Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Nr. 10691. Wien, Mittwoch, den 30. Mai 1894 Hanslick, Eduard Wilfing, Alexander FWF Der Wissenschaftsfond.
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Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Herausgegeben von Wilfing, Alexander Projektmitarbeiterinnen Bamer, Katharina Pfiel, Anna-Maria Elsner, Daniel Austrian Centre for Digital Humanities and Cultural Heritage Wien 2024

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Maschinenlesbares Transkript der Kritiken von Eduard Hanslick.

Nr. 10691. Wien, Mittwoch, den 30. Mai 1894 Hanslick, Eduard Neue Freie Presse Morgenblatt Herausgegeben von Etienne, Michael Friedländer, Max Wien 30.05.1894
font-style:italic; font-weight:bold; Deutsch Transkribus OCR und Lektorat. Transformierung der Daten des Transkribus TEI-Export mit "editions.xsl". Formatierung und Referenzen eingefügt. Letztkorrektur für Zwischenrelease.
Aus Briefen von Billroth. IV.

20. October 1888. Siehe Nr. 10675 der „Neuen Freien Presse“ vom 13. Mai, Nr. 10685 vom 24. Mai und Nr. 10690 vom 29. Mai. Ich nahm den „Fall Wagner“ zur Hand. Nach wenigen Seiten fiel mir ein Ausspruch Wundt’s ein über die Sprache der Thiere: „Sie unterscheidet sich dadurch von der mensch lichen Sprache, daß sie sich nie in „Interjectionen“ äußert.“ Als ich dies zuerst las, fiel mir Wagner’sche Musik ein, als ich jetzt Nietzsche las, fiel mir mein Puffy und mein guter Nero ein, beide augenblicklich höchst verständige, ge sunde Menschen im Vergleich mit diesem nervösen Kläffer Nietzsche. Was sich der Kerl nur einbildet, daß er es wagt, solchen Blödsinn drucken zu lassen! „Zweite Auflage,“ das ist allerdings ein Beweis unserer Decadence im literarischen und künstlerischen Geschmack.

Nietzsche ist heute mehr Wagnerianer als je, und wird es morgen wieder reuig bekennen; er ist philosophischer — verzeih’ das harte Wort — Schauspieler, wie er Wagner einen musikalischen Schauspieler nennt.

6. Februar 1889. Ein ordentlicher Mensch sollte doch eigentlich am Morgen des Aschermittwoch einen ordentlichen Katzenjammer haben. Leider ist das bei mir nicht der Fall, und so bin ich kein ordentlicher Mensch.

Ich habe eine grenzenlose Sehnsucht „hinaus“. Mehr als zwei Monate hält meine Spannkraft für Beruf und Amt nicht mehr aus, dann muß ich wieder einige Wochen „Mensch“ sein. Je älter ich werde, um so mehr kommt mir unsere moderne Concentration auf einen Lebensberuf und unser Specialitäten-Broterwerb als eine geistige Ver krüppelung vor, etwa wie ein Zwerg mit einem Riesen arm. — Daß mich armen fetten Hamlet das Geschick in eine Sphäre des Handelns hineingeworfen hat, ist doch brutal.

1. Juni 1889. Ich hätte die „Götzendämmerung“ von Nietzsche wol nicht zu Ende gelesen, wenn sie mich nicht im Zusammen hang einer gewissen Richtung unserer modernen Literatur und Kunst interessirt hätte. Mir erscheint dies Buch als das Product eines Geisteskranken, und es war mir interessant, daß Nietzsche schon einmal im Irrenhause war, daß man ihn von seiner Professur in Basel delogirt hat und daß er jetzt, wie ich höre, wieder in einer Anstalt für Nervenkranke ist. Die Stimmung, aus welcher das Buch geschrieben ist, ist mir wohl bekannt. Ich habe sie auch durchgemacht, und aus ihr stammen einige meiner Lieblings-Paradoxen, z. B. „Die Lüge ist die festeste Basis der Moral“ oder „Der Absolutismus ist die einzige vernünftige Staatsform, voraus gesetzt, daß ich das Absolute bin“ u. s. w. Diese Freude am moralischen, psychologischen, socialen Nihilismus liegt hinter mir; es ist ein gar billiges Vergnügen, Alles zu ver schimpfiren. Nietzsche charakterisirt sich selbst sehr treffend, wenn er sagt: „Es ist ein Vergnügen für alle armen Teufel, zu schimpfen; — es gibt einen kleinen Rausch von Macht!“ Er ist selbst so ein armer Teufel; impotent, etwas Posi tives zu schaffen, verschimpfirt er Alles. Sein positives „Kraftideal“ hat eine frappante Aehnlichkeit mit Hebbel’s und Nestroy’s Holofernes. Vae victis. Er sagt, er sei ein Feind des Kritisirens und kritisirt Alles. Was er kritisirt und wie er kritisirt, ist hundertmal besser und feiner gesagt. Seine „Götzendämmerung“ hat eine unleugbare Verwandt schaft mit dem berüchtigten Buch „Conventionelle Lügen“. Beide sind schlechte Bücher. — Dostojewsky ist sein Ideal; mich wundert, daß er sich entgehen ließ, für Ibsen zu schwär men. Wie kann so ein ekler, gemeiner Kerl von „vornehm“ sprechen. Er möchte „Dionysos“ sein, doch kein Bildhauer wird ihn als jungen Dionysos wegen seiner Schönheit ver ewigen. Weil er „krank“ ist an Leib und Seele, hält er alles Gesunde im Menschen für Krankheit, Fortschritt für Decadence, Freiheit für Imbeciletät, alles Edle für Greisen thum. — Das geistreich Paradoxe kann manchen jungen Menschen verblüffen, halb Gebildete irremachen. Darum ist er ein verderblicher, schlechter Mensch, gegen welchen, wie

gegen die ganze Richtung Alle, die es mit den Menschen gut meinen, in geschlossener Phalanx Front machen müssen. — Er kokettirt bald da, bald dort mit der Natur und den Naturwissenschaften, und versteht doch nichts davon. Es ist lächerlich, daß diese Art von Leuten ganz übersehen, daß ebenso viel Gutes wie Schlechtes für das Kunstwerk der menschlichen Gesellschaft aus dem Wesen der organischen Natur des Menschen hervorgehen kann, und daß es darauf ankommt, das Gute zu fördern und als Ideal zu erstreben, im Sumpf des Schlechten möglichst wenig zu rühren, damit die inficirenden Miasmen nicht aufsteigen. Seit ich Ibsen’s Stützen der Gesellschaft“ sah, hat mich nichts so angeekelt wie diese „Götzendämmerung“. Das Schlechte im Menschen sieht und erfährt Jeder im Leben genügend. Das Gute im Menschen zu zeigen und als Beispiel und Maßstab hin zustellen, ist doch die edlere Aufgabe der Literatur und Kunst. Die Aufdeckung des Guten im Menschen enthält ebenso viel „Wahrheit“, wie die Aufdeckung des Schlechten. Schon lange drängt es mich, für das Gute und Schöne der Menschen eine Reihe von Essays in die Welt zu schleudern, doch ich bin nicht stark genug, um zu sagen: „Was schert mich Weib, was schert mich Kind!“ Ich muß vorläufig arbeiten, arbeiten. Und würde ich alt genug, darüber hinauszukommen — dann wird es mir an Kraft fehlen, zu sagen und zu ge stalten, was so nöthig zu sagen wäre. Ich schrieb dir schon früher einmal, daß dieser Nietzsche immer Wagnerianer bleibt, so oft er auch Wagner verleugnen mag. Er betet nur sich an und seine Manneskraft. Es muß aber schwach damit bestellt sein, sonst würde er nicht so viel davon reden.

Doch genug — vielleicht schon zu viel von diesem Kerl, der überhaupt nur als ein gewisser ausgeprägter Typus unserer Zeit Beachtung verdient.

Helenenthal bei Baden, 15. October 1889. Es hat mich wirklich lange nichts so verstimmt, als daß ich gestern nicht mit euch euren Laurencin feiern konnte und heute Abends nicht mit euch so recht vom Herzen harmlos in den „beiden Schützen“ lachen kann; es ist gerade zehn Minuten vor 7 Uhr Abends; ich vermuthe, du trittst gerade mit Sophie in die Loge. Schrödter muß in der

Tenorbuffo-Partie sehr lustig sein; auch erinnere ich mich dunkel eines Ensemblestückes, das im Dunkeln spielt, und daß es ein Verwechslungslustspiel älteren Geschmacks ist; ich sah die Oper mit fabelhaftem Entzücken als Gymnasiast in Greifswald etwa so um 184648, dann erst wieder hier in der Komischen Oper; mir schien, es fehlten hier damals die richtigen Sängerschauspieler; doch war ich wol ein Anderer geworden; und wie es heute in dem großen Hause wirkt oder nicht wirkt, daran mag ich gar nicht denken; es hat doch etwas Trauriges, wenn wir über Empfindungen, die für uns in der Jugend zu den glücklichsten gehörten, im Mannesalter mitleidig die Achsel zucken. So ist’s auch mit der Liebe und vielem Andern. — Eigentlich sollten wir Alten über uns selbst die Achsel zucken; denn es gibt gar nichts mehr für uns, wofür wir uns so begeistern, in Haß oder Liebe so erhitzen könnten, wie wir es oft genug um nichts in der Jugend gethan haben. Eigentlich ist doch schließlich gleich giltig, wodurch wir warm werden, denn das Hauptver gnügen und das Glück besteht doch nur im Warm werden selbst. Daß man immer schwerer warm wird, je näher man den Siebzigern kommt, das ist freilich eine Schweinerei, wie du dich hyperbolisch ausdrückst. Doch — um in der Hyperbel zu bleiben — es ist mindestens eine Sauerei und eine hundsföttische Schinderei, wenn man beim Altwerden nach und nach immer häufiger daran gemahnt wird, daß man sich bald nach dieser, bald nach jener Rich tung hin in Acht nehmen muß, wenn man überhaupt noch etwas leisten will. Leider bin ich in diesem Falle.

Nun weiß ich, daß es für mich kein besseres und schneller wirkendes Heilmittel gibt, als frische Luft. Sem mering, Kahlenberg, Baden kamen rasch in Erwägung; ich entschloß mich schnell für „Hotel Sacher“ im Helenenthal, und bin sehr zufrieden mit meiner Wahl. Schon gestern Morgens wachte ich besser auf; heute geht es mir schon ganz erträglich.

Gestern machten wir eine Fahrt nach Mayerling. Das kleine, mit einer Art Kirchhofmauer umgebene Schloß (jetzt kleines Kloster mit Capelle) liegt trostlos in einer unglaublich reizlosen Gegend; es läßt sich in hiesiger Gegend kaum

etwas Nüchterneres denken. Und welche Stürme von Empfin dungen sind in den Herzen von Tausenden von Menschen mit elementarer Gewalt losgebrochen durch die erschüttern den Ereignisse, welche sich in diesen faden, reizlosen Gebäu den, in dieser nüchternen, kalten, gefühllosen Gegend ab spielten. Es thut mir fast leid, Mayerling gesehen zu haben; jeder Nimbus von tragischem Verhängniß, welcher den so hochbegabten jungen Fürstensohn noch umgab, ist durch die öde Prosa seiner Todtenstätte für mich fast verschwunden.

23. October 1889. Endlich komme ich nach und nach wieder ins Geleise. Meine Stimme ist so weit hergestellt, daß ich zwei bis drei Stunden hinter einander vortragen und operiren kann. Auch fange ich an, mich wieder daran zu gewöhnen, die Hälfte des Tages mit kranken, hilfesuchenden und oft hoffnungslos verlorenen Menschen zu verkehren, Wahrheit und Lüge so mit einander zu wechseln, wie der routinirteste Theater- Coulissenschieber die Decorationen wechselt. Meinen Schülern nackte Wahrheit aus Pflicht — meinen hoffnungslosen Kranken nackte Lüge aus Pflicht der Humanität.

Ach, ihr beneidenswerthen Menschen, die ihr nur der Wissenschaft und Kunst leben dürft, diesen reizenden Deco rationen unseres traurigen socialen Lebens! Am Ende meines Aufenthaltes in St. Gilgen komme ich auch wol in die Stimmung, es könnte mir wol so wohl gehen wie euch, die ihr euch doch nur meist um eure Empfindungen und Ge danken kümmert. Doch kaum in meinen Wirkungskreis hieher zurückgekehrt, schreit jede Stunde mir zu: Du fauler Kerl, willst du an dich denken! Glaubst du denn, die Menschheit hat dich umsonst auf deine Höhe gehoben? Du bist ihr verfallen! — Unsichtbarer Chor aus dem „Freischütz“: Hoho! Der Adler ist dir nicht geschenkt! — Meine Schüler, meine Collegen, meine Kranken und sonst noch so und so viele Menschen, Alle schnappen nach mir und reißen ein Stück von mir ab und Jeder will das beste Stück haben. Als ich jung war, hatte ich Freude an dieser „Hetz“ des Lebens. Jetzt bin ich ein müder Mann, der sich scharf selbst in die Zügel nehmen muß, um seine Pflicht zu thun! — Wie gern möchte ich jetzt oft Abends ein Buch lesen, mich

ans Clavier setzen, um mich zu zerstreuen, doch die phy sischen Kräfte versagen. Ich habe ein unwiderstehliches Schlaf bedürfniß und kann dann zum Glück noch mit einer Flasche Gumpoldskirchner mich befriedigen.

Wien, 1889. Ja, wenn ich ein Lortzing wäre! Ich kann dir gar nicht sagen, in welchem Meer von Wonne ich neulich bei Czar und Zimmermann“ schwebte. Welch ein Reichthum melodischer Gestaltung! Nur mit Mozart vergleichbar! Und sehe ich das Repertoire an, keine Wiederholung! Wie arm sind wir, und wie Wenige fühlen diese Armuth! Aus einem Act von Lortzing macht man heute drei Opern! Böse, böse Zeit! Arme Zeit!

Ich habe vor einigen Jahren schon erklärt: „Ich bin alt.“ So ist mir das „Altwerden“ erspart. Wenn sich gut müthige Menschen zuweilen darüber zu täuschen meinen, so ist das ja ganz lustig, ändert aber an der Sache nichts. Und nun gute Nacht! In Einem Punkte fühle ich immer ganz jung: in der herzlichen, unveränderten Liebe zu dir!

16. Juli 1889. Zuvörderst meinen wärmsten Dank für deine freund liche Aufnahme meines Briefes über die „Götzendämme rung“. Ich bin jetzt so außer allem Zusammenhange mit meinem inneren Menschen, daß ich mich kaum gleich in die Stimmung jenes Briefes hineinversetzen kann. Wenn ich behaupte, Nietzsche ist und bleibt Wagnerianer, so meine ich das so; seine innerste Natur ist so mit der Wagner’s ver wandt, daß er sich gar nicht von ihm loslösen kann. Dieses fortwährende Schreiben von Aphorismen, dieser Salat von Gutem und Schlechtem, von Ekelhaftem und Edlem, Geist vollem und Gemeinem, dieser Gedankenschotter — ist das nicht ganz wagnerisch? Nietzsche bildet sich etwas darauf ein, eine ganze Philosophie in Aphorismen geschrieben zu haben; er nennt es eine neue philosophische That seines Geistes. Ist das nicht ganz wagnerisch? Er ist unfähig, literarisch, logisch, künstlerisch zu gestalten, und erkennt nur das an, was er kann, hält Alles, was er nicht kann, für dumm, schlecht, servil, überwunden u. s. w. Ist das nicht wagne

risch, ganz wagnerisch? Er betet seine Impotenz an und hält die gesunde Action für gemein; er phantasirt sich in eine Vorstellung von Kraftideal hinein, bildet sich einen brutalen Naturgötzen aus und ist selbst doch ohne alle eigene Kraft, scheint auch gar nicht überlegt zu haben, daß die menschliche Cultur diese Phase schon wiederholt durchgemacht und überwunden hat. Die Sprachform eines Culturvolkes zerstören und auf die ersten Anfänge der Sprache, auf starke Interjectionen mit gehäuften Wiederholungen, auf die ersten zusammenhängend isolirten Aphorismen zurückgehen wollen, wie wir sie in den ältesten Schriften der Inder und Semiten finden, als das Volk noch nicht reif war, geschlossene Ge dankenreihen zu erfassen — kurz, die langsam und mühsam im Laufe von Jahrtausenden erworbene schöne und breite und große Formgestaltung für greisenhaftes Rückgangs- Phänomen anzusehen — ist das nicht literarischer Wagne rianismus in blödester Formlosigkeit: Weil ich nicht mit kann oder nicht gleich weiß, wohin der Weg nun führen wird, „d’rum ist Fortschritt Rückschritt“. Doch genug, eigentlich schon zu viel über diesen falschen Propheten!

Abbazia, 9. Januar 1890. So schön wie diesmal habe ich es noch nie hier ge troffen. Es war anfangs wol oft trübe, doch ungemein warm; eine frühwarme Atmosphäre, die meinen von Wien hieher gebrachten Katarrh bald beseitigte. Seit sechs Tagen ist ein Tag schöner wie der andere. Den ganzen Tag wolken loser Himmel und goldige warme Sonne, des Abends sil berner Mond über Meer und Inseln. Seit langer, langer Zeit habe ich mich wieder einmal einfach vegetirend des Daseins gefreut. Auch fand ich Muße zum Niederschreiben einer wissenschaftlichen Arbeit, die ich schon lange im Kopfe mit mir herumtrage. Das hat mich wunderbar erfrischt und mir eine Art verjüngenden Selbstbewußtseins eingeflößt, die mich in glücklichste Stimmung versetzte. Vielleicht werde ich, wenn ich es nach Wochen wieder durchlese, finden, daß es ein Schmarrn ist — macht nichts; ich werde es dann den Flammen übergeben, wie so vieles Andere; mein Ver gnügen habe ich daran gehabt. Alles Glück besteht am Ende doch nur in der eigenen Illusion.

25. April 1890. Nur du kannst so liebe Briefe schreiben, wie ich heute wieder einen von dir erhielt. Wir sehen uns viel zu wenig. Die Schuld liegt an mir. In der Theorie und aus geschicht lichen Studien bin ich längst zu der Einsicht gekommen, daß die Weltseele der Menschheit ihren Entwicklungsgang nach der Bestimmung eines unergründlichen Fatums geht, und daß das Individuum daher vom Fatum zu Handlungen benützt wird, wie es gerade kommt. Doch der Einzelne bildet sich in der Gegenwart doch immer ein, zu schieben, wenn er auch nur geschoben wird. In der Kunst glaube ich immer noch eher an die Bedeutung von Individualitäten, als in der Wissenschaft.

Hellbrunn bei Salzburg, 28. Mai 1890. Ich erhielt in Aussee die Nachricht, daß mein Assistent Dr. Salzer (Sohn des Wiener Primar-Arztes) zum ordent lichen Professor der chirurgischen Klinik in Utrecht berufen ist. Die Sache schwebte schon seit einigen Monaten, und schien daran scheitern zu wollen, daß der holländische Unter richtsminister keinen Ausländer wolle; endlich hat er doch dem Wunsche der Facultät in Utrecht nachgegeben. Salzer ist der Sechste, den ich auf einen chirurgischen Thron setze. Er wird in seinem Fach bald ganz Holland beherrschen, wie mein Schüler v. Winiwarter ganz Belgien beherrscht. Und so hätte ich für die Chirurgie die flandrischen Provinzen wieder erobert. Uebrigens dürfen wir uns freuen, Gelegen heit zu haben, uns für Van Swieten und de Haën zu revan chiren, welche als Holländer die erste Wiener medicinische Schule begründeten.

St. Gilgen, 20. September 1890. Sternhelle Nacht! Das erste Mondesviertel, welches Busch und Thal mit silbernem Glanze erfüllte, ist eben hinter dem Zwölferhorn aufgetaucht. Ich sitze in meinem, dir wohlbekannten Zimmer, das mich so traulich umfängt, und bei offenem Fenster höre ich den immer fließenden Brunnen rieselnd scheinbar ewiges Leben athmen. Wir saßen heute Abends so traulich beisammen, und ich dachte mir still: ich bin doch ein glücklicher Mann!

Deine freundliche Aufmunterung bei Gelegenheit meiner brieflichen Bemerkungen hat denn doch endlich zu dem

Anfange einer Gestaltung von Ideen geführt, die mich seit Jahren erfüllen. Ich schreibe augenblick einen Essay: Anatomisch-physiologische Aphorismen über Musik. Wer ist musikalisch? — Es soll einen Theil von einer Reihe von Essays bilden, welche ich unter dem Titel: „Grübe leien eines Spaziergängers am Abersee“ zusammenfassen möchte, falls sich die Dinge zu meiner Befriedigung ge stalten. Vorläufig schwillt mir das Ding auf wie der Faust’sche Pudel hinter dem Ofen, und ich fürchte, des Pudels Kern wird auch nichts mehr als ein fahrender Scholast sein. Doch das Ding macht mir Spaß; ob es auch Anderen Spaß machen würde, ist freilich eine andere Frage. Vorläufig befinde ich mich noch in einer ähnlichen Lage, wie du sie einst von Ambros schildertest. Ich jage nicht nach Gedanken, sie jagen mich. (Ach, hätte ich die Leichtigkeit und Plastik deiner Feder.) Wenn ich in die Tiefe tauchen will, komme ich immer bald auf Untiefen, d. h. auf seichte Stellen. — Ja, könnte ich den Winter hier bleiben, da würde sich vielleicht etwas Fertiges gestalten. Doch die schönen Tage von St. Gilgen sind bald vorüber, mein Hofrath! Ich könnte die Schulmeisterei und die Praxis wol entbehren, doch nicht die Wissenschaft und Kunst als melkende Kuh, da ich in socialer Beziehung immer noch zu den Säuglingen gehöre und für mich und die Meinen viel Nahrung brauche.

8. Juli 1890. Von mir weiß ich so viel wie nichts; ich habe immer nur für Andere zu denken und zu thun. Gar keine Stim mung, höchst selten erfreuliche Momente. — Und doch! Sonntag war ich mit fünf von meinen jungen Leuten auf der Raxalpe; das Wetter war ungünstig, doch so von oben aus der Höhe auf die kleine Welt herabzublicken, von Wolken umgeben, auch vom Sturme gepeitscht; es hat etwas Er frischendes, Erhabenes! Meine Gefährten haben wie für ihren Vater um mich gesorgt; auch das war schön, zuweilen rührend. Sie kamen mir wie fünf gute Narren mit König Lear vor. „Blast, blast“ etc. Ich empfinde heute noch einen eigenen Reiz wie in meiner Jugend, darin meine Kräfte bis aufs Aeußerste anzuspannen. Auch die Raxpartie ist gut abgelaufen.