Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Nr. 10552. Wien, Dienstag, den 9. Januar 1894 Hanslick, Eduard Wilfing, Alexander FWF Der Wissenschaftsfond.
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Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Herausgegeben von Wilfing, Alexander Projektmitarbeiterinnen Bamer, Katharina Pfiel, Anna-Maria Elsner, Daniel Austrian Centre for Digital Humanities and Cultural Heritage Wien 2024

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Maschinenlesbares Transkript der Kritiken von Eduard Hanslick.

Nr. 10552. Wien, Dienstag, den 9. Januar 1894 Hanslick, Eduard Neue Freie Presse Morgenblatt Herausgegeben von Etienne, Michael Friedländer, Max Wien 09.01.1894
font-style:italic; font-weight:bold; Deutsch Transkribus OCR und Lektorat. Transformierung der Daten des Transkribus TEI-Export mit "editions.xsl". Formatierung und Referenzen eingefügt. Letztkorrektur für Zwischenrelease.
Concerte.

Ed. H. Zur ungeschicktesten Stunde, die man nur wählen kann, um halb 2 Uhr, haben die Sänger des Hof operntheaters daselbst ein Concert zum Vortheile des Pensions-Institutes gegeben. Es war eine von den „Gemischten Akademien“ (wie man früher sagte), welche immer einen gemischten Eindruck hinterlassen, auch wol ungemischte Lang weile. Schon der Anblick des stummen Orchesterraumes mit seinen verwaisten Pulten und leeren Stühlen stimmt über aus trübselig in einem Opernhause, welches die besten In strumentalisten der Welt besitzt und im Orchesterklang seine mächtigste Wirkung. Hätte man wenigstens irgend eine Ouvertüre vor diese Procession von Solovorträgen gesetzt, wir wären voll dankbarer Gefühle gewesen! Im Opern hause gar Opernscenen bei Clavierbegleitung hören zu müssen, das ernüchtert den Zuhörer und beleidigt den Genius loci. Da tritt Herr Grengg im Frack vor die Rampe und singt, das Notenblatt in Händen, den „Charfreitagszauber“ aus Wagner’s „Parsifal“ — wo bleibt da noch das kleinste Restchen von „Zauber“! Wollte man uns damit demon striren, wie wenig musikalischer Kern in dieser Composition stecke, wenn man sie von dem scenischen Apparat und dem Orchester-Colorit losschält — dann freilich ist der Zweck er reicht worden. Auch das Frauen-Duett aus dem ersten Acte von DelibesLakmé“ — die einzige Novität auf dem Programm — erreicht nur die halbe Wirkung ohne die so feine, lieblich murmelnde und wiegende Orchester-Begleitung. Die Damen Forster und Kaulich sangen das Stück sehr nett, obendrein in französischer Sprache, wie scharf aufhorchende Zuhörer behaupten. Das Duett lehnt sich merklich an Auber’sche Vorbilder — klingt es doch fast wie eine Er weiterung des reizenden Zwiegesanges aus Haydée: „C’est la fête au Lido“. Bestechende Anmuth und Klangschönheit ist ihm aber nicht abzusprechen. Die Sängerinnen van Zandt und Frandin mußten es in Paris regelmäßig wieder

holen. Warum hat man in Wien noch nie an die Aufführung der ganzen Oper gedacht, die seit zehn Jahren auf den bedeutendsten Bühnen heimisch ist? Man bemängelt nicht ohne Grund, daß ihr dritter Act an Wirkung abfällt. Aber wie viele moderne Opern besitzen wir denn, vom Freischütz“ und der „Weißen Frau“ angefangen, deren dritter Act nicht herabsänke gegen die früheren? Gewiß hat „Lakmé“ noch andere Schwächen, und doch ist sie nicht zu übersehen, nicht zu übergehen bei dem erschrecken den Mangel an guten neuen Opern. Ich finde mehr Geist und mehr Musik darin als in den „Rantzau“ oder den Pagliacci“ ... Das Liszt’sche Arrangement von Schu bert’sAllmacht“ ist für Tenor-Solo, Männerchor und Orchester geschrieben und nur in dieser Fassung effectvoll. Herr Winkelmann sang es mit einem winzigen Chor bei Clavierbegleitung. Letztere wurde obendrein zu diesem und anderen Gesangstücken zu schwach gespielt. In dem Duett aus „Lakmé“ lechzte das Ohr förmlich nach einem deutlichen Grundbaß unter dem luftigen Terzengeflatter der beiden Frauenstimmen. Es ist ein Irrthum so vieler, sonst sehr verläßlicher Begleiter, daß man nicht zart genug accompag niren könne; er rächt sich besonders in großen Räumen, wo die Hörer an volles Orchester gewöhnt sind. Viel besser wirkte die Clavierbegleitung von Fräulein Gisela v. Ehren stein zu den Liedervorträgen ihrer Schwester Louise v. Ehrenstein. Man merkte sofort, daß ein leben diges, energisch mitfühlendes Wesen am Piano sitze, kein theilnahmslos nachfolgender Schatten. Frau v. Ehrenstein, Frau Forster, Fräulein Mark, Fräulein Beeth, Herr Reichmann, Herr Schrödter — Jede und Jeder sang nacheinander drei oder vier Lieder. Böse Menschen haben keine Lieder; aber gute, sehr gute Menschen haben mitunter böse Lieder. So viel Salon-Sentimentalität und Alltags heiterkeit haben wir selten in Einem Zug genossen. Schade, daß Herr Reichmann für gut fand, statt der ursprünglich angekündigten Arie des Grafen Rudolph aus Boïeldieu’s Rothkäppchen“ die nur zu bekannte „Margareth’ am Thorezu singen. Glücklicherweise hatten wir zwei Tage vorher uns an seinem vortrefflichen Hans Heiling erfreut; aus der

Margareth’“ würde sich kaum Jemand ein Bild von den Wirkungen dieses eminent theatralischen Sängers gemacht haben. Ueberhaupt gilt dies mehr oder minder von allen in diesem Concert beschäftigten Künstlern und Künstlerinnen. Sie wurden zwar sämmtlich viel stürmischer applaudirt und öfter gerufen als an Opernabenden — das Publicum war in einer geradezu krankhaft wilden Beifallsstimmung — trotzdem glaube ich, daß sie in jeder ihrer Rollen bedeutender dastehen, als es in unserer Matinée der Fall war. Zwischen den hohen, dichten Liedergarben stand ein einziges Instru mental-Blümchen: die bereits rühmlich anerkannte junge Geigerin Rosa Hochmann. Sie spielte mit reiner Intona tion und zierlichster Technik zwei Salonstücke und ein drittes dazu. Den Beschluß des Concertes machten die in Wien auffallend selten gehörten reizenden „Zigeunerlieder“ von Brahms für gemischtes Quartett und Clavier. Diese interessanteste Nummer des Programms hat leider den mäßigsten Beifall errungen. Die Zuhörer waren gleichzeitig zu satt (von Liedern) und zu hungrig (nach leiblicher Nahrung). Gesungen wurde das Quartett mit aller Sorgfalt von Fräulein Mark, Frau Kaulich, den Herren Schittenhelm und Grengg, begleitet aufs beste von Herrn Mader. Nur waren die schnellen Tempi fast durchweg zu rasch genommen — zu rasch wenigstens für die Dimensionen der Großen Oper, die eine klarere Auseinandersetzung, also ein minder hastiges Zeitmaß erheischt, als ein kleiner Saal. Für einen solchen, auf intime Wirkung, sind aber die „Zigeunerlieder“ that sächlich berechnet. Und so wären wir denn schließlich wieder bei unserer Thesis angelangt: daß jede Musik ihren ent sprechenden Raum verlangt und Alles nicht blos seine rechte Zeit hat, sondern auch seinen rechten Ort.

Eine englische Clavier-Virtuosin, Miss Ethel Sharpe, hat im Bösendorfer-Saal sehr viel Beifall und mehr Kränze, Bouquets und Blumenkörbchen eingeheimst, als man in einem gewöhnlichen Fiaker nach Hause bringen kann. Die von dem verehrten Director des Royal College of Music, Sir George Grove, warm empfohlene Künstlerin muß außer dem noch viel nachdrücklichere Recommandationen mitge bracht haben, denn die ganze vornehme englische Colonie

war in ihrem Concert versammelt; in den ersten Sitzreihen herrschte durchwegs englische Conversation. An Miss Sharpe haben wir zuerst ihr Programm zu loben; es ist etwas ganz Ungewöhnliches, daß eine junge Pianistin sich mit Schumann’s Fis-moll-Sonate und den beiden Rhapsodien op. 79 von Brahms einführt. Mit so ernstem künstlerischen Sinne verbindet Miss Sharpe ein bedeutendes Können. Bravour, Kraft und Ausdauer besitzt sie in nicht gewöhn lichem Grade; besondere Vorliebe hegt sie offenbar für leidenschaftliche, stürmisch bewegte Musik. Trotzdem hat sie uns zumeist in dem seelenvollen Andante der Schumann’schen Sonate befriedigt, jener schwärmerischen „Aria“, welche Schumann aus einem älteren (erst kürzlich erschienenen) Lied „An Anna“ herüber gerettet. Miss Sharpe spielte dieses sehnsuchtswunde Liebeslied mit klarer und tiefer Empfindung. Dieser Vortrag bewies ihr echt musikalisches Fühlen und Denken, das wir in den stürmischen Allegrosätzen fast ein wenig angezweifelt hätten. Scherz und Finale der Schumann’schen Sonate, sowie die Rhapsodien von Brahms waren zwar richtig aufgefaßt und feurig wiedergegeben, aber häufig überstürzt und, was noch schlimmer, durch unaus gesetzten Pedalgebrauch verwischt. Man sehe sich nur den Anfang dieser Stücke mit ihrem fortwährenden Harmonien wechsel an und erwäge, wie das klingt, wenn je vier Tacte lang die Dämpfung gehoben bleibt. Miss Sharpe kommt vom Pedal gar nicht los, und so läßt sie uns die Umrisse der Melodien und deren harmonischen Grund nur wie durch eine Staubwolke sehen. Diese leidige Staubwolke erschwert uns leider auch ein völlig gerechtes Urtheil über Miss Sharpe’s Spiel. Nur wenn sie jene abscheuliche Gewohn heit ablegt, wird man recht verstehen, was und wie sie spielt. ... Eine neue Erscheinung war auch die Sängerin Fräulein Margarethe Petersen, welche in Miss Sharpe’s Concert mit entschiedenem Erfolge aufgetreten ist. Sie besitzt einen kräftigen, volltönenden, dem Alt zuneigenden Mezzosopran. Ihre glockenreine Intonation — ein Nationalvorzug der schwedischen Sängerinnen — ihr musikalisches Verständniß und schlichter, unaffectirter Aus druck haben gleich nach dem ersten Lied (Schumann’s Widmung“) für die Sängerin eingenommen. Brahms

tiefergreifender Gesang „Immer leiser wird mein Schlummerverlangt einen leiseren, durchgeistigteren Ton, eine fast leidend angehauchte Stimme, um ganz überzeugend zu wirken. Fräulein Petersen singt mit aufrichtiger und tiefer Empfindung, aber der Ausdruck dieser Empfindung hat etwas eigenthümlich Gefesseltes, Einfärbiges, wie wir es bei nordischen Sängerinnen öfter beobachtet haben. Zwischen einem schönen piano und einem schönen forte vermißten wir einen größeren Reichthum an Nuancen. Mit ausge zeichnetem Erfolg sang Fräulein Petersen Heuberger’s Morgenständchen“ und ein schwedisches Lied von Kjerulf, dem sie auf allgemeinen Wunsch ein zweites nachfolgen ließ. Ihr schönes kräftiges Organ und eine günstige Bühnenerscheinung dürften der Sängerin für die Oper zu statten kommen.

Ueber Fräulein Marie v. Timoni haben wir bereits öfter mit Vergnügen berichtet. Sie gehört zu den nicht allzu häufigen jungen Pianistinnen, welche Temperament und rhythmisches Gefühl besitzen. Ihr diesjähriges Concert ver sammelte ein sehr zahlreiches Publicum; das ist an sich schon eine Kunst angesichts des rapiden Sinkens der Clavier concert-Actien und des Thermometers obendrein. Eine Auf frischung der nahezu stereotyp gewordenen Programme unter nahm Fräulein Timoni mit zwei originellen, effectvollen Kleinigkeiten von Smetana: „Slepiczka“ (Die Henne) und „Polka de concert“. Der Geist dieser Compositionen kam der witzigen Natur Fräulein Timoni’s sympathisch ent gegen. Die stärkste Seite ihres Talentes entfaltet sie in an muthig bewegter Bravour, in pikanter Rhythmik, in zier lichem Passagen- und Trillerschmuck. Für die Gesangsstellen wünschten wir manchmal mehr und süßeren Ton. Bei ruhigerer Haltung würde Fräulein Timoni’s Spiel noch besser wirken. Ihr begeistertes Mienen- und Geberdenspiel beruht gewiß nicht auf Affectation, kann aber doch leicht den Schein davon erregen. Ein ungedrucktes Clavierquintett von Karl Frühling, einem jungen Wiener Componisten, habe ich leider versäumt. Fräulein v. Timoni soll es, von vier tüchtigen Musikern begleitet, sehr beifällig vorgetragen haben. Ein sachkundiger Zuhörer charakterisirt die Composi tion mit den Schlagworten: Viel Gewandtheit bei geringer

Erfindung; größtmögliche Beherrschung der Technik bei aus giebigster Anlehnung an Brahms, Wagner und Grieg.

Das Concert des Violoncell-Virtuosen Herrn Sigmund Bürger, vom Pester Opernorchester, war nur schwach besucht. Daran ist nicht sowol der Künstler schuld, als sein Instrument. Das Violoncell als Solo-Concert-Instrument ist mehr commencement als fin du siècle; unser nervöses Zeitalter wird leicht ungeduldig, wenn ein noch so treffsicher Virtuose sich zwei Stunden lang auf diesem Instrument der dunklen Schwermuth ergeht. Herr Bürger hat oft und erfolgreich in Wien gespielt. Er ist ein solider Musiker, dem Außerordentliches nicht nachgesagt werden kann, weder starke Persönlichkeit, noch großartige Bravour. Er hat einen geraden, ebenen Weg gewählt, auf dem er fest und sicher wandelt. Angenehm berührt an ihm der gänzliche Mangel an Affectation, die Bescheidenheit, mit der er sich selbst in den Hintergrund, die Composition in den Vordergrund stellt.

Eine wahre Erquickung nach den vielen Virtuosen- Concerten bot die Production der „Russischen National- Capelle“, im großen Musikvereinssaal. Das Wiener Publicum kennt und liebt diesen originellen Chor, in welchem Knaben, Männer und Frauen so klangvoll und trefflicher zu sammenwirken. Die prächtig aussehende Führerin dieser Ge sellschaft ist Frau Nadina Slaviansky, gute Sän gerin und tüchtiger Capellmeister in Einer Person. Viele von den jüngst gesungenen Chören begrüßten wir als liebe alte Bekannte. Doch fehlte es auch nicht an neu hinzugekom menen, worunter die von Frau Slaviansky arrangirten Brahms’schen Zigeunerlieder besonderes Interesse erregten. Wieder erfreute man sich an der schönen Uebereinstimmung der Sänger in dem häufigen Wechsel des Zeitmaßes und in allen Schattirungen der Tonstärke. Letztere wissen sie zu einem überraschenden Pianissimo abzuschwächen. An den Liedern selbst, deren lange Reihe allerdings nicht immer der Monotonie entgeht, kann man sich herzlich erlaben. Ein großes, noch unverbrauchtes Kapital steckt in diesen originellen, träumerisch weichen, selbst den Frohsinn schwermüthig an hauchenden Volksgesängen. Rubinstein hat es verstanden, mit glücklicher Hand daraus zu schöpfen.