur begründet, nicht willkürlich, und ebenso unverletzlich wie in der Sprache die Gesetze der Declination und Conjugation. Wenn Wilhelm Tell, um den schlichten Anfang seines Monologs „pikant“ zu machen, spräche: „Durch dieser hohler Gasse muß er gekommen“, so würde man ihn schwerlich weiter anhören. In der Musik aber läßt man sich alles Mögliche gefallen, so lange gefallen, bis man selber nicht mehr wissen wird, ob im Molldreiklang die große oder die kleine Terz und ob als Leitton ein ganzer oder ein halber Ton richtig ist.

Wir haben das Künstlerpaar Bellincioni-Stagno noch einmal gehört: im großen Musikvereinssaal. Concerte, von Opernsängern veranstaltet, gewähren selten eine reine Be friedigung; sie bringen Allerlei, Vielerlei und doch selten etwas Rechtes. Auch das Programm der Bellincioni spielte in allen Farben und mehrte noch die Besorgniß, es würde diese geniale dramatische Sängerin, abgetrennt von den scenischen Hilfsmitteln, hinter ihren Opernleistungen empfind lich zurückbleiben. Für dieses Mißtrauen hat sie uns mit der schönsten Ueberraschung bestraft. Wie der Troubadour Bertrand de Born in Uhland’s Ballade sich rühmt, jeder zeit nur der Hälfte seines Geistes zu bedürfen, so hat die Bellincioni thatsächlich mit der Hälfte ihres Könnens, näm lich der rein gesanglichen, ihr Auslangen und ihren Sieg gefunden. Ja, sie zeigte im Concert eine neue Seite ihres Talents, welche in den jüngsten italienischen Opern keine Berücksichtigung findet: Geschmeidigkeit im leicht verzierten

Gesang und fröhliche Munterkeit in scherzhaften Strophen. Beides wirkte aufs effectvollste zusammen in einer Serenata von Massenet und einem spanischen Lied von Barbieri. Aus Opern hatte sie nur die Scene der Chimene („Pleurez, pleurez mes yeux“) aus Massenet’s „Cid“ und das Gebet der Elisabeth aus „Tannhäuser“ gewählt. Eines wie das andere recht undankbar für den Concertvortrag; das erste, weil es ohne die Handlung unverständ lich, das zweite, weil es langweilig wird. Die Bellincioni sang beide Arien mit vollendeter Noblesse und mit Ver meidung aller stark theatralischen Accente. Sie erlaubte sich in keinem ihrer Vorträge andeutende Gesten; einzig ihr wunderbar bewegliches Mienenspiel und ihr leuchtendes Auge halfen den Inhalt des Gesungenen erklären und beleben. Ihre Mimik begleitet so spontan und unmittelbar jede Wen dung des Gedichtes, daß wir niemals den Eindruck des Gewollten oder Gemachten empfangen. Mit dem Vortrag zweier Lieder von Lassen und Rubinstein in der ihr gänzlich fremden deutschen Sprache wollte die Italienerin offenbar dem Wiener Publicum eine Artigkeit erweisen. Das Wagstück gelang, aber es war mit großer, fast ängstlicher Vorsicht ausgeführt. In diesen Liedern, sowie in zwei Romanzen von Tosti und de Leva erwies sich die Stimme der Bellincioni ungemein biegsam und modulationsfähig für jede Klangfarbe. So haben wir sie denn auch im Concertsaal als seelenvolle, feinfühlige Sängerin kennen gelernt und erwidern ihren Abschiedsgruß mit einem herzlichen: Auf Wiedersehen!

Unmittelbar nach Gabillon’s vierzigjährigem Jubiläum am Burgtheater begeht jetzt das Hofoperntheater ein ähn liches Fest: den fünfundzwanzigsten Jahrestag des Ein trittes von Georg Müller. Für einen ersten Tenoristen bedeuten 25 Jahre angestrengter Thätigkeit ungefähr so viel, wie für den Schauspieler vierzig. Zählt man die fünf Jahre hinzu, welche Müller vor seinem Wiener Engagement an anderen Bühnen zugebracht, so fragt man sich unwillkürlich, ob es denn möglich sei, daß dieser Sänger, welcher heute wie ein schmucker Vierziger aussieht und ein Kapital an Stimmkraft besitzt, wirklich schon dreißig Jahre lang singe?

Fürwahr, ein seltenes Geschenk der Natur — und doch kein bloßes Geschenk. Müller’s eigenstes Verdienst mußte hinzu treten: seine musterhafte Lebensführung und weise Schonung der Stimme. Er hat sich drei böse, gegen das deutsche Tenoristengeschlecht verschworene Dämonen vom Leibe ge halten: das Rauchen, Trinken und Wagnersingen. Unwan delbar hielt er stets an dem Grundsatz, daß auch für den Opernsänger die Kunst des Singens das Erste und Wichtigste sei; eine alte Wahrheit, die erst heute eine ver altete gescholten wird. Ihn berauschten nicht die materiellen Effecte seiner schönen Stimme, jene mühelos hervor geschmetterten hohen B und C, denen der Applaus folgt „wie die Thrän’ auf die Zwiebel“. Wir sehen ihn schon in den ersten Jahren sorgfältig an der Veredlung seiner Gesangs technik arbeiten, und in diesem Streben ist er nicht still gestanden. Seit Meister Walter’s Abgang hat Müller hier keinen Rivalen in Mozart’schen Tenorpartien noch in jenen italienischen, welche eine schön verbundene Cantilene und aus geglichene Coloratur verlangen. Als Müller im Frühjahr 1868 hier gastirte, siegte er rasch über mehrere zum Theil namhafte Concurrenten. Ich erinnere mich lebhaft seines ersten Auftretens. Groß, schlank, brünett, im Gegensatz zu den meist blond und klein gerathenen deutschen Tenoristen, erschien Müller schon durch sein Aeußeres vorzüglich geeignet für Heldenrollen. Er hat bis heute ein großes Gebiet des Heldenfaches erfolgreich behauptet, insbesondere jenes, das auch dem lyrischen Element Raum gibt. Kein „Raoul“ hat seit einem Vierteljahrhundert ihn ausgestochen. Am glück lichsten schien mir Müller jederzeit in der Darstellung einfacher Charaktere, bei denen auch der leidenschaftliche Affect auf dem Grunde ernsten, schlichten Gemüthes ruht: Nemorino, El win, Don José. Es liegt in dem Wesen dieses Sängers ein Zug von Redlichkeit und Treue, welcher unmittelbar sympa thisch anspricht und Gestalten, wie die erwähnten, mit über zeugender Kraft ausstattet. Jeder Schein von eitler Selbst bespiegelung müßte sie Lügen strafen. An Müller’s Liebhaber rollen hat man nie einen Zug von Geckenhaftigkeit oder Gefallsucht wahrgenommen, wie er beispielsweise die besten Leistungen Wachtel’s verunziert hat. Ernst und Wahrhaftig keit kennzeichnen jede einzelne Rolle Müller’s, wie seine ganze

Künstlerlaufbahn. Zumeist in den starken Partien des älteren Repertoires beschäftigt, hat Müller doch noch in jüngster Zeit mit Erfolg neue Rollen geschaffen. Die Wirkung seines vor trefflichen Turiddu in der „Cavalleria“ vermochte der Sici lianer Stagno nicht zu erreichen.

Dem Publicum lieb und werth als Künstler, ist Müller für das Theater ein unschätzbares Mitglied. Die Direction hat ihn niemals unzuverlässig, launenhaft, ungefällig ge sehen, vielmehr stets bereit, sie aus Verlegenheiten zu retten. Wie oft ist er in den letzten Monaten für heiser gewordene Collegen plötzlich eingesprungen, auch an zwei Abenden nach einander in anstrengenden Rollen! In einer der letzten Hugenotten-Vorstellungen konnten wir uns an der unge schwächten Kraft und Ausdauer Müller’s erfreuen, gleichwie an dem unverminderten Beifall seines Publicums, mit wel chem der Sänger jetzt die silberne Hochzeit feiert. Das ist das Seltene, herzlich Erfreuende bei Müller’s Jubiläum, daß es von keiner Sorge, keinem Abschiedsgefühl verbittert wird. Wie jeder Künstler, dem das Glück langjährigen Wir kens zutheil geworden, muß jetzt auch Müller jüngere Kräfte an seiner Seite emporstreben sehen, welche mit ihm den Beifall der Zuhörer theilen. Adolphe Nourrit, Frankreichs erster Masaniello, Robert und Raoul, klagte, als neben ihm Duprez aufkam: „Du prez hat einen ungeheuren Vortheil über mich — er ist neu. Mich kennt das Pariser Publicum auswendig.“ Das darf unsern Jubilar nicht anfechten; das Publicum hat ihn neben seinen älteren Collegen geliebt, es wird ihm nicht untreu werden neben seinen jüngeren. Dem Wiener eignet von altersher der liebenswürdige Zug, daß er für seine ersten Künstler ein persönliches In teresse, eine fast familienhafte Zuneigung empfindet. Diese Theilnahme erstreckt sich über die Bühne hinaus auf die Person, auf die Schicksale, auf das Familienleben des Schauspielers. Georg Müller genießt nicht blos als Künstler, sondern ebenso sehr als Mensch allgemeine Hochschätzung; er wird dessen inne werden, wenn er morgen in derselben Rolle auftritt, mit welcher er vor fünfundzwanzig Jahren sich dem Wiener Hofoperntheater angetraut hat.