Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Nr. 10571. Wien, Sonntag, den 28. Januar 1894 Hanslick, Eduard Wilfing, Alexander FWF Der Wissenschaftsfond.
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Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Herausgegeben von Wilfing, Alexander Projektmitarbeiterinnen Bamer, Katharina Pfiel, Anna-Maria Elsner, Daniel Austrian Centre for Digital Humanities and Cultural Heritage Wien 2024

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Maschinenlesbares Transkript der Kritiken von Eduard Hanslick.

Nr. 10571. Wien, Sonntag, den 28. Januar 1894 Hanslick, Eduard Neue Freie Presse Morgenblatt Herausgegeben von Etienne, Michael Friedländer, Max Wien 28.01.1894
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Hector Berlioz und Stephen Heller. (Aus Anlaß der jüngsten Concertaufführung von „Faust’s Verdammniß“.)

Ed. H. Mit Hector Berlioz’ dramatischer Legende Faust’s Verdammniß“ hatte Herr Director Gericke un streitig eine glückliche Wahl getroffen für das letzte Gesell schaftsconcert. Der große Musikvereinssaal war am 21. d. so dicht gefüllt, wie wir ihn selten gesehen haben. Lebhaftes Gefallen äußerte das Publicum an den blendenden Orchester nummern: Rakoczymarsch, Irrlichtertanz und Sylphenballet. Es ist sehr bezeichnend, daß gerade diese drei besten Stücke mit der Faust-Tragödie nichts zu schaffen haben und ebenso gut wo anders stehen könnten. Der Beifall nach den Gesang-Soli schien mehr den Sängern zu gelten als der Composition. Fräulein Mark und Herr van Dyck haben die meist gesangwidrigen und undankbaren Partien Gretchens und Faust’s bewunderungswürdig bewältigt. Uns mit dieser Musik das Bild des Goethe’schen Gretchen und des Goethe’schen Faust vorzuzaubern, das wird freilich kaum einem Sänger gelingen. Besser geglückt ist dem Componisten die dritte Hauptfigur: Mephisto. Seine Serenade ist wol das einzige Gesangstück in dieser „Verdammnis“, das sich einer zusam menhängenden Melodie und gesunder rhythmischer Glieder rühmen kann. Leider wurde sie zu schnell genommen. Solches Tempo verträgt allenfalls der französische Originaltext (wie der vortreffliche Blauwaert bewies), nicht aber das Kies geröll dieser deutschen Worte — selbst im Munde eines Sängers wie Herrn Messchaert, der ein Muster, ein Virtuose in deutlicher Aussprache ist. Außer den Sängern dankte das Publicum auch Herrn Director Gericke, der das schwierige Werk sorgfältig vorbereitet und so präcise herausgebracht hat, als es bei der unzureichenden Zahl der ihm vergönnten Ge sammtproben möglich war.

Anstatt einer neuerlichen Zergliederung des sattsam be kannten und wiederholt besprochenen Werkes möchte ich heute meinen Lesern lieber ein von Berlioz handelndes, inter essantes und noch unveröffentlichtes Schriftstück mittheilen.

Es ist ein Brief, den der geistvolle Componist Stephen Heller mir aus Anlaß meiner Pariser Ausstellungsberichte von 1878 geschrieben hat. Stephen Heller war einer der sehr wenigen intimen Freunde Berlioz’, die in dessen letzten Lebensjahren täglich mit ihm verkehrten. Er hat Berlioz, den Künstler und den Menschen, aufrichtig verehrt und genoß in hohem Grade dessen Zuneigung und Vertrauen. Heller’s Brief ist aus Paris, 1. Februar 1879, datirt und lautet, mit Hinweglassung einiger freundschaftlicher Eingangs- und Schlußworte, wie folgt:

„Schon im Jahre 1838, als ich zuerst nach Paris kam, stand Berlioz ganz apart unter den dortigen Künstlern. Man konnte ihm schon damals den Ruf eines kühnen, nach Großem strebenden Künstlers nicht mehr streitig machen. Seine Werke, seine Reden, sein ganzes Gebahren gaben ihm das Air eines Revolutionärs vis-à-vis dem alten Musik regime, welches Berlioz gerne als abgelebt betrachtete. Ich weiß nicht, ob er Girondin oder Terroriste gewesen, aber ich glaube wol, daß er nicht abgeneigt war, die Rossini, Cherubini, Auber, Herold, Boïeldieu u. s. w., diese „Pitts“ und „Coburgs“ der verderbten Musikwelt, zu Hochverräthern zu erklären und ihnen einen lebensgefährlichen Proceß zu machen. Diese gräulichen Musik-Aristokraten wurden täglich gespielt und sogen mit der Tantième das Mark ihrer Unterthanen, das heißt des Publicums, aus. Aber Paris ist der einzige Ort in der Welt, wo man alle Situationen versteht, und wo man es liebt, den seltsamen unter ihnen nachzuspüren und in einem gewissen Maße Aufmunterung und Beistand zukommen zu lassen. Nur muß diese Situation etwas Absonderliches, eine gewisse Physiognomie, etwas Pathetisches haben. Mit Einem Worte, es muß sich um einen Mann irgend eine Legende ver breitet haben. Und Berlioz hatte deren mehrere. Seine un überwindliche Musik-Passion, die weder Drohungen noch Armuth vermindern konnten; er, der Sohn eines angesehenen, vermögenden Arztes in Grenoble, gezwungen, Chorist in einem der kleinsten Theater zu werden, seine phantastische Liebe zu Miss Smithson, die ihn als Ophelie und als Julie hinriß, obgleich er kein Wort Englisch verstand — endlich seine „Sinfonie fantastique“, welche seine Liebe schilderte, und deren Anhörung die englische Schauspielerin, welche gar nichts von Musik verstand, bewog, seine Liebe zu er

widern — Alles dies gab Berlioz diese Situation, die hierzulande nöthig ist, um die Sympathien gewisser Enthusiasten zu erringen. Diese Art von verständigen, zugeneigten, zu jedem Dienste willfährigen, oft jeder Aufopferung fähigen Menschen findet jedes echte Talent in Paris, vorausgesetzt, daß es sich in einem gewissen Lichte zeigt. So sah ich denn wenige Monate nach meiner ersten Bekanntschaft mit Berlioz, daß er als Haupt und Spitze der verkannten Genies in Paris zu gelten anfing. Er war verkannt, das ist richtig; aber wie ein Solcher, an dem zu verkennen war. Berlioz hat die Verkennung des Talents bis zu einer Würde erhoben; denn die Anerkennung, ja die Bewunderung eines großen Kreises ließ die Verkennung so grell und so unliebsam hervortreten, daß sie Berlioz täglich neue Freunde gewann. Einer etwas mehr philosophischen Natur hätte dieses Gegengewicht hingereicht, ihn glücklicher zu machen. Es beleidigte, kränkte den feinen Sinn der Pariser (ich meine darunter eine gewisse Classe von Menschen), einen Künstler verfolgt, getadelt und in Armuth zu sehen, welcher jedenfalls Proben eines hervorragenden Talentes, eines glühenden Eifers und hohen Muthes gegeben. Und die Franzosen begnügen sich nicht, still platonisch zu lieben, einem Freunde alles Glück zu wünschen und die Dinge walten zu lassen, wie sie wollen. Sie sind thätig, gar nicht faul, legen tüchtig die Hände d’ran und lassen sich nicht bei allen Heiligen beschwören, doch den Mund aufzuthun, um einige enthusiastische Worte zum Besten eines lobbedürftigen verkannten Künstlers von sich zu geben. Das französische Gouvernement in Person des Ministers Grafen Gasparin machte den Anfang und bestellte bei Berlioz ein Requiem; später eine Trauermusik für die Todtenfeier der Juli-Gefallenen. Inzwischen reihten sich alle mehr oder weniger begabten, mehr oder weniger verkannten Kunstjünger und Lehrlinge um ihr verehrtes Oberhaupt. Sie waren die von der Natur gegebenen Apostel, Clienten und Sachwalter Berlioz’. Namentlich waren es die Künstler derer Fächer, welche sich nicht immer durch die Musik, aber von ihren poetischen Vorwürfen, von den pittoresken Programmen angezogen fühlten. Fast alle Maler (die durch gängig für Musik Sinn haben), Graveure, Bildhauer, Architekten waren Anhänger Berlioz’. Zu diesen muß man viele der besten Dichter und Romanciers zählen: V. Hugo, Lamartine, Dumas, de Vigny, Balzac, die Maler Delacroix,

Ary Schefer, welche in Berlioz mit Recht einen feurigen Adepten der romantischen Schule sahen. Alle diese großen Schriftsteller und gänzlich musiklosen Menschen, welche in ihren Dramen bei schauerlichen Scenen einen Walzer von Strauß im Orchester spielen ließen, um die Rührung oder das Entsetzen noch zu steigern (es ist wahr, der Walzer wurde langsam, feierlich, mit Sordinen und einigem Tremolo gespielt), alle diese Leute schwärmten für Berlioz und bethätigten ihre Sympathie in Schrift und Wort. Und endlich gesellte sich zu allen diesen thätigen Verbreitern des alias verkannten Berlioz eine gewisse Zahl, klein, aber ge wichtig, von der vornehmen, der eleganten Welt Paris! Das waren Leute, die auf wohlfeile Art den Ruf von Frei geistern erlangen wollten. Sie sind nicht capable, eine Sonate von Wanhal oder Diabelli von einer Beethoven’schen zu unterscheiden. Aber sie schrien gegen den sündlichen Reiz der modernen Musik; sie spotteten ihrer Stammgenossen, welche in Meyerbeer, Rossini und Auber schwelgten, prophezeiten den Untergang jener lasterhaften, hochaufgeschürzten Melodien und den Sieg einer neuen weltenbewegenden, hehren, ewig männlichen Kunst.

Fügen Sie noch die nicht geringe Zahl guter und echter Musiker hinzu, welche das wirklich Kühne und Großartige, die oft wundersame Originalität, die zauberhafte Orchestri rung zu verstehen wußten, so werden Sie zugeben, daß Berlioz nicht so vereinsamt gelebt und gewirkt hat, wie er selber es liebte vorzugeben. Von 1838 an, noch mehr später, haben einzelne Stücke seiner Symphonien glänzende, ja all gemeine Anerkennung gefunden. Sie wurden da capo ver langt und stürmisch applaudirt. Ich will davon nur an führen den Hinrichtungsmarsch, den Pilgermarsch, die Sere nade in den Abruzzen (Harold), das Fest der Capulets, Stücke aus der Flucht von Egypten, Ouvertüre zum Römi schen Carneval u. s. w. Daß vieles höchst Bedeutende schwachen Erfolg gehabt, ist nicht zu leugnen und schmerzlich, zu sagen. Aber wie viel großen, je größeren Künstlern ist es nicht so ergangen? Schwerlich war je ein Künstler so entfernt von aller Resignation, dieser deutschen Tugend, wie Berlioz. Fruchtlos machte ich den deutschen Plutarch, ihm Züge erzählend aus dem Leben eines Weber, Mozart,

Beethoven, Schubert, Schiller (den er sehr liebte) und An derer. Wenn er so bitter klagte und seine Erfolge verglich mit denen der herrschenden Theater-Componisten, so sagte ich ihm: Lieber Freund, Sie wollen zu viel, Sie wollen Alles. Sie verachten das große Publicum, und Sie wollen von ihm bewundert werden. Sie verschmähen, und zwar mit dem Rechte des edlen, originellen Künstlers, den Beifall der Majo rität und entbehren ihn dennoch schmerzlich. Sie wollen ein kühner Novateur, ein Bahnbrecher sein, und zugleich von Allen verstanden und gewürdigt. Sie wollen nur den Edelsten und Stärksten gefallen, und zürnen dem Kaltsinne der Gleich giltigen, der Unzulänglichkeit der Schwachen. Wollen Sie nicht auch einsam, groß, unnahbar und arm dastehen, wie ein Beethoven, und zugleich umringt sein von den Kleinen und von den Großen dieser Welt, beschenkt mit allen Glücksgütern und Auszeichnungen, Titeln und Aemtern? Sie haben erlangt, was die Natur Ihres Talents und Ihres ganzen Wesens erlangen kann. Die Majorität haben Sie nicht, aber eine geistvolle Minorität bemüht sich, Sie aufrecht und muthig zu erhalten. Sie haben einen ganz besonderen Platz in der Kunstwelt sich errungen, haben viele begeisterte rührige Freunde — ja es fehlt Ihnen auch nicht, Gott sei es gedankt, an tüchtigen Feinden, die Ihre Freunde wach erhalten. Ihre äußere Existenz ist auch seit einigen Jahren gesichert, was nicht zu verachten ist, und endlich können Sie mit Sicherheit auf etwas rechnen, was bis heute von allen Menschen von Geist und Herz geschätzt worden ist: auf eine vollständige Genugthuung, welche Ihnen die Nachwelt bewahrt.

Manchmal gelang es mir, ihn wieder aufzurichten, was er stets mit freundschaftlichen und rührenden Worten zugestand. Besonders gerne erinnere ich mich eines derartigen Erfolges. Es war eines Abends bei dem trefflichen, nun auch dahingeschiedenen B. Damcke. Berthold Damcke, ein geborener Hannoveraner, hatte sich, nachdem er verschiedene Dirigentenstellen in Deutschland innegehabt, im Jahre 1840 als Musik-Kritiker und musikalischer Correspondent in Paris niedergelassen. Er starb daselbst 1875. Diesen und seine Frau, deren Herzensgüte und gastliche Aufnahme hat Berlioz auch in seinen „Memoires“ dankbar erwähnt. Wir

waren dort fast allabendlich versammelt: Berlioz, J. d’Ortigue, ein gelehrter Musik- und Literatur-Historiker, Léon Kreutzer und Andere. Da wurde geplaudert, kritisirt, musicirt, so recht frank und frei. Der Tod hat auch diesen kleinen Kreis gelichtet; in der letzten Zeit waren nur Berlioz und ich bei Damckes. Als nun an jenem Abend Berlioz wieder sein altes Klagelied anstimmte, entgegnete ich ihm in der Weise, wie ich oben erzählte. Ich hatte meinen Sermon geendigt; es war 11 Uhr geworden; eine kalte Decembernacht lag draußen in trauriger Finsterniß. Müde und verdrießlich zündete ich eine Cigarre an; da sprang Berlioz rasch und jugendlich vom Sofa auf, wo er die Gewohnheit hatte, sich mit seinen kothbespritzten Stiefeln hinzustrecken, zum stillen Leidwesen des reinlichen, ordnungsliebenden Damcke: „Ha!“ schrie Berlioz auf, „Heller hat Recht — wie? Er hat immer Recht. Er ist gut, er ist klug, er ist gerecht und weise; ich will ihn umarmen“ — er küßte mich auf beide Wangen — „und dem Weisen eine Tollheit vorschlagen.“ — „Ich gehe auf jede ein,“ sagte ich. „Was wollen Sie be ginnen?“ — „Ich will mit Ihnen bei Bignon (ein be rühmtes Restaurant an der Ecke der Chaussée d’Antin) soupiren gehen. Ich habe wenig zu Mittag gegessen und Ihr Sermon hat mir Lust zur Unsterblichkeit und einigen Dutzend Austern gegeben.“ — „Gut,“ erwiderte ich, „wir wollen Beethoven’s und auch Lucullus’ Gesundheit trinken und unsere Seelenleiden in edelstem Franzwein und an gemessenen Gänseleber-Pasteten ersäufen und vergessen.“ — „Unser Wirth,“ sagte Berlioz, „kann zu Hause bleiben, denn er hat eine liebenswürdige Frau. Wir aber haben keinerlei Frau, und wir gehen ins Wirthshaus — keine Widerrede! Das ist abgemachte Sache.“ Der alte feurige Berlioz war wieder erwacht. Und so schlenderten wir Arm in Arm, scherzend und lachend, die lange Rue Blanche, die ebenso lange Chaussée d’Antin hinunter und traten in den glänzend erleuchteten Salon des Restaurant. Es war halb 12 Uhr, und nur wenige Fremde waren noch da, was uns sehr lieb war. Wir verlangten Austern, Straßburger Leberpasteten, ein kaltes Geflügel, Salat, Früchte, besten Champagner und echtesten Bordeaux. Um 1 Uhr löschte man das Gas, und die Garçons schlichen gähnend um uns (wir waren ganz

allein, die Anderen hatten den Saal verlassen), als wollten sie uns mahnen, aufzubrechen. Man schloß die Thüren und brachte Wachslichter. „Garçon!“ rief Berlioz, „Sie wollen uns durch allerlei Pantomimen glauben machen, es sei spät. Ich aber bitte Sie, uns zwei demi-tasses café zu bringen und auch einige wirkliche Havana-Cigarren.“ So wurde es 2 Uhr. „Jetzt,“ sagte Berlioz, „jetzt wollen wir aufbrechen, denn um diese Zeit liegt meine Schwiegermutter im besten Schlafe, und ich habe die gegründete Hoffnung, sie aufzu wecken.“ Während unseres Soupers sprachen wir von unseren Lieblingen: Beethoven, Shakespeare, Lord Byron, Heine, Gluck, und so beim langen, langsamen Wege nach seinem Hause, unweit dem meinigen gelegen. Es war der letzte heitere, lebendig gesellige Abend, den ich mit ihm verlebt; wenn ich nicht irre, im Jahre 1867 oder 1868. Es war, glaube ich, in demselben Jahre, als er eine Art von Leiden schaft hatte, einigen Freunden Shakespeare in der französi schen Uebersetzung vorzulesen. Man versammelte sich bei ihm Abends 8 Uhr, und er las uns wol sieben bis acht Stücke. Er las gut, aber war oft zu sehr ergriffen; bei besonders schönen Stellen rannen ihm die Thränen von den Wangen. Er fuhr aber fort zu lesen und trocknete die Augen eilends, um sich nicht zu unterbrechen. Bei diesen Vorlesungen waren nur zugegen Damckes und zwei bis drei Freunde. Einer von diesen, ein alter, bewährter Kamerad Berlioz’, aber wenig literarisch gebildet, übernahm aus eigenem Antriebe die Rolle eines Claqueurs. Er hörte sehr angestrengt zu und suchte in den Zügen des Vorlesers und der Zuhörer den rechten Moment zu finden, wo er seinen Enthusiasmus kundgeben konnte. Da er nicht zu applaudiren wagte, erfand er sich eine originelle Beifallsäußerung. Jede ausgezeichnete Stelle mit Bewegung vorgetragen und nachempfunden, wurde von ihm mit einem halbleise ausgestoßenen Fluche begleitet, wie sie in den Volksclassen und in Ateliers gebräuchlich sind. So hörte man denn nach den rührendsten oder heroischen Passagen Shakespeare’s: Nom d’un nom! Nom d’une pipe ! Sacre matin! Nachdem das nun einige dutzendmale stattfand, fuhr plötzlich Berlioz zornig auf und, den Vers

unterbrechend, donnerte er: „Ah! Ça, voulez vous bien ficher le camp avec vos nom d’une pipe!“ Worauf der Andere schreckensbleich die Flucht ergriff, während Berlioz wieder ganz ruhig die Balconscene von Romeo und Juliette aufnahm.

Das, was ich Ihnen einst über Berlioz’ geringes musi kalisches Gedächtniß gesagt, bezieht sich auf moderne Musik, mit der er weniger vertraut war. Aber die Musik, die er studirt hatte, war ihm sehr gegenwärtig. Namentlich die Orchesterwerke Beethoven’s (weniger die Quartette und Clavierwerke desselben), dann die Opern von Gluck, Spon tini, ebenso Grétry, Méhul, Dalayrac und Monsigny. Trotz seines wunderlichen Hasses gegen Rossini war er ein sehr warmer Verehrer zweier Partituren dieses Meisters: „Graf Ory“ und „Barbier von Sevilla“. Berlioz gehörte zu den echten Kunstmenschen, die von jeder in ihrer Weise voll kommenen Production hingerissen und bis zu Thränen ge rührt sein konnten. So war ich mit ihm beim ersten Gast spiel der Adelina Patti im „Barbier“. Sie werden es mir glauben, wenn ich Sie versichere, daß ihm bei den hei tersten, liebenswürdigsten Stücken dieser Oper die Augen überquollen. Was soll ich erst von der „Zauberflöte“ sagen, die ich auch in seiner Gesellschaft hörte. Berlioz hatte einen etwas kindischen Zorn gegen das, was er strafbare Con cessionen Mozart’s nannte. Er meinte damit die Arie des Don Ottavio, die Arie Doña Anna’s in F, sowie die famosen Bravour-Arien der Königin der Nacht. Er war nicht zu bewegen, die relative Vortrefflichkeit dieser aller dings weniger dramatischen Sätze anzuerkennen. Aber wie innig erfreut war ich, den tiefen, gewaltigen Eindruck zu sehen, den die „Zauberflöte“ auf ihn machte. Er hatte sie oft gehört; aber sei es bessere Stimmung oder Wirkung einer vortrefflichen Aufführung, Berlioz sagte mir, nie wäre ihm diese Musik so tief ins Herz gedrungen. Ja, einige male äußerte sich seine Exaltation so laut, daß sich unsere Nachbarn des Parquets, welche sich die Zähne stocherten und ruhig ihr Diner verdauen wollten, über diesen „indiscreten“ Enthusiasmus beschwerten. Eines Abends hörten wir in einem Quartett-Vereine das

Beethoven’sche in E-moll. Wir saßen in einem entfernten Winkel des Saales. Mir war bei Anhörung dieses Wunder werkes wie etwa einem frommen Katholiken, der die Messe hört, mit tiefer Andacht und Inbrunst, aber zugleich mit Ruhe und klarer Besonnenheit: er ist mit dieser hohen Empfindung längst vertraut. Berlioz schien mir ein später Eingeweihter; er war innigst erbaut, aber seiner Andacht gesellte sich etwas wie ein freudiger Schreck vor dem heilig- süßen Geheimniß, das sich ihm offenbarte. Sein Gesicht war wie verzückt beim Adagio — es war wie eine Wandlung in ihm vorgegangen. Es wurden noch andere gute Werke auf geführt. Wir entfernten uns aber, und ich begleitete ihn an sein Haus. Kein Wort wurde gewechselt zwischen uns. Das Adagio betete in uns fort. Als ich von ihm Abschied nahm, ergriff er meine Hand und sagte: „cet homme avait tout ... et nous n’avons rien.“ So zerknirscht, so nieder gedonnert fühlte er sich in dieser Stunde von der Riesen größe des „Mannes“.

Eine kleine Anekdote noch. Nahe beim Hause, welches Damcke bewohnte, Rue Mansard, war auf dem Trottoir ein besonders großer und weißer Pflasterstein eingekeilt. Auf diesen Stein stellte sich Berlioz jeden Abend, wenn wir von der Rue Mansard kamen, um mir gute Nacht zu sagen. Eines Abends (kurz vor seiner letzten Krankheit) trennten wir uns eilig, denn es war kalt und ein dicker gelber Nebel lag auf den Straßen. Wir waren schon zehn Schritte ent fernt, als ich Berlioz rufen hörte: „Heller! Heller! Wo sind Sie? Kommen Sie zurück! Ich habe Ihnen nicht auf dem weißen Steine gute Nacht gesagt!“ Wir finden uns wieder, und nun suchen wir in stockfinsterer Nacht den unentbehr lichen Pflasterstein, der übrigens auch eine besondere Form hatte. Ich ziehe meine Zündhölzchen hervor, aber sie zünden nicht in der feuchten Nachtluft. Wir kriechen Beide auf allen Vieren auf dem Trottoir herum — endlich schimmert uns das verwitterte Weiß entgegen. Berlioz setzt sehr ernsthaft den Fuß auf den edlen Stein und sagt: „Gott sei gelobt, ich stehe darauf — nun gute Nacht!“ Es war unser letztes „Gutenacht“ auf dem weißen Steine.“