Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Nr. 10694. Wien, Samstag, den 2. Juni 1894 Hanslick, Eduard Wilfing, Alexander FWF Der Wissenschaftsfond.
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Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Herausgegeben von Wilfing, Alexander Projektmitarbeiterinnen Bamer, Katharina Pfiel, Anna-Maria Elsner, Daniel Austrian Centre for Digital Humanities and Cultural Heritage Wien 2024

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Maschinenlesbares Transkript der Kritiken von Eduard Hanslick.

Nr. 10694. Wien, Samstag, den 2. Juni 1894 Hanslick, Eduard Neue Freie Presse Morgenblatt Herausgegeben von Etienne, Michael Friedländer, Max Wien 02.06.1894
font-style:italic; font-weight:bold; Deutsch Transkribus OCR und Lektorat. Transformierung der Daten des Transkribus TEI-Export mit "editions.xsl". Formatierung und Referenzen eingefügt. Letztkorrektur für Zwischenrelease.
Aus Briefen von Billroth. V.

St. Gilgen, 22. Mai 1891. Siehe Nr. 10675 der „Neuen Freien Presse“ vom 13. Mai, Nr. 10685 vom 24. Mai, Nr. 10690 vom 29. Mai und Nr. 10691 vom 30. Mai. Hätte ich Goockel’s Zauberring, ich hätte ihn oft ge dreht, um dich hieher zu bringen. War der Morgen schöner? Oder der Mittag? Oder der Abend? Oder die mondschein silberne Nacht? Nur selten dürfte es hier solche Reihe von schönen, regenlosen Tagen in einem lauen, selbst warmen Mai geben! Mir hat es sehr gut gethan; ich habe meine Stimme wieder, und wenn ich auch die Empfindung habe, daß ich weder stark schreien noch jodeln kann, ohne mich zu überschnappen, so hoffe ich doch, daß die Leistung meines Kehlkopfes für die Studenten genügen wird. Ob auch die Leistung meines Gehirns? Das ist mir zweifelhafter. Denn der Zustand von natürlicher Behaglichkeit und Zufriedenheit, in welche man in dieser göttlichen Natur hineingeräth, ist so unnatürlich für uns moderne Menschen, daß wir schon gar nicht mehr wissen, was an uns eigentlich erste oder zweite oder dritte Natur, was Geistesgesundheit oder Geistes ungesundheit ist. Hier bin ich doch etwas, ein Stück Natur; ich fühle mich ebenbürtig mit Baum, Fels, Bach und See. In Wien, wohin ich morgen abreise, soll ich nun wieder eine Rolle spielen, soll etwas scheinen in dem abgespielten Stück „Menschenglück und Ende“! Soll auf dem alten Theatrum mundi agiren, dessen Impresario längst ban kerott ist, und der von den Galerien kaum so viel ein nimmt, daß er ein Spielhonorar abendlich auszahlt, zu klein, um davon standesgemäß zu leben, zu groß, um daran vor Hunger zu sterben. Ich soll nun wieder in große Actionen eintreten; von den verschiedensten Seiten schreibt man mir, man warte auf mich, um dies oder das zu entscheiden. Und ich armer Teufel war hier so zufrieden im Träumen, ganz

vorbereitet auf das göttliche Nirwana! Daß das Schicksal meine blöde, grüblerische Hamletnatur auch gerade auf einen Posten gestellt hat, wo ich das treibende, agirende Element sein soll? Ich bin hier von den vielen schönen Tagen ganz verweichlicht und verspüre einige Aehnlichkeit mit Rinaldo. Daß keine Armida vorhanden ist, die Ansprüche an mich macht, ist mir lieb, doch aus den Zaubergärten der hiesigen Natur ruft mich nur der silberne Schild der Pflicht! Der Ge danke, den ganzen Sommer hier zu verdämmern, wäre mir nicht unerträglich. Certum signum senectutis. Gockel und Familie hat mich sehr belustigt. Die Aufsätze von D. Strauß habe ich zum größten Theile gelesen oder durchgeblättert. Wenn man über alle Künste und Literaturen Essays drucken läßt, kann’s wol nicht immer ersten Ranges sein. Zugleich las ich Springer’s Bilder aus der neueren Kunstgeschichte. Beide Bücher haben doch wieder den Gedanken lebendig gemacht, welche bedenkliche Abgötterei wir doch mit unserem Geist und unseren Empfindungen treiben. Die Reaktion kann nicht ausbleiben. Die Anbetung des Individuums wird schwinden, damit der Heroismus auf allen Gebieten der Kunst, Wissenschaft und Geschichte. Numerische Gleichheit der Individuen, das höchstmögliche Glück der Einheit bei Nivellirung des Gesammt-Niveaus, nichts allzu hoch, nichts allzu tief; das Hohe köpfen, den Schlamm heben, das ist das Ideal der jetzigen jungen Generation. Ich sehe eine Zeit, wo Kunst und Wissenschaft gleich der Religion als etwas Veraltetes, historisch wol Interessantes, doch Todtes, nicht mehr Erweckbares betrachtet werden: eine Republik des Ver standes und des materiell Praktischen, die nichts über Mittel maß duldet, und Jeden, der klüger oder besser als der Andere erscheint, sofort köpft. Ich bin froh, das nicht mehr zu erleben. Wir lebten in einem großen Zeitalter, in einem goldenen Zeitalter.

St. Gilgen, 26. September 1891. Ich habe hier ein körperlich arbeitsames und geistig faules Leben geführt! Geistig fauler als je. Ich habe nur zwei Bücher ernsthaft durchgelesen: „HelmholtzLehre von den Ton-Empfindungen“ zum viertenmale und Preyer’s „Ent

wicklung der Seele des Kindes“ Das kam so. Im vorigen Jahre habe ich hier und in Abbazia ein ziemlich dickes Manuscript zu Papier gebracht: Aphorismen zur Anatomie und Psycho-Physiologie des Musikalischen. Es lag unberührt ein Jahr; nun nahm ich es hier wieder vor. Das erste Capitel „Ueber den Rhythmus als eines der wesentlichsten, mit dem Organismus des Menschen innig verbundenen Elemente der Musik“ passirte meine Kritik leidlich, so daß ich es ins Reine schrieb. Auch der Anfang des zweiten Capitels: „Ueber die Beziehungen von Tonhöhe und -Tiefe zum menschlichen Organismus“ war noch erträglich. Doch dann kamen die Fragen: Sprache, Gesang, Vocale, Ober töne. Ich ward unsicher über die Richtigkeit einiger Sätze. So fing ich an, in HelmholtzBuch zu blättern, machte eine Excursion in LandoisBuch über Thierstimmen, kam wieder zu Helmholtz zurück, und zwar zur vierten Auflage, die gegenüber der ersten Auflage, die ich früher studirte, doch viel Neues enthält. Mit den Vocalen, Obertönen, Sprache etc. kam ich ins Psychologische, in die Entwicklung der Sprache und des Gesanges beim Kinde und so in Preyer’s dickes, dabei höchst interessantes Buch von funda mentaler Bedeutung. Ich will ja nichts Gelehrtes schreiben, sondern nur den Dilettanten in diesen Dingen die Illusionen abschütteln. Beruht das Componiren auf einem Act, der mehr den Hallucinationen oder Illusionen zugehört? Dies führte mich wieder zu einem Buche über Hallucinationen, über Schlaf, Träume etc., ja in die Geisteskrankheiten hinein. Ich möchte nicht einen Satz schreiben, der eine Unklarheit über diese Dinge verräth, nicht ein Wort falsch oder für den Kenner zweifelhaft anwenden. — Nun habe ich so viel Vorzügliches gelesen, daß ich mich gar nicht traue, mein Manuscript vorläufig weiter anzusehen. Du siehst, lieber Hanns, daß ich nicht zum populären Schriftsteller geboren bin. Bei Anderen gehe ich leicht über Ungenauigkeiten hinweg, wenn mich die Persönlichkeit des Schriftstellers anzieht; ich nehme bei mir jeden Satz bleiern schwer. So wird wol nichts aus meinem projectirten Essay werden. Schadet nichts! Wenn es nothwendig ist, wird es doch geschrieben,

von irgend einem Andern. Was in einer Zeit Einer denkt, denken Hunderte mit ihm; es liegt in der Luft; es ist, weil es den Zeitumständen und den Verhältnissen nach sein muß. Einer wird es in eine zeitgemäße Form kleiden. Wer es ist, ist für später ziemlich gleichgiltig. Die Persönlichkeit ist nur etwas in der Gegenwart; in der Geschichte ist sie nur ein kleines Moment einer Bewegung, die vor sich geht, weil sie den Umständen nach vor sich gehen muß. Du siehst, ich bin Fatalist in Betreff der Fortentwicklung der Menschheit. Im Uebrigen, meine ich, darf der Mensch, wenn er seine Schul digkeit gegen die Anderen gethan hat, in seinen Mußestunden thun, was ihn freut. So ist das Grübeln und Gestalten meine einsame Freude, mein Vergnügen; wenn auch gar nichts dabei herauskommt, so trägt es doch zur Erweiterung des Ichs bei, und das ist wieder eine Freude, die einsam genossen werden will und freilich zur inneren Einsamkeit führt.

Ich hatte auch manche belletristrische Sachen mit; auch Manches von Maupassant, Zola etc., doch ich vertrage davon nicht viel; der Humor muß dabei schon sehr hervorragend sein, wenn er mich über das ekelhaft Exotische hinweggleiten lassen soll. Wenn ich schon meine Zeit hergebe, um mir von Einem etwas erzählen zu lassen, so muß es schon etwas ganz Besonderes sein. Es geht mir fast schon wie Grill parzer, der einmal zu Brücke vor einer Akademie-Sitzung sagte: „Was soll ich armer alter Mann den ganzen Tag thun? Schreiben kann ich nicht mehr. Lesen? Ja, alle guten Bücher habe ich wiederholt gelesen: — nun soll ich auf meine alten Tage die schlechten Bücher lesen! Das ist doch zu hart!“

17. October 1891. Es ist ein eigen Ding mit dem Lachen und behaglichen innerlichen Lächeln über Bücher, Vorkommnisse und Men schen. Von tausend Menschen, welche über dasselbe weinen, werden kaum fünfzig über dasselbe lachen. Das Pathetische, Großartige, Gewaltige, uns Niederdrückende, der schmerzliche Kampf ums Dasein bis zum Tode scheint in der gesammten Natur selbst zu liegen. Das Komische und Lustige ist rein menschlich, constitutionell, sein Ausdruck wechselt mit den verschiedenen Zuständen der geselligen Verhältnisse, ja mit dem Alter und den labilen Stimmungszuständen des Einzelnen.

26. November 1891. Ich will es gar nicht leugnen, daß mich der Gedanke, zum erstenmale in unserem Herrenhause zu sprechen, so

lange aufgeregt hat, bis es geschehen war, und daß ich Alles, was ich sagen wollte, gut durchdacht hatte; daneben liefen alle meine anderen täglichen Berufsgeschäfte, und da sah es manchmal recht wüst in meinem Kopfe aus. Doch ich glaubte es meinen Collegen und meinem Stande schuldig zu sein, für sie einzutreten, wozu sich ja sonst so wenig Gelegenheit bietet. — Ob das, was ich gesprochen, den „Herren“ ge fallen hat, weiß ich nicht; jedenfalls war es während der drei Viertelstunden, die ich gesprochen habe, so mäuschenstill in dem sonst sehr unruhigen Hause, wie ich es bisher kaum erlebt habe. Es war wol die Neugierde, einen „neuen“ Mann sprechen zu hören.

4. December 1891. Du verziehst mich schrecklich. Wie sonderbar doch das Leben ist. Ich hätte nie geglaubt, daß ich je in unserem Parlamente eine persönliche Stellung einnehmen würde, auch Einer dort sein könnte. Doch scheint es nach beiden ersten Reden fast so. Ich bin jetzt doch etwas nervös geworden, mehr durch die langweiligen Delegations-Sitzungen, als durch schlaflose Nächte, in welchen ich als Vorbereitung zu meiner zweiten Rede noch einmal die ganze Zeit von 1870 durch lebte, Abends vorher Kriegskarten studirte; um 6 Uhr Diners. Nun habe ich genug davon und sehne mich schon nach Abbazia.

10. December 1891. Ich schicke dir beiliegend meine beiden Reden; vielleicht freut es dich, sie durchzusehen, sie sind ein Stück von mir. Du magst sie behalten, wenn du willst. Ich lege von den zahllosen Ausschnitten aus ausländischen Zeitungen zwei bei, die dich vielleicht amüsiren werden.

Vielleicht schreibe ich am Semmering wieder ein Capitel meiner Aphorismen über Musik. Vielleicht ist mein Herz bis dahin schon längst in irgend einer Launenhaftigkeit still geworden. Mir ist manchmal zu Muthe, als würde ich die nächste Stunde nicht erleben. Thut nichts! — Habe mich lieb und behalte mich lieb, todt oder lebendig; man wird mich mit viel Liebe begraben. — Vielleicht kommt es anders.

26. Januar 1892. Mit Rührung habe ich heute gelesen, was du über den alten Soldatensänger Haitzinger geschrieben hast; das war sehr lieb von dir. Seine kunstvolle und doch wieder naive Art des Singens hat mich sehr interessirt. Ich habe die Empfindung gehabt, daß man gerade so zu Schubert’s Zeit

sang: in erster Linie rein musikalisch, nur um zu singen und singen zu hören. Brahms vermißte: tiefere Auffassung, Seele, künstlerische Noblesse. Ich weiß nicht, ob das wirklich so besonders vorwiegend von Schubert intendirt war; ich meine immer, wir modernen Menschen verbinden viel zu viel allerlei Dinge und Gedankenbilder und Gefühls extreme mit der Musik vor 1848. Die Musik allein genügt den Meisten nicht, sie soll jetzt immer mit anderen Dingen verquickt sein, und wo dies nicht sein kann, sucht der Spieler oder Sänger durch besondere Vortragsart unsere Aufmerk samkeit von der Musik auf sich, auf seine sogenannte Auf fassung zu lenken. Das Hören und Empfinden des einfach musikalisch Schönen und die abstracte Lust daran scheint mir sehr in Abnahme begriffen. Das Interessante ist der Feind des Schönen. Das Schöne und Schönste kann nicht wol interessant sein, ebensowenig wie das Gute und Beste. Das absolut Schönste und Beste wird wie Gold immer lang weilig sein, weil es eben das Schönste und Beste ist, das Interessante aber den Wechsel von Schön und weniger Schön involvirt.

Aussee, 2. October 1892. (Nach Billroth’s Jubiläum als Professor an der Wiener Universität.) Ich müßte ein Herz von Stein haben und überhaupt kein Mensch sein, wenn ich nicht durch die Unzahl von Telegrammen und Briefen von der ganzen Erdoberfläche her tief gerührt wäre. Es gibt also doch recht viele, viele Menschen, die mich lieb haben für die Liebe, die ich ihnen entgegenbringe, sei es als meinen Schülern, sei es als meinen Patienten. Man kann sich nur satt essen und satt trinken. Doch aller Menschen Liebe würde man nimmer satt.

Ich habe es nie für wahrscheinlich gehalten, daß man dem Kaiser vorschlagen würde, mich zum Geheimen Rath zu ernennen. Wir stehen als Universitäts-Professoren, als Lehrer des zukünftigen Oesterreich ja doch eigentlich ganz außerhalb der Beamtenwelt. Wir sind nur unserem Gewissen verantwortlich, und da gibt es keine Rangstufen, denn vom Gewissen zur Niedertracht ist nur Ein Schritt. — Du hast in deinem letzten Briefe darüber ganz meine Empfindungen ausgesprochen. — Die Verleihung des Ehrenzeichens (oder wie es im Gelehrtenmunde heißt, des „Goldenen Vließes“ für Kunst und Wissenschaft hat mich sehr gefreut, weil es mir gebührt. Es liegt gesunder Menschenverstand, also die allerhöchste Auszeichnung in dieser Auszeichnung.