Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Nr. 10624. Wien, Donnerstag, den 22. März 1894 Hanslick, Eduard Wilfing, Alexander FWF Der Wissenschaftsfond.
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Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Herausgegeben von Wilfing, Alexander Projektmitarbeiterinnen Bamer, Katharina Pfiel, Anna-Maria Elsner, Daniel Austrian Centre for Digital Humanities and Cultural Heritage Wien 2024

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Maschinenlesbares Transkript der Kritiken von Eduard Hanslick.

Nr. 10624. Wien, Donnerstag, den 22. März 1894 Hanslick, Eduard Neue Freie Presse Morgenblatt Herausgegeben von Etienne, Michael Friedländer, Max Wien 22.03.1894
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Concerte.

Ed. H. Zwei sehr renommirte Künstler, der Violin- Virtuose Thomson und der Sänger Bulss haben kürz lich hier ihr „Einziges Concert“ vor halbleeren Bänken ge geben. Andere namhafte Künstler (Emil Goetze, Maurel, Nawiawsky) haben auch dieses angekündigte „Einzige Con cert“ nicht gegeben. Daraus könnten sanguinische Concert geber entnehmen, daß das Publicum sich bereits entkräftet fühlt von der unbarmherzigen Concertgeberei, -geherei und -presserei. Seit vielen Wochen beglücken uns allabendlich wenigstens zwei Concerte, sehr häufig auch drei. Wenn die Wiener Musikritiker nach dem Beispiel ihrer Berliner Collegen sich entschließen sollten, täglich von drei Concerten stückweise zu naschen, so erleben wir noch das erhebende Schau spiel, die Herren per Vélocipède vom Musikverein zu Ehrbar und von da zu Bösendorfer sausen zu sehen. Zahl und Nei gung der Wiener Musikfreunde sind nun einmal nicht zu reichend für so massenhaftes Concertangebot. Am meisten leiden die fremden Virtuosen darunter; die einheimischen wissen leichter Zuhörer einzufangen, zahlende und blinde Passagiere, viel leicht auch taube. Und doch — wie Erstaunliches leistet heute die Instrumental-Virtuosität! In den Dreißiger-Jahren wurde als Phänomen bewundert, wer MoschelesVariationen über den Alexandermarsch oder Hummel’s A-moll-Concert spielen konnte. Heute trifft das jeder bessere, nicht einmal „preisgekrönte“ Conservatorist. Nur sind ihrer leider zu viele; die Wunder der Virtuosität sind alltäglich geworden, im Preise gesunken. Daß heute Jedermann sehr gut spielt, dafür spricht beinahe schon die gesetzliche Vermuthung; wir verlangen gar nicht, daß er uns in öffentlichem Concert für unser Geld — vielleicht das Gegentheil beweise. Günstiger stehen immer noch die Actien der Sänger und Sängerinnen; dem Concert-Agenten ist ein passabler Tenorist viel lieber, als der langfingerigste und langhaarigste Liszt-Spieler. Bietet ein Gesangsconcert obendrein Neues, sei es im Inhalt oder in der Form, so ist ein zahlreicher Besuch ihm ziemlich sicher. Drei junge holländische Sänge rinnen, Jeannette de Jong, Anna Corver und Marie Snyders, genossen sogar den seltenen Anblick eines gedrängt vollen Saales. Frauenterzette, auch Duette

hört man fast niemals in Concerten; es lockte also auch das Programm der drei Holländerinnen als etwas Unge wohntes, Unverbrauchtes. Die Seele dieses Terzetts ist die Sopranistin Jeannette de Jong — ein liebliches, kluges Seelchen in einem zarten Mädchenkörper. Die Stimme, von geringer Kraft, klingt süß und rein, dabei stets erfüllt von Intelligenz und Empfindung. Darum erfreut Fräulein de Jong — und sie allein — auch im Sologesang, wäh rend ihre im Trio vortrefflichen Partnerinnen wenig Ein druck machen im einstimmigen Lied. Der Mezzosopran von Fräulein Corver, die Altstimme von Fräulein Snyders, an sich von recht ausgiebigem jugendlichen Klang, haben etwas Einfärbiges, Instrumentales, Unlebendiges. An ihrem Vortrag vermißten wir nicht Schulung noch Verständniß, aber beseelte Individualität. Die Empfindung, an der es ja gewiß nicht fehlt, vermag nicht recht den Ton zu durch dringen; es liegt wie eine Fettschichte dazwischen, etwa wie bei sehr vollwangigen Gesichtern, deren Musculatur die feinsten Erregungen des Seelenlebens nicht wider zugeben vermag. Hingegen wirkten die Terzette der drei Sängerinnen — sie singen Alles auswendig — durch voll kommene Reinheit und schönste Uebereinstimmung in der Tonstärke. Das ist Alles bis in feinste Nuancen studirt, ausgefeilt, ohne in leblose Correctheit zu verfallen. Ein holländisches Terzett von Katharina van Rennes, das drei stimmige Wiegenlied von Cherubini, endlich ein köstlicher Canon aus Martini’s „Cosa rara“ (aus dem knospend schon der künftige Rossini hervorguckt) wirken mit dem vollen Reiz der Neuheit. Auch einige Duette, insbesondere Die Schwestern“ von Brahms, machten Furore. Die Clavierbegleitung besorgte ganz vortrefflich Fräulein Julie v. Asten, bekanntlich eine Wienerin, die im Publicum liebe alte Erinnerungen erweckte.

Einige Verwandtschaft mit Jeannette de Jong hat die junge Frau Bricht, unseren Musikfreunden als Fräulein Agnes Pyllemann wohlbekannt. Ihre Stimme gleicht ebenfalls einer flatternden Psyche, die sich einen Körper sucht. Starke leidenschaftliche Accente sind ihrem Organ, ihrem ganzen Naturell versagt. So lange sie sich auf Lieder von zärt licher oder neckischer Färbung beschränkt und in der Höhe mit ihren sehr hübschen, feinen Kopftönen auslangen kann, wird Frau Bricht-Pyllemann als intelligente und anmuthige Sängerin stets sehr erfreulich wirken. In

den Zwischennummern ihres Concerts bewährten sich die Brüder Thern als die ausgezeichneten Alten. Ganz mili tärisch besitzt Jeder von ihnen seinen Ergänzungsbezirk im Andern. ... Ein eigenes erfolgreiches Concert gab der Ba ritonist Herr Rudolph Oberhauser, ein geborener Wiener. Ganz besonders gefiel sein warmer, kräf tiger Vortrag Löwe’scher Balladen. Auch ein speciell „Slavischer Liederabend“, von Frau Bronislawa Wolska im Ehrbar-Saal veranstaltet, hat ein sehr dankbares Publi cum gefunden. Die Concertgeberin sang Volkslieder in allen möglichen slavischen Sprachen und Mundarten. ... Er götzlich war der Anblick des Bösendorfer-Saales während der Productionen des Gesangsquartetts Udel. Lauter schmunzelnde, lächelnde, lachende Gesichter; eitel Fröhlichkeit oben auf dem Podium, wie unten im Parquet. Es ist nicht das bloße Bedürfniß nach heiterer Musik, sondern ebenso sehr die musikalische Vortrefflichkeit dieses Männer quartetts, was den Andrang zu den Udel-Concerten erklärt. Die vier Herren singen mit außerordentlicher Präcision, und wenn Udel eine Solonummer vorträgt, so wirkt er mit seinem starken komischen Talent für Vier.

Nachdem das „Böhmische Streichquartett“ sich ruhmbedeckt von Wien verabschiedet hatte, bescheerte uns das Quartett Rosé einen besonders interessanten Abend. Vorerst vergönnte Herr Rosé dem D-dur-Quartett von Borodin, das seit seiner Première, 1891, nicht wieder gehört worden ist, eine zweite Aufführung. Mit gutem Recht; denn es ist schade, wenn die wenigen guten Kammer-Compositionen neuester Zeit nach ihrer ersten Aufführung für immer zurückgelegt werden, wie es doch meistens geschieht. Es folgte als No vität — als einzige Novität in der ganzen Saison! — ein bei Kistner in Leipzig gedrucktes Clavierquintett von Anton Rückauf. Das Werk ist Brahms gewidmet und dieser Auszeichnung würdig. Auch fühlt man ihm an, daß es bei aller Selbstständigkeit sich am Geiste Johannis inspirirt hat. Ein ernstes Stück von schöner, übersichtlicher Form und vornehmer Haltung. Theils leidenschaftlichen, theils nachdenklich sentimentalen Charakters, trägt es überall das Gepräge des Wahren, Empfundenen. Durchaus modern, trachtet es doch nirgends durch blendende Contraste oder angeblich dramatische Episoden zu wirken; es hält bei aller Freiheit der Phantasie fest an den natürlichen Gesetzen musikalischer Logik. Ueberaus glücklich

erfunden ist gleich das Hauptthema des Allegrosatzes F-dur; daneben klingt das zweite Thema in A-moll etwas leer, stockend im Rhythmus, mehr verträumt als träumerisch. Die Stelle des Scherzo vertritt ein bequemes Allegretto, das nach einem beschleunigten interessanten Mittelsatz wiederholt wird. Breit, gesangvoll legt sich das Adagio aus, meist im Wechselgesang zwischen Clavier und Quartett. An diesen tiefempfundenen Satz schließt sich unmittelbar das Finale mit einem kräftigen, fanfarenmäßig auftauchzenden Thema. Nach der lebhaften Durchführung erwartet man einen frischen, glänzenden Abschluß. Statt dessen entwickelt sich eine kunstreiche Fuge mit zwei Subjecten, welche dem Componisten sicherlich mehr Mühe bereitet hat, als dem Hörer Vergnügen. An der vortrefflichen Ausführung gebührt Herrn Alfred Grünfeld das größte Verdienst. Wie funkelten die aufsteigenden Scalen-Raketen und die langen, feinen Trillerketten unter seinen Händen! Das Quintett hatte einen entschiedenen Erfolg. Herr Rückauf wurde wiederholt gerufen und wird hoffentlich nicht so lange wie bisher pausiren.

Zu den reinsten Genüssen dieser Musiksaison, ja zu den unvergänglichen Eindrücken gehört d’Albert’s Vortrag des D-moll-Concerts von Brahms bei den Philharmonikern. Wie tief hat d’Albert diese in jedem Sinne schwere und große Composition in sich aufgenommen, wie überwältigend sie wiedergegeben! Höchste Virtuosität floß hier zusammen mit einem eminent musikalischen Denken und starker Begei sterung für das vorgetragene Werk. Dieses selbst will genau gekannt und ein wenig umworben sein. Seitdem es, zwar nicht oft, aber doch im Laufe der letzten zehn Jahre einigemale gehört worden ist, hat es, in seinen Eroberungen stetig vor schreitend, jetzt durch d’Albert vollständig gesiegt. Im selben Concert hörten wir ein neues Scherzo von Goldmark. Dieses glänzend instrumentirte, geistreiche Stück, das in seinen Rhythmen und Farbenmischungen etwas an das Scherzo von Mendelssohn’s A-moll-Symphonie und den „Sommernachtstraum“ erinnert, wird überall, wo man ein virtuoses Orchester wie unser Philharmonisches besitzt, Effect machen. Nur der Zusammenhang des Scherzos mit dem einleitenden Andante sostenuto, einer dumpfen, chromatischen Wehklage, wollte mir nicht klar werden. Fast möchte ich letztere für einen nachträglich angefügten neuen Goldmark halten, das Scherzo selbst für eine ältere Compo

sition. Sämmtliche Programmnummern wurden — aus nahmsweise unter Leitung des Hofcapellmeisters J. N. Fuchs — glänzend gespielt.

Mit einer stummen Verbeugung gehen wir diesmal an Sarasate, Thomson, Frau Nicklaß-Kempner und anderen hier oft gehörten und besprochenen Concert gebern vorüber und wenden uns zu den Novitäten des Wiener Männergesang-Vereins“. Die Fest ouvertüre von Karl Reinecke bewegt sich geschickt und klangvoll in der Phraseologie der Weber’schen und Mendels sohn’schen Schule und mündet in einen Männerchor über Schiller’s Gedicht „An die Künstler“. Dieser Schluß, mehr äußerlich angeheftet, als organisch herausgewachsen, scheint mir ebensowenig die Wirkung der Ouvertüre zu steigern, als umgekehrt. Gleichfalls eine Gelegenheitsmusik in großem Style ist Spohr’sComposition von Klopstock’s „Vater Unser“, für Soli, Männerchor und Orchester. Einen dauernden Platz im Repertoire der Gesangvereine dürfte das Werk schwerlich erringen, auch in unserem Herzen nicht. Nichtsdestoweniger danken wir Herrn Director Kremser für diese Bekanntschaft, nach der wir längst neugierig ausgeblickt haben. Während nämlich Spohr’s Composition des Mahl mann’schen „Vater Unser“ sich großer Verbreitung und Beliebtheit erfreute, ist seine Bearbeitung der Klopstockschen Paraphrase niemals gedruckt worden. Spohr hat letztere im Jahre 1838 für das Frankfurter Liederfest zum Besten der Mozart-Stiftung componirt und dort aufgeführt. Obwol das Werk damals des Beifalles gewiß nicht ermangelt hat, ist es unveröffentlicht und im Besitze der Leipziger Musikfirma C. Leuckart geblieben. Trotz meiner Pietät für Spohr, dessen Musik mit den schwärmerischen Empfindungen meiner Jugend zeit so enge zusammenhängt, habe ich sein „Vater Unserrecht schwach gefunden. Die Musik ist nicht der rechte Spohr, wie das Gedicht nicht der rechte Klopstock. Die zweite Strophe des Klopstock’schen Gedichtes lautet: Er, der Hocherhabene, Der allein ganz sich denken, Seiner ganz sich freuen kann, Machte den tiefen Entwurf Zur Seligkeit aller seiner Weltbewohner. „Zu uns komme dein Reich.“ Die dürftige Erfindung steht in keinem Verhältnisse zu dem breiten Rah men dieser Composition und ihrem Aufwand an musikalischen

Mitteln. Wir hörten hierauf das von Frau Basch- Mahler sehr beifällig gespielte G-moll-Concert von Men delssohn und Heuberger’s liebenswürdigen Männerchor Herbst“. Die Schlußnummer konnte man als „Halbnovität“ bezeichnen. Es erschienen nämlich die von Kremser so effect voll bearbeiteten „Sechs altniederländischen Volkslieder“ zum erstenmale mit verbindender Declamation, das heißt mittelst eines historischen Leitfadens aneinandergedichtet. Das sechs malige plötzliche Herabfallen aus der idealen Region des Gesanges in gesprochene Erzählung macht einen ernüchtern den Eindruck, an welchem die ausdrucksvolle Declamation des Herrn Reimers gewiß keine Schuld trägt. Nothwendig sind diese belehrenden Unterbrechungen gewiß nicht; eine kurze Notiz auf dem Programme genügt zur Orientirung. Die niederländischen Lieder wurden unter dankenswerther Mitwirkung der Hofopernsänger Ritter und Dippel vom Männergesang-Verein frisch und kraftvoll gesungen. Insbe sondere das „Kriegslied“ und „Berg-op-Zoom“, bewährten neuerdings ihre zündende Wirkung.

Herrn Director Gericke danken wir die Wieder-Auf führung des seit mehreren Jahren nicht gehörten „Deutschen Requiems“ von Brahms. Die meisten deutschen und schweizerischen Musikstädte hören es alljährlich. Dieses Hohe Lied der Trauer und der Tröstung prangt als ein unver gängliches Denkmal in der Geschichte der modernen Kirchen musik, deren Gipfelpunkt es bildet. Keine geistliche Ton dichtung kenne ich, die gleich mit ihren ersten Tacten uns so tief ergreift — und unmittelbar darauf („Denn alles Fleisch ist wie Gras“) so gewaltig erschüttert, wie dieses Deutsche Requiem“. Wer diese zwei Sätze geschrieben hat und dazu das Sopransolo „Ihr habt nun Traurigkeit“, der gehört zu den Größten. Das Publicum, das alle Räume des Musikvereinssaales füllte, lauschte dem Werke mit weihe voller Andacht, wie einem Gottesdienste. Alle Mitwirkenden, Director Gericke und die tapferen Mitglieder des „Sing vereins“ voran, schienen von der gleichen starken Empfindung beseelt. Frau Baronin Leonore Bach, ein lichter, tröstender Seraph an Erscheinung und Stimme, sang das schöne G-dur-Solo, und Herrn Ritter’s warmer, dabei maßvoller Vortrag eröffnete uns die frohe Aussicht, in diesem vortreff lichen Theatersänger auch eine Kraft für das Oratorium emporwachsen zu sehen.