Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Nr. 10561. Wien, Donnerstag, den 18. Januar 1894 Hanslick, Eduard Wilfing, Alexander FWF Der Wissenschaftsfond.
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Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Herausgegeben von Wilfing, Alexander Projektmitarbeiterinnen Bamer, Katharina Pfiel, Anna-Maria Elsner, Daniel Austrian Centre for Digital Humanities and Cultural Heritage Wien 2024

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Maschinenlesbares Transkript der Kritiken von Eduard Hanslick.

Nr. 10561. Wien, Donnerstag, den 18. Januar 1894 Hanslick, Eduard Neue Freie Presse Morgenblatt Herausgegeben von Etienne, Michael Friedländer, Max Wien 18.01.1894
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Concerte.

Ed. H. Einen selteneren Leckerbissen hätten die „Phil harmoniker“ in ihrem letzten Concert uns nicht credenzen können, als eine Novität von — Cherubini! Es ist un gefähr achtzig Jahre her, daß Cherubini seine „Concert- Ouvertüre“ für die Philharmonic society in London com ponirt hat. Sie ist außerhalb Englands gänzlich unbekannt geblieben und jetzt erst veröffentlicht worden. Ihre Meister schaft läßt sich nicht verkennen, aber auch ihr Alter nicht. Cherubini, der fast nur noch durch seine Ouvertüren fort lebt — die Opern selbst sind, bis auf den „Wasserträger“, nahezu vergessen — zeigt uns auch in dem neu entdeckten Orchesterstück die bekannte würdige Physiognomie und er fahrene Meisterhand. Mit seinen bekanntesten Ouvertüren theilt auch die neue den feierlichen Schritt, das echt fran zösische, theatralische Pathos, das kühle Feuer. Auch ihr hängt wie eine unabsehbare Schleppe die lange, in Wieder holung derselben Schlußphrasen schwelgende Coda an, wie wir sie als unentbehrlichen Schmuck in den Ouvertüren von Méhul, Sacchini, Boïeldieu und vollends in der gefeierten Semiramis-Ouvertüre von Catel finden. Wir haben Cherubini mit Interesse und Hochachtung gelauscht — ein stärkeres Echo vermag der aka demische Pomp seiner Concert-Ouvertüre in den Herzen unserer Zeitgenossen nicht zu wecken. ... Es folgte Liszt’s Orpheus“, dem Umfang nach die kleinste, dem Inhalt nach die ruhigste und einheitlichste seiner symphonischen Dichtungen. Sie wirkt keineswegs abstoßend durch Häßlichkeiten oder Orchesterlärm, wie „Mazeppa“, „Die Hunnenschlacht“, Faust“, entbehrt aber andererseits des packenden Realis mus und der glänzenden Aeußerlichkeit ihrer symphonischen Schwestern. Die Composition gleicht weniger einem ge schlossenen Symphoniesatz, als einer melancholisch fortbrüten den Phantasie über ein recht bescheidenes Thema. Nach Liszt’s „Vorwort“ müsse seine Orpheus-Symphonie eigent lich eine menschheitbefreiende ethische That bedeuten. Streiten

wir nicht über Liszt’s Entdeckung, daß Orpheus in Eury dice „das Symbol des in Uebel und Schmerz untergegan genen Ideals beweint“ — wir glauben, daß er einfach seine Frau beweinte. Aber die vermeintliche Bedeutung des Ganzen beruht auf einem Irrthum. Seinen Schluß worten zufolge beabsichtigte Liszt, „den verklärten ethischen Charakter der Harmonien, welche von jedem Kunstwerke ausstrahlen, zu vergegenwärtigen, die Zauber und die Fülle zu schildern, womit sie die Seele über wältigen, wie sie wogen gleich elysischen Lüften, Weih rauchwolken ähnlich mälig sich verbreiten, den lichtblauen Aether, womit sie die Erde und das ganze Weltall wie mit einer Atmosphäre, wie mit einem durchsichtigen Gewand un säglichen mysteriösen Wohllauts umgeben“. Der Satz ist charakteristisch für Liszt’s Prosa, wie für seine Musik. Dieser „unsäglich mysteriöse“ Orpheus besteht aus lauter zerfließend weicher Musculatur und hat kein Rückgrat. Es scheint ihm im Philharmonischen Concert auch nicht gelungen zu sein, „aus versteinten Herzen brennende Thränen zu locken“. — Großes Aufsehen erregte der jugendliche Violon cellist Jean Gérardy aus Brüssel. Der etwa zwölf- bis vierzehnjährige Knabe verschmäht das Nachsichts-Privilegium, auf welches „Wunderkinder“ Anspruch haben, und tritt als vollwichtiger „Herr Gérardy“ auf. In Wahrheit stellt er als bedeutender Virtuose und echter Musiker jetzt schon seinen Mann. Sein Ton ist freilich schwach, wie nicht anders zu erwarten; mit dem Virtuosen selbst wird er schon wachsen, und dann bleibt uns nichts zu wünschen übrig. Der junge Gérardy spielt mit perlender Geläufig keit, glockenrein selbst in schwierigen Doppelgriffen und Flageoletstellen; er phrasirt mit Geschmack und Empfindung und benimmt sich durchaus natürlich, sicher, unaffectirt. Man lauscht ihm mit Vergnügen und schaut gern in sein hübsches, intelligentes Gesicht. Jean Gérardy ist zweifellos ein großes musikalisches Talent. Seinen Erfolg hat er nur zum kleinsten Theile dem Raff’schen Concert zu danken, das er vortrug. Es gibt so wenig brauchbare Violoncell-Concerte, daß man füglich mit jedem zufrieden sein muß. Warum versucht man es nicht einmal mit dem Concert von Svendsen? Interessirt hat es uns, Joachim Raff, den geschworenen

Zukunftsmusiker, plötzlich so zahm geworden zu sehen. Sein Violoncell-Concert, reines Virtuosenstück, ist so wenig symphonisch gedacht, daß das Orchester nirgends selbst ständig auftritt, sondern durchwegs nur als unterthäniger Begleiter des Solisten. Man schmachtet förmlich nach etwas Polyphonie und Contrapunkt, ja nach ein paar Accorden der Bläser. Das Andante, eine Romanze im Sechsachtel tact, läßt sich gefällig an, geräth aber bald in breiteste Weitschweifigkeit. Der dritte Satz beginnt mit einem Thema von hausbackener Lustigkeit — ist trotzdem ein gar trauriges Stück. Ein halbwegs gutes Violoncell-Concert ist ohne eine reichere und reizvolle Orchesterpartie nicht denkbar. ... Die stets mit Jubel aufgenommene A-dur-Symphonie von Beethoven machte den glücklichen Schluß des Concertes.

Die vortrefflichen Leistungen der Brüder Thern, sowie jene der Sängerin Nicklaß-Kemper sind durch deren alljährlichen Concerte zu sehr bekannt, als daß wir von ihnen diesmal etwas Anderes berichten könnten, als die Thatsache eines vollen Saales und einhelligen, stürmischen Beifalls. Von letzterem entfiel im Concert Thern auch ein gut Theil auf Fräulein Albertine Beer, eine talentvolle Sängerin von anmuthigster Persönlichkeit und wohlklingen der Stimme.

Das Concert des Herrn Eduard Gärtner war ich zu besuchen verhindert, kenne ihn aber von früheren Produc tionen als einen tüchtigen Gesangskünstler. Seine Stimme ist freilich weder groß noch umfangreich, nicht einmal von hervorragendem Wohlklang. Es ist ein hoher, weicher und gut ausgebildeter Bariton und steht, was sehr viel bedeutet, in der Macht eines ungemein musikalischen und talentirten jungen Mannes. Sehr bemerkenswerth war Herrn Gärtner’s Programm. Er sang auch nicht ein Stück, das auf der gewöhnlichen Heerstraße der Concertsänger liegt. Von Schubert’s Liedern und Löwe’s Balladen hatte er durchaus weniger bekannte gewählt, ebenso aus dem reichen Liederschatze von Schumann und Brahms. Herr Gärtner soll sehr gefallen haben und von Herrn Joll vortrefflich begleitet worden sein.

Die portugiesische Kammersängerin Regina Pacini hat mir mehr den Eindruck eines interessanten Phänomens

— um nicht zu sagen Curiosums — gemacht, als den einer fertigen Künstlerin. Sie imponirt durch ihren ungewöhn lichen, dritthalb Octaven umspannenden Stimmumfang und eine gleichfalls ungewöhnliche wilde Kehlenfertigkeit. Die Stimme selbst ist ziemlich schwach und reizlos. Einigen Wohllaut kann man ihr nur im Mezza voce und den schnel len Pianissimoläufen zugestehen; sobald die Sängerin eini germaßen „Ton geben“ will, klingt das Organ rauh und unedel. Ihre Coloratur glückte am besten im Staccato; die Legato-Passagen hingegen geriethen häufig ungleich und verwischt. In dem Vortrage der Pacini herrscht eine gewisse Kühnheit, aber kein geläuterter Geschmack. Ihren Mangel an feinerer Empfindung verrieth insbesondere die Walzer-Arie aus Gounod’s „Mireille“. Wem der Vortrag dieser Arie durch Adelina Patti unvergessen ist, der wird mit seinem Lobe für Fräulein Pacini haushälterisch um gehen. An starkem Beifall hat es der Sängerin übrigens nicht gefehlt. Sie mußte sogar die bekannten Prochschen Variationen da capo singen, welche schon ohne Wiederholung um einmal zu viel sind. — Der Violin-Virtuose Herr Simonetti, welcher in dem Concert der Pacini mitwirkte, bildet in mancher Hinsicht ein Gegen stück zu dieser. Sein Spiel ist nicht kühn, nicht groß, aber von tadelloser Sauberkeit und feinem Geschmacke. Turiner von Geburt, aber in London ansässig, scheint Simonetti weniger italienisches Temperament beibehalten, als englisches aufgenommen zu haben. Er ist vollkommener Gentleman, natürlich ein sehr musikalischer, was man bekanntlich nicht jedem englischen nachsagen kann. Wir hörten von ihm die bekannte Romanze von Svendsen und zwei kleinere ge fällige Salonstücke eigener Composition: „Mazurka“ und Madrigal“. Letzterer Titel, für ein Violin-Solo mehr neu als passend, streitet gegen unsere musikgeschichtliche Vor stellung von „Madrigal“. Der ungemein süße Ton, den Simonetti seiner kostbaren Geige entlockt, erinnert an Sarasate, und zwar an den noch nicht übermüdeten Sara sate der früheren Jahre. Er hat vor diesem die solidere musikalische Bildung voraus, welche gegen das Vordrängen kleinlicher, verblüffender Kunststückchen reagirt. Simonetti’s

Bogen besitzt mehr Geschmeidigkeit und Mannigfalt, als Kraft — wenigstens empfindet er keinen inneren Drang, diese geltend zu machen. So glänzenden Passagenflitter er auch leichter Hand ausstreut, seine schönsten Wirkungen ruhen doch im gesangvollen Vortrage. Cantilenen in so reinen Linien, mit so wenig sentimentalen und koketten Zu thaten bekommt man nicht von jedem Virtuosen zu hören.

Es ist, so lange das Quartett Rosé besteht, vielleicht noch nicht vorgekommen, daß in seinem ganzen, acht Abende umfassenden Programm nur eine einzige Novität gestanden hat. In diesem negativen Resultate wird Rosé’s Quartett noch übertroffen von dem Hellmesberger’schen, welches in dieser Saison gar nichts Neues bringt. Die Production auf dem Gebiete der Kammermusik scheint augenblicklich zu stocken. „Wenn an 130 Componisten Preisopern schreiben,“ ruft der Redacteur der „Signale“ aus, was kann da viel für den Concertsaal übrig bleiben?“ Herr Rosé hat mit seinem diesjährigen Solitär wenigstens guten Geschmack be wiesen: er spielte mit Herrn Ignaz Brüll eine neue Suite für Violine und Clavier von Goldmark. Für diesen Namen war er der Sympathie aller Musikfreunde sicher. Wol in Erinnerung daran, daß eine Violinsuite (op. 11) es war, die nebst der „Sakuntala“-Ouvertüre seinen Ruhm begründete, ist Goldmark jetzt wieder zu jener Form zurück gekehrt. Das neue Werk entfernt sich übrigens in Form und Inhalt so weit als möglich von unserer Vorstellung einer Suite; mit seinen vier umfangreichen Sätzen: Allegro, Andante, Scherzo, Finale, ist es noch immer mehr Sonate als Suite. Es ist natürlich, daß die fortschreitende Zeit alle Kunstformen weiter entwickelt, bereichert, umgestaltet; die moderne Suite besteht längst nicht mehr, wie die Bach’sche, aus sechs bis acht kurzen Tanzstücken von gleicher Tonart. Aber irgend ein Element ihres ursprünglichen Wesens sollte doch beibehalten bleiben, wenn man den Namen beibehalt. Für die zumeist charakteristische Eigenschaft der Suitenform halten wir die leichtere, melodiösere Fassung, den volksthümlich anklingen den Inhalt, das Durchklingen von Tanz, Lied, Marsch. Selbst die ausgeführtesten modernsten Werke dieser Form, wie die beiden Serenaden von Brahms, sogar Goldmark’s eigene

Ländliche Hochzeit“ haben echteren Suitencharakter als dessen neueste Kammer-Composition. Diese beginnt (wie die erste Suite) mit einem Allegro, das nach einem gesangvollen Mittelsatz un verändert repetirt wird, also in Form der üblichen Scherzos. Goldmark setzt mit einem markirten, marschartigen Thema ein, verliert aber schnell die Lust, es in gleich faßlicher ge fälliger Rhythmik weiterzuführen und abzurunden; er zieht uns in die Unruhe leidenschaftlicher Modulation und Chro matik. Glücklicher wirkt der zweite Satz, ein sehnsüchtig singendes Andante der Geige über synkopirten Accorden. Die Stimmung wird aber nicht festgehalten, sondern zwei mal unerwartet durchbrochen — anderer Tact, andere Ton art, anderes Tempo — bis schließlich die erste Melodie zurückkehrt. Der dritte Satz ist der einzige, dessen Thema an die Tanzform mahnt, eine Art bekümmerter Ländler in B-moll; sein zweites Motiv in Des-dur gibt Anlaß zu einem lang durchgeführten interessanten Canon all’ ottava. Der leb hafteste, auch umfangreichste Satz ist das Finale; mehr das Product geistreicher Arbeit, als leicht und reichlich fließender Erfindung. Die rhythmische Monotonie der sechs Achtel und das zähe Festhalten an einer und derselben Figur beginnen eben die Totalwirkung zu gefährden, da führt ein schmettern des Hornmotiv uns gleichsam ins Freie und beschließt das Ganze in fröhlichem Aufschwung. Die kräftige Originalität und Jünglingsfrische von Goldmark’s Erster Violinsuite oder seinem Clavierquintett möge man von der Zweiten nicht erwarten; doch wird man auch dieses, von geistreichen Wendungen reich durchzogene Werk durchaus mit lebhaftem Interesse hören und sich namentlich an den beiden mittleren Sätzen erfreuen. Die Novität wurde von den Herren Rosé und Brüll vortrefflich gespielt; insbesondere hat es uns ge freut, Ignaz Brüll, das Muster eines ebenso feinfühligen und bescheidenen, als technisch tadellosen Interpreten ernster Musik, wieder einmal am Clavier zu sehen. Die Novität ist überaus günstig aufgenommen worden. Goldmark mußte nach jedem Satz aus seinem Versteck hervorgeholt werden, um für den stürmisch anhaltenden Beifall des Publicums zu danken.