Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Nr. 10567. Wien, Mittwoch, den 24. Januar 1894 Hanslick, Eduard Wilfing, Alexander FWF Der Wissenschaftsfond.
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Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Herausgegeben von Wilfing, Alexander Projektmitarbeiterinnen Bamer, Katharina Pfiel, Anna-Maria Elsner, Daniel Austrian Centre for Digital Humanities and Cultural Heritage Wien 2024

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Maschinenlesbares Transkript der Kritiken von Eduard Hanslick.

Nr. 10567. Wien, Mittwoch, den 24. Januar 1894 Hanslick, Eduard Neue Freie Presse Morgenblatt Herausgegeben von Etienne, Michael Friedländer, Max Wien 24.01.1894
font-style:italic; font-weight:bold; Deutsch Transkribus OCR und Lektorat. Transformierung der Daten des Transkribus TEI-Export mit "editions.xsl". Formatierung und Referenzen eingefügt. Letztkorrektur für Zwischenrelease.
Hofoperntheater. („Mirjam“, Oper in drei Aufzügen von L. Ganghofer, Musik von Richard Heuberger.)

Ed. H. Herrn Richard Heuberger brauchen wir den Freunden dieses Blattes nicht erst vorzustellen. An sei nen Liedern erfreuen sich die Hörer, an seinen Musik- Feuilletons die Leser. Im Philharmonischen Concert haben wir ihn als interessanten Symphoniker, in den Gesang vereinen als effectvollen Chorcomponisten, in der Musik- und Theater-Ausstellung als feurigen Dirigenten kennen gelernt. Auch der Bühne steht er nicht als Neuling gegenüber. Mirjam“ ist seine dritte Oper. Ihre Vorläuferin, „Das Abenteuer einer Neujahrsnacht“, hat auf deutschen Bühnen Glück gemacht; in Wien kennt man davon nur die brillante Balletmusik aus den Concerten der Philharmoniker. Diese komische Oper (nach Zschokke’s bekannter Erzählung) scheint mir den Ton anzuschlagen, welcher dem graziösen Talent und dem witzigen, munteren Geiste Heuberger’s am natür lichsten ist. Ganghofer’s „Mirjam“ mit ihrer schwerblütigen Lyrik und tragischen Katastrophe kam ihm weniger günstig entgegen. Ueber die Mühsal, zu einem guten Opernbuch zu gelangen, kann Heuberger ein gewichtig Wort mitreden, und er hat es auch gethan. In einem Aufsatze: Ueber Operntexte“, führt er begründete Klage darüber, daß unsere Librettisten die Schwierigkeiten ihrer Aufgabe zu gering schätzen. „Ein brauchbares Opernbuch,“ sagt er, „muß in dem dramatischen Aufbau durchaus musterhaft sein und alle Haupteigenschaften eines guten Stückes, wenn auch oft nur andeutungsweise, enthalten.“ Gerade diese Qualität vermissen wir an Ganghofer’s „Mirjam“. Wiederum ein Beweis, falls es dessen bedürfte, daß ein Componist die Bedingungen eines guten Operntextes genau kennen und doch sich keinen verschaffen kann. Den Versen Ganghofer’s zollen wir gern die spärliche Anerkennung, daß sie zwar nicht gedankenvoll, jedoch freudvoll und leidvoll

besser gereimt sind, als manche gefeierte deutsche Oper. Aber die Hauptsache! Ist das ein Libretto von „musterhaft drama tischem Aufbau“? Besitzt es „alle Eigenschaften eines guten Stückes“? Ganz im Gegentheil. Die Handlung ist dürftig und schlecht motivirt, ein Gespenst längst verblichener, uns völlig entfremdeter Romantik. Charaktere und Situationen sind theils uninteressant und verbraucht, theils unwahrschein lich bis zum Widersinn.

Die Handlung spielt auf deutschem Boden, im 15. Jahr hundert. Sie beginnt mit einem Maifeste, das die Bevöl kerung mit einem kirchlichen Umzuge, Gesang und Tanz feiert. Junker Oswald von Brannenburg (Herr Winkel mann), ein wüster, gefürchteter Nachtschwärmer, findet sich dabei mit seinen Trinkgenossen ein. Einem derselben, Severin, erzählt er, daß er nach durchzechter Nacht sich im Walde schlafen gelegt und wie im „Traume“ eine holde junge Maid erblickt habe. Dieses keineswegs traumgeborene, sondern sehr reale Frauenzimmer (Fräulein Schläger) ist Mirjam, die Tochter des reichen Juden Asser Benaja. Sie erscheint mit ihrer Magd Josepha (Fräulein Mark) gleichfalls auf dem Festplatze und wird sofort von Oswald mit Richard Wagnerscher Entschiedenheit angehalten: „Verweile Mädchen, und kündige mein Urtheil: Leben oder Tod!“ Noch ehe sie dieses Urtheil fällt, wird unter Trompetenschall aus gerufen: „Der Tanz beginnt, die Wahl ist frei!“ So ganz frei ist die Wahl allerdings nicht, sie muß bar bezahlt werden. Der Bursche, der im Licitationswege die höchste Summe auf ein bestimmtes Mädchen bietet, darf mit ihm tanzen. Natürlich verliert Oswald keine Zeit und bietet für Mirjam gleich hundert Ducaten; ein ansehnliches Sümm chen für den „heimatlosen Bettler“, wie er sich selbst nennt. Da durchbricht aber Mirjam’s Vater (Herr v. Reichen berg) plötzlich die Menge und bietet 200, dann 300 Du caten, „daß Jener nicht mit ihr tanze“. Oswald steigert bis auf 5000 Ducaten und legt noch seinen kostbaren Schmuck dazu — vergebens. Benaja besiegt ihn mit zehn tausend und versetzt ihm überdies die niederschmetternde Nachricht, Mirjam werde heute noch mit dem Doctor Micha

Merari vermält. Oswald ruft ihm die Drohung nach: „Dein Kind ist mein! Ich suche und finde sie!“

Der zweite Act zeigt uns, wie er diese Drohung aus führt. Die feierliche Vermälung Mirjam’s mit Micha (Herrn Neidl) hat eben stattgefunden, als Severin (Herr Felix) in unkenntlicher Vermummung hereinstürzt und den be rühmten Arzt beschwört, einem im Walde liegenden Ver wundeten beizustehen. Trotz einbrechender Nacht eilt der menschenfreundliche Mann in den Wald. Seine junge Frau bleibt aber nur wenige Minuten allein — nicht länger, als sie zu einer schwärmerischen Strophe über Frühlingsluft und Fliederduft benöthigt. Da ist auch schon Oswald zur Stelle mit einer stürmischen Liebeserklärung. „Als ich im Wald, den Tod erwartend, lag“ u. s. w. (Nach seiner Erzählung im ersten Act hat er eigentlich seinen Rausch ausschlafen wollen.) Dem Drängen Oswald’s, mit ihm zu fliehen, er widert Mirjam mit strenger Berufung auf ihre Pflicht. Um dieses zwischen Werbung und Ablehnung schaukelnde Liebes duett nicht zu stören, haben Severin und Josepha sich kosend in den Garten zurückgezogen; man weiß wirklich nicht, welcher von diesen verlogenen Vertrauten eine bedenklichere Rolle spielt. Unerwartet bald kehrt Micha zurück; war doch die ganze Geschichte von dem hilflos Ver wundeten ein von dem Junker inscenirter Trug. Oswald wird dem eintretenden Hausherrn als der Sohn eines befreundeten Rabbi und als junger Mediciner vorgestellt, der auf der Durchreise nach Prag begriffen ist. Der edle Micha, der immer Alles glaubt, glaubt ohneweiters auch diese plump improvisirte Fabel und ladet den Fremden als Gast in sein Haus. Den Act beschließt ein leidenschaftlicher Monolog des plötzlich herankeuchenden Benaja; er ahnt sogleich, welchen schrecklichen Gast Micha beherberge. Anstatt aber, wie man vermuthen sollte, unverweilt ins Haus zu eilen und Micha aufzuklären, bleibt er rachedürstend im Vorhof stehen. Zu Beginn des dritten Actes sitzen Mirjam, Oswald und Micha gemüthlich beim Nachtessen. Der alte Benaja geht wahr scheinlich draußen spazieren; er läßt sich noch immer nicht da blicken, wo sein Erscheinen so dringend nothwendig wäre.

Die Ungereimtheiten mehren sich. Micha fordert, kaum daß das Nachtmal begonnen, Mirjam und Oswald auf, zusammen „das Haus zu durchwandern, von einer Thür zur andern“. Die Bühne muß eben leer gemacht werden für Benaja, der endlich eintritt und Micha dringend zu sprechen begehrt. Jetzt wird er doch schnell seinem arglosen Schwiegersohn sagen, wer der gefährliche Gast ist, der drinnen allein mit Mirjam plaudert? Nein, noch lange nicht. Er zieht es vor, in bequemem Lehnstuhl seine Lebensgeschichte zu erzählen: „Einst war auch ich ein Kind des Glücks, wie du geartet, sanft und gut“ u. s. w. Einen Theil dieser Selbstbiographie hat er schon zu Anfang des zweiten Actes dem Micha erzählt; dort wäre Ort und Gelegenheit gewesen, das Ganze zu erledigen. Aber gerade jetzt, wo die Gefahr für Mirjam am größten, beschreibt er, wie einst sein Weib von Oswald’s Vater ent führt und zum Selbstmorde getrieben worden sei. Er selbst habe sich an dem Sohne gerächt, indem er ihn finanziell ruinirte. Noch immer hat Micha keine Ahnung, daß sein Prager Student der Junker Oswald sei! Der passionirte alte Erzähler würde vielleicht ganz vergessen, es ihm zu sagen, hörte man nicht Oswald durch alle Zimmer rufen: Mirjam! Mirjam! „Kennst du den Gast?“ ruft Benaja. „Der Junker! Laß ihn mir und meiner Rache!“ — „Nein,“ erwidert Micha, „ihn schützt des Hauses heil’ges Recht!“ Da haben wir die zwei wohlbekannten contrastirenden Judentypen: den rachsüchtigen Benaja, ein Gemisch von Eleazar und Shylock, und den großmüthigen Micha, der, ein hebräischer Masaniello, seinem Todfeind kein Haar krümmen läßt. Dafür hat übrigens Benaja schon gesorgt, indem er Gift in Oswald’s Becher mischte. Wie kurzsichtig von dem klugen Mann! Da die Tafel längst aufgehoben ist, wird wahrscheinlich ein unschuldiger Diener den Rest aus trinken. Benaja läßt den Giftbecher aufs Gerathewohl stehen und geht wieder mit seinem Schwiegersohn spazieren, damit Oswald und Mirjam ungestört noch ein letztes Liebesduett singen können. Der wilde Junker ist plötzlich ein frommes Lamm geworden; er erklärt sich „von des Hauses Frieden verwandelt und bekehrt“. Nur einen Kuß erbittet er sich

noch. Mirjam verweigert ihn; doch möge Oswald mit seinen Lippen den Rand des Bechers berühren, den sie zum Ab schied leert. Natürlich erwischt sie den vergifteten Wein, dessen Wirkung sich sehr rasch bei ihr einstellt. Sie stürzt zu sammen, singt noch, wie verklärt, eine Vision vom schönen Mai und fügt sterbend die Hände ihres Gatten und ihres Geliebten zusammen.

Was die Wirkung der Heuberger’schen Oper von vornherein gefährden mußte, war dieses unglückliche Libretto. Es ist zu dumm gewesen, es hätt’ nicht sollen sein. Wie viel Mühe, Studium und Talent hat der Componist daran verschwendet! Seine Partitur verräth von Anfang bis zu Ende das edelste Bestreben und gewissenhaften künstlerischen Ernst. Unter dem Einfluß Wagner’scher Musik aufgewachsen, erblickte Heu berger in diesem Styl die geeignetste Kraft, um den Charak teren und Situationen lebendigen Athem einzuflößen. In Mirjam“, herrscht Wagner’s System nicht in der vollen Tristanstrenge — kommen doch einige Chöre und duettirende Stückchen vor — aber doch in den entscheidendsten Kennzeichen. Der halb recitirende, halb cantillirende Charakter der Singstimmen, welche, pla stische Melodienform vermeidend, in nervösem Pathos auf und nieder wogen; der ruhelose, selbstständig arbeitende Webstuhl des Orchesters, der zugleich exaltirte und weichliche Ausdruck der Empfindungen, die Tyrannei des einseitig Dramatischen, des Bedeutsamen in jedem Wort, jeder Phrase — das Alles ist im Grunde Wagnerisch, ganz ab gesehen von einzelnen an Lohengrin, Tristan und die Meistersinger mahnenden Wendungen, denen heutzutage ein deutscher Operncomponist kaum entgehen kann. Von einem so gewandten und geistreichen Musiker wie Heuberger ver steht es sich von selbst, daß er die Technik des Orchesters wie des Gesanges vollständig beherrscht, die wechselnden Stimmungen zu malen, die Personen zu charakterisiren ver steht. Es fehlt in „Mirjam“ auch nicht an unmittelbar ge fälligen oder ergreifenden Stellen; diejenigen, wo Heuberger zeitweilig die usurpirte Herrschaft des Orchesters unterbricht und sie der Singstimme überträgt. Die besten musikalischen

Gedanken tauchen aber nicht im Gesang, sondern im Or chester auf: die Begleitung zu Mirjam’s Worten: „Der letzte Strahl erlosch“, das D-dur-Motiv in dem Liebesduett („Du fliehst mich!“), der G-dur-Satz in der ersten Zwischen act-Musik u. A.

Der Hörer wird dem Verlauf der Oper mit Interesse folgen und sich an vielen schönen Momenten erfreuen. Im Ganzen hat „Mirjam“ trotzdem meine Hoffnungen nicht er füllt, mich weniger befriedigt, als „Das Abenteuer einer Neujahrsnacht“ oder das schöne „Liederspiel“ von Heuberger. Vermuthlich wird ein großer Theil des Publicums, das ja vor Allem Wagner’scher Ausdrucksweise huldigt, entgegen gesetzter Ansicht sein. Ich kann deßhalb die bereits gemeldete Thatsache nicht stark genug nochmals betonen: daß die Auf führung von „Mirjam“ von lautem Beifall und schmeichel haftesten Auszeichnungen des Componisten begleitet war. Unsere Zeit fordert in der Oper, strenger als es ehedem geschah, dramatische Musik. Ich bestehe auf ganz demselben Anspruch; nur ist mir in diesem Begriff Musik das Haupt wort, dramatisch das Beiwort. Auch für die Oper ist Kraft und Originalität der musikalischen Erfindung die erste, wenn gleich nicht einzige Bedingung. Jede gute Oper muß durch strömt, durchleuchtet sein von musikalischen Ideen, die als solche interessiren, und nicht blos als Nachmalerei von Empfindungen und Personen, die uns nicht interessiren. Andere mögen anders fühlen und werden dann auch über Mirjam“ anders urtheilen.

Richard Heuberger steht in seiner besten Frische und Manneskraft. Einsichtsvoll genug, um in seiner „Mirjamweniger einen Erfolg als eine Erfahrung zu schätzen, wird er uns gewiß noch manche wirksame Oper schenken, sobald ein besseres Textbuch ihm einladend und hilfreich die Hand bietet.

Der vorzüglichen Aufführung der (von Heuberger persönlich dirigirten) Novität ist bereits gedacht und das Verdienst der Hauptdarsteller — Fräulein Schläger, Fräulein Mark, Winkelmann, Neidl und Reichen berg — gewürdigt worden.