Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Nr. 10603. Wien, Donnerstag, den 1. März 1894 Hanslick, Eduard Wilfing, Alexander FWF Der Wissenschaftsfond.
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Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Herausgegeben von Wilfing, Alexander Projektmitarbeiterinnen Bamer, Katharina Pfiel, Anna-Maria Elsner, Daniel Austrian Centre for Digital Humanities and Cultural Heritage Wien 2024

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Maschinenlesbares Transkript der Kritiken von Eduard Hanslick.

Nr. 10603. Wien, Donnerstag, den 1. März 1894 Hanslick, Eduard Neue Freie Presse Morgenblatt Herausgegeben von Etienne, Michael Friedländer, Max Wien 01.03.1894
font-style:italic; font-weight:bold; Deutsch Transkribus OCR und Lektorat. Transformierung der Daten des Transkribus TEI-Export mit "editions.xsl". Formatierung und Referenzen eingefügt. Letztkorrektur für Zwischenrelease.
Hofoperntheater. („Der Kuß.“ Volksoper in zwei Acten von Fr. Smetana. Deutsch von L. Hartmann.)

Ed. H. Das Textbuch zum „Kuß“ ist von einer Dame, E. Krasnohorska, nach der gleichnamigen Erzählung einer andern Dame, Caroline Svetla, verfaßt. Die Vorrede zur deutschen Uebersetzung dieser Novelle schwelgt in Bewunde rung für die „Meisterschaft der Frau Svetla und ihre von dem belebenden Hauche echter Begeisterung durchdrungenen, für alle Zeiten bleibenden Romane“. „Der Leser,“ heißt es weiter, „fühlt sich durch den trefflichen, von echt nationalem Hauche durchwehten Styl und meisterhafte Erzählungskunst mächtig angeregt.“ Ich bin dieser Leser nicht. Mich hat die geschwätzige Breite, mit der eine winzige Begebenheit hier behandelt ist, weniger „mächtig angezogen“ als sachte ge langweilt. Von speciell czechischem Volksgeist kann übrigens kaum die Rede sein in einer Begebenheit, die ausdrücklich an der sächsischen Grenze spielt, also unter der deutschen Bevölkerung Nordböhmens. In Smetana’s Textbuch ist die Localität gar nicht näher bezeichnet, konnte also glücklicher weise den Erfolg der Oper in Prag nicht beeinträchtigen. Die ganze Handlung dreht sich lediglich um einen verweigerten Kuß und könnte zur Noth von den beiden Hauptpersonen, Marinka und Hanno, als Duodrama gespielt werden. Alle Uebrigen haben mit der Handlung so gut wie nichts zu schaffen.

Der junge Bauer Hanno ist Witwer geworden und freit um seine frühere Geliebte Marinka. Ihr Vater gibt seine Einwilligung, meint aber, die Beiden werden nicht gut zusammenpassen, da der eine Theil genau so eigensinnig sei wie der andere. Das zeigt sich nur allzu schnell. Marinka ver weigert ihrem Verlobten einen Kuß. Sein Bitten, Ueber reden, Zürnen — und ihr standhaftes Zurückweisen zieht sich durch die ganze Oper, von der ersten bis zur letzten Scene. Marinka, eine grundehrliche Natur und peinlich gewissenhaft, hängt fest an dem Volksglauben, daß es die Grabesruhe der verstorbenen Frau störe, wenn der Witwer seine neue Braut vor der Trauung küßt. Hanno hat kein Verständniß für diesen Aberglauben, wird zornig und rächt sich an Marinka, indem er vor ihrem Fenster Musikanten aufspielen läßt, mit lustigen Mädchen tanzt und schäkert. Durch diesen Hohn aufs tiefste gekränkt,

flüchtet Marinka aus dem Hause zu einer alten Muhme, die (wie alle alten Muhmen, Ammen, Beschließerinnen im Schauspiel) Brigitta heißt und Helferin einer organisirten Schmugglerbande ist. Es scheint, daß so ziemlich die ge sammte ehrenwerthe Einwohnerschaft vom Schleichhandel lebt. „Die Alte,“ heißt es in der Erzählung, „sah in ihrem Gewerbe durchaus nichts Anstößiges, und so wie sie denken und urtheilen die Leute in unseren Bergen alle.“ Das Haupt der Schmuggler, der alte Matusch (in der Oper Steffan geheißen), wird in der Erzählung recht hübsch charakterisirt: „Er steht an Sonn- und Feiertagen immer unter der Kanzel. Kirche und Predigt — das ist sein Element, er ist sehr gottesfürchtig. Deßhalb betreibt er auch sein Geschäft nicht in der Fastenzeit und entsagt dem Rauchen, damit der Himmel dafür wieder ihn schirme und schütze.“ Auf Zureden Brigittens folgt ihr Marinka in Sturm und dunkler Nacht in den Wald. Dort übernimmt Brigitta von dem frommen, nur zur Fastenzeit pausirenden Steffan einen Pack geschmuggelter Waare und gelangt nach einer ungefährlichen Begegnung mit einem Grenzwächter sammt ihrer geängstigten Begleiterin heil nach Hause. Dort hat inzwischen Hanno, von Angst und Reue gefoltert, die ganze Nachbarschaft zusammengerufen, um Marinka öffent lich Abbitte zu thun und sein Unrecht einzugestehen. Das geschieht, und nachdem zur Abwechslung nun auch einmal Hanno den ihm angebotenen Kuß verschmäht hat, löst sich der Zwist zur allgemeinen Zufriedenheit. In der Original- Erzählung benützt auch der alte Schmuggler die günstige Feststimmung und heiratet seine Verbündete Brigitta. Es gibt also eine Doppelhochzeit, um die wir leider in der Oper verkürzt werden.

Ohne Zweifel bietet diese Dorfgeschichte günstige Motive und Situationen für musikalische Behandlung. Schlichte, durchwegs sympathische Charaktere, volksthümliche Färbung, einfache, wahre Empfindungen. Hätte der Librettist die ungebührlich ausgedehnten Dialoge entschlossen gekürzt und die Scenen enger aneinander gerückt, so konnte „Der Kuß“ ein gutes Textbuch werden. Aehnliches möchte ich auch von der Composition sagen. Sie ist zwar in ihrer jetzigen Ausdehnung überall gute Musik geblieben, mitunter vortreffliche, reizende Musik, aber durch knappere Fassung und sparsamere Wiederholungen würde sie noch erheblich ge wonnen haben. Man wird wol zunächst fragen, wie sich Der Kuß“ zur „Verkauften Braut“ verhalte? Letztere steht

an Werth und Wirkung höher, zunächst schon durch ihr leb hafteres, farbenreicheres Textbuch. Die Handlung der „Ver kauften Braut“ ist ja auch sehr einfach, aber nicht obendrein ermüdend durch endlose Wiederholungen derselben Situation, derselben Reden und Gegenreden. Sie hat eine recht gut geschürzte Intrigue, die mit Hilfe zweier wirksamer komischer Figuren — des Baßbuffo Kezal und des Tenorbuffo Wenzel — lustig fortgesponnen und glücklich gelöst wird. Wirksame Contraste, komische Rollen fehlen im Kuß“; Rollen haben überhaupt nur Hanno und Marinka. Auch für Chöre und größere Ensembles ist hier beiweitem nicht so gut vorgesorgt, wie in der „Verkauften Braut“. Letztere ist zehn Jahre früher componirt (1866) als „Der Kuß“; für seine schwächere Wirkung möchte ich aber keineswegs den Grund in verminderter Schaffenskraft des Componisten, sondern hauptsächlich in den Mängeln des Libretto suchen. Der Styl ist derselbe wie in der „Ver kauften Braut“: schlichte, volksthümliche, Musik; Lied, Arie, Duette und Terzette, überall schön geformte, absolut verständliche und einprägliche Melodien. Diese gesunde, fast möchte ich sagen musikalische Musik verfällt weder in das Extrem pathetischer Ueberschwänglichkeit, noch in jenes possenhafter Trivialität. Die Begleitung maßt sich nirgends die Oberherrschaft und das Commando über den Gesang an, und doch verräth sie überall den gewiegten Harmoniker und Contrapunktisten. Smetana ist ein Mann von Geist, der es verschmäht, mit Absicht „geistreich“ zu reden. In ihrem Charakter erinnert die Musik häufig an Mozart, im zweiten Act auch an Weber. Ja einzelne Melodien, wie Hanno’s D-dur-Andante: „Zu sühnen meine große Schuld“, durchweht ein starker italienischer Hauch. Unseren jetzigen Deutsch-Nationalen dünkt dies ein Verbrechen; mir scheint es eher ein Vorzug. Welch schöne Plastik der Melodie, welch reine, unverstörte Empfindung! Es wäre unseren deutschen Operncomponisten recht sehr zu wünschen, daß sie manchmal zu der klaren Quelle italienischer Musik pilgerten. Bald wird man es auch den Italienern rathen müssen.

Der Kuß“ wie die „Verkaufte Braut“ liefern den Beweis, daß auch in unserer Zeit Musik dramatisch sein kann, ohne ihr selbstständiges Recht, ihr Vorrecht aufzu geben. Und ferner: daß auch in einfachster Form, in naivstem Ausdruck Genialität sich äußern kann. Die Genialität czechi scher Künstler muß man sich freilich nicht als wesentlich himmelstürmerisch, exaltirt, phantastisch, schrankenlos und

trunken vorstellen; ein starker Beisatz von Solidität, von ernster Zucht fehlt ihr niemals; sogar mit einem leichten, schulmeisterlichen Geschmäckchen verträgt sie sich sehr gut. Smetana liebt lang ausgesponnene Orgelpunkte, Reihen von steifen Rosalienfolgen, gewisse contrapunktische Künsteleien u. dgl. Es genirt ihn gar nicht, durch viele Wiederholungen desselben Motivs oder durch langes Festsitzen auf einem Grundaccord ein bischen philister haft zu erscheinen und uns ungeduldig zu machen. Ein großer, heute seltener Vorzug ist der einheitliche Styl in Smetana’s Oper; da ist kein Stück, welches das andere Lügen straft, kein Zug, der eigenmächtig aus dem Rahmen des Ganzen herausspringt. Ebenso ist die musikalische Charakteristik der einzelnen Personen durch keinerlei raffinirtes Zuviel auf die Spitze getrieben. Die Empfindungen des Liebespaares steigern sich nur auf den Höhepunkten — zuerst des Streites, dann der reuigen Verzweiflung — zu heftig leidenschaftlichem Ausdruck. Die übrigen Personen bewegen sich alle auf dem Niveau schlichter, etwas hausbackener Be häbigkeit. Die einzelnen Musikstücke im „Kuß“ sind nicht von gleichem Werth; in manchen läßt sich der Componist bequem gehen und begnügt sich, dem Text gemäß, mit dem Passenden, Zweckmäßigen, ohne viel nach Bedeuten dem und Originellem zu suchen. Als schönste Nummer der Oper erscheint mir das Wiegenlied der Marinka, insbesondere vom Eintritt der A-dur-Melodie „Wie hell am Himmel die Sterne auch steh’n“. Kräftige Fröh lichkeit belebt das Trinklied des Janusch; ein poltern der Humor im Geschmack der älteren komischen Oper die Arie Zarkow’s „Wie ich gesagt“ mit ihren charakteri stischen Septimensprüngen. Echt dramatisch wirkt das erste Finale durch den Contrast zwischen der Seelenqual der ge kränkten Marinka und dem rohen Tanzjubel vor ihrem offenen Fenster. Im zweiten Act erfreut uns das auch in der Ouvertüre anklingende Duett zwischen Hanno und Janusch „Ach armer Freund“. Diesem sowie dem Polkathema begegnen wir mit geringer Abweichung auch in Dvořak’s Slavischen Tänzen“; beide Componisten schöpfen eben, bei aller Selbstständigkeit, aus derselben Urquelle: dem Volks gesang. Auch das Frauenduett im Wald „Kind, was die Lieb’ verlangt“ wirkt ansprechend in seiner altmodischen Treuherzigkeit. Bedeutend im Sinne origineller Erfindung oder technischer Meisterschaft wird Niemand diese und ähn liche Stücke im „Kuß“ nennen, aber ebensowenig dürfte

sich Jemand dem wohlthuenden Eindrucke dieser naiven, frischen und ehrlichen Musik entziehen. Was zu den gegen wärtigen, mitunter bis zur Ueberschätzung getriebenen Er folgen von Smetana’s Opern ganz wesentlich beigetragen hat, braucht wol nicht ausdrücklich gesagt zu werden: es ist die Uebermüdung nach der Wagner’schen Musik. „Die ver kaufte Braut“ und „Der Kuß“ legen sich wie linder Balsam auf unsere durch Wagner zerrütteten Nerven.

Im „Kuß“ wirken unter Jahn’s Dirigentenstab die frischesten Stimmen, die vortrefflichste Scenirung, das schönste Ensemble zusammen, um diese Vorstellung zu einer Perle unseres Repertoires zu machen. Ihr danken wir auch das Ver gnügen, Fräulein Renard wieder in einer neuen bedeutenden Rolle gesehen zu haben. Sie sieht als Marinka bezaubernd aus und singt die Partie ebenso schön, als sie dieselbe wahr und ergreifend spielt. Marinka ist weder musikalisch noch dramatisch so lohnend für die Sängerin, wie Manon oder Lotte; sie steht jedoch ebenbürtig neben diesen beiden mit Recht gefeierten Leistungen der Renard. Nennt man diese drei Rollen, Manon, Lotte und Marinka, so hat man damit auch schon die überragende Bedeutung Fräulein Renard’s und ihre Unersetzlichkeit an unserer Oper constatirt. Die zweite Hauptrolle, Hanno, gibt Herrn Schrödter reichlich Gelegenheit, durch seine jugendfrische Stimme, warme Empfindung und lebhaftes, natürliches Spiel zu wirken. Frau Forster, jederzeit eine hochwill kommene Erscheinung, ist es auch als Clara. Eine kleine Partie, der aber, auffallend genug, das schwierigste Gesang stück in der ganzen Oper zugetheilt ist: das Lied am Ende des zweiten Acts. Es bewegt sich in anhaltend hoher Lage und schwierigen Intervallen, erfordert eine sichere Intonation und geschmeidige Kehle. Frau Forster, welcher auch in den Ensemble-Nummern wichtige Mitwirkung zufällt, hat mit dem kleinen Lied stürmischen Applaus entfesselt. Den Janusch singt und spielt Herr Ritter ganz ausgezeichnet. Herr Grengg, dem wir immer gern ein Extralob für seine deutliche Aussprache anhängen, ist ein vortrefflicher Repräsentant des alten Zarkow. Endlich bilden Frau Kaulich (Brigitta), Herr Mayerhofer (Steffan) und Herr Schitten helm (Grenzaufseher) wichtige und verdienstvolle Bestand theile des vortrefflichen Ensembles, welches diese Muster vorstellung auszeichnet. Der „Kuß“ wurde mit Enthusiasmus aufgenommen, wie die zahlreichen Hervorrufe der Darsteller nach jedem Act bewiesen.