Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Nr. 10690. Wien, Dienstag, den 29. Mai 1894 Hanslick, Eduard Wilfing, Alexander FWF Der Wissenschaftsfond.
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Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Herausgegeben von Wilfing, Alexander Projektmitarbeiterinnen Bamer, Katharina Pfiel, Anna-Maria Elsner, Daniel Austrian Centre for Digital Humanities and Cultural Heritage Wien 2024

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Maschinenlesbares Transkript der Kritiken von Eduard Hanslick.

Nr. 10690. Wien, Dienstag, den 29. Mai 1894 Hanslick, Eduard Neue Freie Presse Morgenblatt Herausgegeben von Etienne, Michael Friedländer, Max Wien 29.05.1894
font-style:italic; font-weight:bold; Deutsch Transkribus OCR und Lektorat. Transformierung der Daten des Transkribus TEI-Export mit "editions.xsl". Formatierung und Referenzen eingefügt. Letztkorrektur für Zwischenrelease.
Aus Briefen von Billroth. III.

Ed. H. Siehe Nr. 10675 der „Neuen Freien Presse“ vom 13. Mai und Nr. 10685 vom 24. Mai. In Mailand, wo wir zusammen Verdi’s „Othellohörten, bewies Billroth so viel ausdauernde Empfänglichkeit, daß er nach der ermüdenden Oper noch das um halb 12 Uhr beginnende Ballet bis zu Ende genoß, während ich mit dem Othello“ vollständig genug hatte. Bald nach seiner Rück kehr erkrankte Billroth lebensgefährlich. Diese schwere, lang wierige Krankheit im Frühjahre 1887 bezeichnet einen tief eingreifenden Abschnitt in seinem Leben. In Karlsbad, wo ich damals zur Cur weilte, erhielt ich von Billroth selbst die erste Nachricht von seiner Rettung; einige Zeilen vom 31. Mai — Brief und Adresse mit Bleistift geschrieben — welche lauteten:

„Herzlichen Dank für deine lieben Zeilen! Die Zei tungen lassen mich wol aufstehen und umherwandeln, in Wahrheit liege ich noch fest im Bette mit der Empfindung eines eisernen Ringes um die Brust. Ich war so froh, schon halb hinüber zu sein, doch da mich der Hades ins Leben zu rückgeworfen hat, so freue ich mich doch herzlich, daß man mich hier noch so freundlich wieder empfängt. Es war ein harter Stoß!“

Sobald es sein Zustand erlaubte, übersiedelte Billroth in seine Villa nach St. Gilgen. Mit einem Heroismus, den er sich selber nicht zugetraut, befolgte er die strenge Bewegungs- und Entziehungscur, welche eine Entfettung seines Herzens bewerkstelligen sollte. Seine Kräfte nahmen zu, aber daß er sich nie wieder vollständig von dem „harten Stoß“ erholen werde, das sagte ihm nur zu deutlich die eigene unbestechliche Diagnose. In seinen Briefen mehren sich die weichen, melancholischen Stimmungen; das Bewuß sein der Pflicht gibt ihm jedoch immer wieder neue Kraft, sich aufzuraffen. Am meisten beunruhigen ihn Zweifel an seiner Arbeitstüchtigkeit. Mit kindlicher Freude erfüllt ihn jede Berufung zu einem auswärtigen Kranken; sie beweist ihm, daß man ihn „noch brauche“, obwol er mit großmüthiger Bescheidenheit nicht müde wird, zu versichern, seine Schüler machten jetzt Alles eben so gut wie er selbst.

Billroth kannte keine Regung des Neides auf die Erfolge seiner Schüler oder Collegen. In St. Gilgen und Abbazia sehen wir ihn unermüdlich mit ernster Lectüre und eigener Forschung beschäftigt. Die darauf bezüglichen Briefe bedürfen nur in zwei Punkten einer kurzen Erklärung. Fürs Erste hatte Billroth in seinem unbarmherzigen Briefe über Fried rich Nietzsche behauptet, Nietzsche werde nach seinem defini tiven Abfalle von Richard Wagner sicherlich wieder noch einmal Wagnerianer werden. Mir schien das undenkbar, denn nach meiner Ueberzeugung verfällt man nie wieder in einen Irrthum zurück, aus dem man sich, redlich kämpfend, einmal herausgearbeitet hat. Darauf bezieht sich Billroth’s Entgegnung in seinem zweiten Briefe contra Nietzsche. So dann werden die Leser wiederholten Andeutungen, auch län geren Mittheilungen begegnen über ein musikalisch-physio logisches Buch, das Billroth zu schreiben beabsichtigte. Ich ermunterte ihn eifrig zur Ausführung dieses Planes, da Billroth — Arzt und Musiker in Einer Person — mir ganz einzig dazu berufen schien, Licht zu verbreiten über das geheimnißvolle Grenzgebiet zwischen der Musik und der Physiologie. Billroth hat sich jahrelang mit diesen Ideen getragen, konnte aber nur in langen Zwischenpausen, während der Ferien, die Arbeit wieder aufnehmen. Sie ist leider un vollendet geblieben, immerhin aber so weit gediehen, daß sie nicht ohne Vortheil bleiben wird für die Welt. Das um fangreiche Manuscript, dem Billroth noch zwei Tage vor seinem Tode in Abbazia einige Bleistiftzeilen anfügte, ist mir mit dem Beifügen vermacht, ich möge nach meinem Gut dünken damit schalten. Die beiden ersten Capitel dieser Ab handlung, welche den Titel führt „Wer ist musikalisch?sind von Billroth als druckfertig bezeichnet und werden im nächsten October-Hefte der „Deutschen Rundschau“ erscheinen. Ueber das Weitere, das in flüchtiger Niederschrift, theilweise auf losen Einlagblättern, vorliegt, vermag ich heute noch keine Auskunft zu geben. Ich lasse nun einige von den Briefen Billroth’s aus der Periode nach seiner Krankheit folgen:

St. Gilgen, Juli 1887. Wie du aus dem Parere meiner Aerzte ersiehst, geht es mir jetzt relativ recht gut; ich fühle mich muskelkräftig und trainire mich ohne zu viel Ermüdung fürs Bergsteigen; auch das wenig essen macht mir keinen Kummer. Aber, aber, das „wenig trinken“ ist für mich, der ich gewohnt bin, große Mengen von Flüssigkeiten zu mir zu nehmen,

zumal im Sommer, wo ich bei der Hitze transspirire, eine solche Tortur, daß ich nicht weiß, ob ich es durchsetzen werde. Mir den Trunk kalten Quellenwassers versagen, wenn mir die Zunge am Gaumen klebt, beim Speisen und Abends weder Bier, noch Wein, noch Wasser trinken, das halte ich nicht aus; ich habe mir früher einige Energie zugetraut, doch war es immer nur Energie des Handelns; in der Energie des Entsagens war ich nie ein Held, und habe diese Tugend auch nicht geübt, da ich keine Veranlassung dazu hatte. Es ist sonderbar, daß ein solches Verbot, den Genuß von Flüssigkeiten auf das äußerste Maß zu beschränken, zur Folge hat, daß der Trieb dazu sich fortwährend steigert. Der fortdauernde Kampf macht mich in einem Grade nervös, wie ich es kaum je war. Den Tag über bis zum Abend geht es noch, aber Abends, wo ich gewohnt bin, gemüthlich im Kreise meiner Familie am Tische sitzen zu bleiben und mindestens eine Flasche Gumpoldskirchner zu trinken (Goethe trank jeden Tag bei Tisch drei Flaschen Rheinwein) — da halte ich es nicht aus, wenn ich nicht vom Tisch aufspringe und alles Getränk schnell entfernen lasse. Dann faßt mich aber zuweilen vor dem Schlafengehen auf meinem Zimmer ein förmlicher Durst-Paroxismus, dem ich endlich nachgeben muß, um schlafen zu können; ich würde sonst zur Morphium spritze greifen, was wol schlimmer wäre, als mein inneres Fett.

St. Gilgen, 7. Juli 1887. Bis jetzt habe ich noch sehr wenig Bedürfniß für geistige Beschäftigung. Wie immer, wenn ich hier bin, lebe ich ganz in der Natur. In meinen Gärten hier interessirt mich jeder Strauch, jede Blume. Die Pracht der Rosen ist herrlich; meine Kämpfe mit den Ameisen sind höchst ernst haft; meine Gartenerdbeeren sind vortrefflich gerathen. Ich habe wieder die kleinen Pariser Radieschen (roth mit weißer Spitze, äußerst weich und zart und doch pikant) angebaut; im vorigen Jahre waren sie trefflich gerathen. Der Salat macht mir viel Sorge; ich bringe es nicht zu festen Köpfen. Woran liegt es? Am Samen, zu wenig oder zu viel Mist, zu viel Sonne u. s. w.? Das sind meine Gedankenkreise! Lache mich darüber aus; aber ich befinde mich dabei viel besser, als bei der aufreibenden Sorge um kranke Menschen in Wien. Könnte ich, wie ich wollte, ich legte schon jetzt mein Amt nieder und bliebe den größten Theil des Jahres hier, lebte einige Wintermonate bald in dieser, bald in jener großen Stadt, ohne eigene Wirthschaft zu führen.

St. Gilgen, 31. Juli 1888. Endlich sitze ich ruhig in meinem Tusculum. Wir haben eben zu Nacht gespeist und ich habe mich auf mein Zimmer zurückgezogen. Nach zweimonatlicher Zerstreuung der ein zelnen Familienglieder in drei Gruppen sind wir endlich wieder beisammen, und ich fühle mich vollkommen als Patriarch. Ich schreibe bei offenen Fenstern um 10 Uhr Abends. Sternklar ist die Nacht. Wunderbar friedlich die Stille ringsumher; nur der Brunnen plätschert fort; die Quelle fließt seit Jahrtausenden und wird nach Jahrtausenden ebenso fließen. Wie klein und kurzlebig ist doch der Mensch gegenüber dieser großen, ewigen Natur.

Du weißt doch immer etwas Besonderes zu finden, was mich freut; die Aussprüche von Moriz Hauptmann sind mir wie in eigener Seele entstanden und empfunden. Wir tadeln so oft Componisten, wenn uns ihre Werke ge quält und gesucht erscheinen, und merken das als einen der stärksten Fehler an. In den letzten Quartetten Beethoven’s kann ich nicht finden, daß das gewiß ernste Streben, immer Neueres und Schöneres neuer und schöner zu gestalten, erreicht ist; mir scheint, daß hier das musikalisch Schöne aufhört. Von den späteren Claviersonaten muß ich immer noch den einen oder andern Satz als wunderbar schön be zeichnen; es kommen da gewisse Inventionen vor, die mich entzücken. Zum Beispiel der erste Satz der letzten Sonate in C-moll, auch das Thema zu den mich wenig erfreuenden Variationen, dann das Adagio der B-dur-Sonate mit der gräßlichen Schlußfuge; das Adagio der Neunten Symphonie ist für mich ein vollendet schöner Satz, in dem sich Erfin dung und interessante Gestaltung in einer Weise verschmilzt, daß ich nichts Schöneres und Interessanteres in der Musik zu nennen wüßte. — Bei großen pathetischen Compositionen unseres Freundes Brahms werde ich auch zuweilen stutzig, wüßte aber bisher keine solchen Verirrungen ins musikalisch Unschöne in ganzen Sätzen oder ganzen Compositionen zu nennen, wie die drei bis vier letzten QuartetteBeethoven’s sie aufweisen, von der Fuge für Streichquartett gar nicht zu reden. Ich kenne von Beethoven überhaupt nur Eine schön klingende Fuge, das ist der letzte Satz aus dem großen C-dur-Quartett. Was mich jetzt bei Brahms hinreißt, sind Sachen, in welchen die schönsten Erfindungen mit schönst klingenden Polyphonien verbunden sind, wie neuerlich in

dem C-moll-Trio und den Zigeunerliedern. Wie in den Liebesliedern mit Begleitung à quatre mains wirst du auch bei den Zigeunerliedern gewiß nicht nur den glücklichen Griff, sondern ebenso sehr die meisterhafte Gestaltung in jeder einzelnen Singstimme bewundern. Diese immer wieder von Zeit zu Zeit auftauchende frische Unmittelbarkeit läßt mich hoffen, daß Brahms noch lange dauern wird; in den kleinen Formen zeigt er oft mehr vollendete Meisterschaft, wie in den großen Werken, in welchen er, wie mir scheint, den Höhepunkt erreicht hat.

Die Quelle rauscht draußen immer fort. Es hat wol seine guten Gründe, daß der griechische Mythos den Pegasus, das Dichterroß, aus einer Quelle trinken ließ. Die Dichtung ist doch die einzige Kunst, die so lange existirt, als es Men schen gegeben hat. Sie hängt so sehr mit der Religionsbil dung zusammen, mit der Vermenschlichung der Naturkräfte, mit der Furcht und Freude der Menschen über die ihnen günstigen und gefährlichen Naturkräfte, daß sie davon lange nicht zu trennen ist; ist doch die Religion in ihren verschie densten Formen die schönste Dichtung. Ja selbst unsere mo dernste Naturforschung steht auf einem Berge, von welchem sie mit klarem Auge nach einer Seite Alles klar vor sich sieht; doch wendet sie sich um, so steht sie vor einem Wolken meere. Wer nicht befriedigt ist mit dem Blick in die klare Ebene, sondern sich immer auf die andere Seite wenden muß, der muß eben dichten, glauben. Es war immer so, so lange sich Menschen aufwärts bewegt haben; wir sind etwas höher gestiegen, doch die Wolken bleiben auf der andern Seite immer dieselben.

Die bildenden Künste sind immer nur eine Repro duction unserer Augenwelt; sie bilden eben nach, was unseren Augen schön erscheint. — Mit unserer Gehörwelt ist es ein ganz eigen Ding. Da das Gehörschöne nichts nachahmt, nichts nachbildet, so hat es doch eine nahe Ver wandtschaft zum reinen Anschauen der Natur, das eben einen schönen Eindruck auf uns macht, ohne daß wir irgendwo einen Maßstab dafür fordern, mit dem wir ein Richtiges oder Falsches ausmessen könnten. Das „musikalisch Schöne“ ist so vergänglich fast wie das „Conventionelle“, wenn wir das Triviale von diesem fatalen Worte abstreifen können — man könnte wol besser sagen, die musikalischen Menschen sind gleich einem Freimaurerbund mit unbewußtem Bande mysteriös verbunden.

Wer ist musikalisch? Das wäre so eine Ueberschrift für ein Essay für dich. Wie complicirt ist dieser Begriff! Der Eine hat vorwiegend rhythmisches Talent und Empfindung (das elementar-rhythmische Moment im Menschen ist der Herzschlag), der Andere hat vorwiegend melodisches Talent (Melodie ist vom Rhythmus nicht zu trennen; die Gliede rung des menschlichen Körpers, seine Doublirung nach hori zontaler und verticaler Richtung ist ein Theil seiner elemen taren Grundlage); wieder ein Anderer erscheint musikalisch durch ein eminent technisches und mechanisches Talent (elementares Moment: die Freude an der Ueberwindung von Schwierigkeiten als Hauptprincip des gesteigerten Selbst bewußtseins); wieder ein Anderer erscheint musikalisch durch eine Uebertragung seines intensiven Temperaments im dra matischen Ausdruck (elementares Element: Wunsch, so groß artig wie möglich zu erscheinen, wie etwa der Pfau, der sein Rad vor dem Weibchen schlägt); wieder ein Anderer durch colossales Tonformen- und Rhythmen-Gedächtniß, wieder ein Anderer durch Hingabe an die sinnliche Gehörs wirkung u. s. w.

In mir ist Alles Chaos. Ich täusche mich gern darüber, daß ich nur phantasmagorire; ich könnte auch einmal etwas Vernünftiges über Dinge schreiben, die außer meinem Beruf liegen; die kurzen Ferien seien nur daran schuld, daß sich nichts in mir zur Reise ausbildet. Ich bilde mir, wie gesagt, solche Dinge gerne ein. Doch bin ich mir dieser Einbildung bewußt. Auch in meiner Special-Wissenschaft habe ich nur anregend, nur als Pionnier und Mineur ge wirkt; doch wenn das Terrain geebnet, der Weg gefunden, die Mine gesprengt war, dann ließ ich gern Andere dort bauen und Früchte ernten.

St. Gilgen, 15. August 1888. Ich habe immer noch zu viel Respect vor der Drucker schwärze, und es steckt immer noch zu viel vom pedantischen Fachschriftsteller in mir, als daß ich mich zum Schreiben über Dinge hinsetzen könnte, deren Fundamente, Geschichte und Literatur ich nicht beherrsche. Von allen Geisteswissen schaften haben mich nur Psychologie, Aesthetik und Ethik wirklich interessirt. So oft nun Gedanken aus diesen Ge bieten in mir aufsteigen und sich concentriren, finde ich daß die Schlüsse aus meinen Speculationen so furchtbar einfach, ja so einfältig und selbstverständlich sind, daß ich mir denke, das ist gewiß schon hundertfältig so gedacht und

gesagt; so Alltägliches soll man doch nicht niederschreiben. Nun habe ich, so weit es meine Zeit erlaubt, in den letzten Jahren viel Philosophisches gelesen, um mich über den Stand der Dinge zu orientiren. Jetzt beschäftige ich mich mit den dickleibigen Werken von Wundt, der früher Naturforscher, Physiologe und Anatom war, und dann zur Philosophie überging.

Wundt gehört zu den Menschen, die (wie Lotze, Lazarus u. A.) Alles kritisch so zersetzen und auflösen, daß sich Alles zu Flocken verflüchtigt; die Versuche dieser Herren, aus dem zu Dunst aufgelösten und ins Unendliche, Un kennbare sich Verflüchtigenden wieder irgend etwas Har monisches zu gestalten, fallen meist sehr schwach aus. Ich gestehe ja gerne zu, daß man auf dem Gebiete der exacten Wissenschaft genau die Grenzen erkennen und bezeichnen muß, wo man ganz einfach sagt: „Wir sind nicht in der Lage, darüber etwas wissen zu können“ (Skoda’s stereotype Redensart), doch da beginnt nun doch das „künstlerische“ Gebiet, auf welchem mir eine geistvolle Hypothese lieber ist, als ein leerer Raum. Mit ersterer kann die Wissenschaft wieder anbandeln und dadurch auch wol wieder neues Wissen schaffen; mit dem leeren Raum ist nichts weiter zu machen. — Wenn ich bei meinem Spazierenklettern hier vor eine Felswand komme, so weiß ich auch, daß ich da nicht hinauf kann; ich muß eben wieder etwas zurückklettern und finde einen Umweg, auf dem ich doch vielleicht auf die Spitze der Felswand komme, vor der ich früher rathlos stand. Auf diese Weise bin ich in meiner Special-Wissen schaft doch zuweilen weiter gekommen, als Andere, und wenn ein Versuch einer Umgehungs-Hypothese mißlang, so suchte ich einen andern.

St. Gilgen, 24. September 1887. I. Act. Der miselsüchtige Chirurg. Ich gehe mit etwas beklommenem Herzen von hier fort, wo ich meine Gesundheit wieder fand und, wie man mir allgemein sagt, meine Lebensuhr scheinbar um einige Jahre zurückgestellt habe; vielleicht nicht nur scheinbar, denn ich fühle mich jünger und kräftiger, als seit Jahren. Und doch plagen mich manche Scrupel. Ich sehe nicht recht ein, was ich in Wien soll. Was erwartet man eigentlich noch von mir, dem müden Manne, der im 59. Jahre steht? Das freie ungebundene Leben hier in der Natur, mit der ich mir

fest verwachsen vorkomme, hat meine Arbeitslust eher ver ringert als gesteigert; ich fühle mich in Wien unnöthig für meine Wissenschaft und die Praxis. Meine geistigen Söhne wachsen mir über den Kopf, neue zu zeugen fehlt mir Lust und Kraft. Doch jetzt schon meinen Abschied nehmen darf ich nicht wegen meiner Familie; auch wäre es undankbar gegen meine Freunde, deren Zahl und Anhänglichkeit sich bei meiner Krankheit größer erwiesen hat, als ich zu ver muthen wagte. Ein Redivivus ist selten ein willkommener Gast. Wie wird es mir in der Klinik, in der Praxis gehen?

II. Act. Der reisende fröhliche Bader. Aus dieser Stimmung reißt mich ein Telegramm aus Triest; man wünscht mich dort zu einer Operation und diversen Consultationen, noch bevor ich meine Geschäfte in Wien aufnehme. Man wünscht mich also doch noch irgendwo, nicht nur im Lande, wo der Pfeffer wächst, sondern an der Adria, wo ich so gerne weile! Nun werde ich ganz lustig über Aussee, Bruck, Leoben nach Triest fahren, unterwegs bei meinem Schüler Wölfler einkneipen und Mittwoch in Triest sein. Natürlich werde ich auch mein liebes Abbazia besuchen.

18. October 1888. Beifolgend also Fortsetzung und Schluß meiner Apho rismen: „Was uns die Malerei erzählt.“ Neues ist schwerlich darin. Doch Manches aus dem Metaphysischen ins Psycho logische übersetzt — eine Art der Bewegung, welche die ganze moderne Philosophie durchzieht. Für mich hat diese Schreiberei die gute Folge gehabt, daß sie mich eine zeitlang von gewissen ästhetisch-psychologischen Grübeleien befreit. Es geht damit wie mit den in Worte gefaßten Melodienzügen: Frühlingsblumen und Duft werden zu Nebelgrauen und schwinden wie ein Hauch! — Freilich dämmern wir lieber im unklaren Scheinen als in den Pappel-Alleen psycholo gischer Wahrheit bei hellem Sonnenschein. Doch der Tag vergeht, die Sonne sinkt und das Abendroth und die Däm merung umfangen uns mit neuen Träumereien.

Jedenfalls habe ich mich etwas im Ausdruck geübt und manche ästhetische Eindrücke auf einheitlichere Grundwirkungen zurückgeführt. So werde ich denn wol, wenn die Dämme rung wieder kommt und ich nicht zu müde geworden bin, mich auch einmal an Aehnliches über Musik machen, will es aber dann gleich von Anfang besser ordnen.