Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Nr. 10701. Wien, Samstag, den 9. Juni 1894 Hanslick, Eduard Wilfing, Alexander FWF Der Wissenschaftsfond.
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Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Herausgegeben von Wilfing, Alexander Projektmitarbeiterinnen Bamer, Katharina Pfiel, Anna-Maria Elsner, Daniel Austrian Centre for Digital Humanities and Cultural Heritage Wien 2024

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Maschinenlesbares Transkript der Kritiken von Eduard Hanslick.

Nr. 10701. Wien, Samstag, den 9. Juni 1894 Hanslick, Eduard Neue Freie Presse Morgenblatt Herausgegeben von Etienne, Michael Friedländer, Max Wien 09.06.1894
font-style:italic; font-weight:bold; Deutsch Transkribus OCR und Lektorat. Transformierung der Daten des Transkribus TEI-Export mit "editions.xsl". Formatierung und Referenzen eingefügt. Letztkorrektur für Zwischenrelease.
Aus Briefen von Billroth. VI. (Schluß.)

Ed. H. Siehe Nr. 10675 der „Neuen Freien Presse“ vom 13. Mai, Nr. 10685 vom 24. Mai, Nr. 10690 vom 29. Mai, Nr. 10691 vom 30. Mai und Nr. 10694 vom 2. Juni 1894. Die Briefe aus Billroth’s letzten Jahren geben uns ein treues Bild von der geistigen Spannkraft und all seitigen Empfänglichkeit, welche der bereits Schwerkranke sich bis ans Ende bewahrt hatte. Kämpfend mit einem Herz leiden, das jeden Andern zu muthloser Passivität nieder gedrückt hätte, bethätigt Billroth unausgesetzt den lebendigsten Antheil an den Erscheinungen der Literatur, Musik, Politik. Dieses Interesse bleibt nicht blos aufnehmend, es wird zu gleich productiv in seiner oft zu kleinen Abhandlungen an wachsenden Correspondenz, in seinem eisig fortgesetzten Essay über Musik, in seinen epochemachenden Reden im Herrenhause. Unter dieser erstaunlichen, vielseitigen Geistes thätigkeit strömt aber in Billroth’s letzten Jahren ein merk würdiger neuer Zug: sein inniges Sich-Eins-fühlen mit der Natur. Es ist dies ein ganz Anderes, als Billroth’s Natur genießen in seinen bewegteren jüngeren Tagen, wo er land schaftlicher Schönheit objectiver, mehr als beschauender Künstler gegenüberstand. Auf unseren gemeinsamen Reisen sah ich ihn manche Gegend bewundern, auch wol, wenn sie seinen Erwartungen nicht entsprach (wie der Vesuv oder die Blaue Grotte), humoristisch kritisiren, aber sie blieb ihm doch Object, wie ein Gemälde, und mußte bald seinem Drange weichen, wieder Anderes, Neues zu sehen. In seinen letzten zwei Jahren wandelt und vertieft sich dieses Ver hältniß; wir beobachten an Billroth ein unmittelbares, inniges Mitfühlen der Naturstimmung, ein stilles, dabei leidenschaftliches Versenken in ihre Einzelheiten. Sein Puls pocht in geheimnißvoller Sympathie mit dem Pulse der Natur. In dem engen Umkreise von St. Gilgen und Abbazia, über den hinaus es ihn nicht mehr drängte, wird er Eins mit dem Leben der Landschaft. „Ich fühle mich als Stück der Natur, als Fels, als Woge, als Baum, als Himmel.“ Dieser Zug hatte für mich etwas tief Ahnungs volles, dabei rührend Großartiges, indem Billroth’s Natur

schwärmerei nie in thatlosem Quietismus erschlaffte, sondern in steter Wechselwirkung blieb mit geistiger, oft angestrengt geistiger, productiver Thätigkeit.

Abbazia, 6. Januar 1888. Ich lag bis heute Abends in dem Banne von philo sophischen Schriften, deren Lectüre ich immer verschoben hatte. Es sind sechs Abhandlungen von meinem Collegen Salomon Stricker, die mich ungemein gefesselt haben. Ich hatte früher nur indirecte Kenntniß davon, doch als ich in diesem Frühjahr nach unserem Zusammensein in Mai land und Lugano zufällig Nr. 6 dieser Schriften in die Hand bekam, fand ich, daß er nicht aus Eitelkeit, ein Polyhistor zu scheinen, schreibt, sondern aus innerem Be dürfniß. So zog es mich denn, Alles zu lesen, was er in letzter Zeit veröffentlicht hat; denn ich empfand, daß in ihm, wie in mir der Drang unüberwindlich ist, die sogenannte Philosophie auf anatomisch-physiologische Beine zu stellen. Die Welt hat mich im letzten Decennium bewundert über die neuen Operationen, welche ich, als auf anatomischen Studien basirt, für ausführbar hielt und wirklich ausführte, wie Kehlkopf-Exstirpation, Magen-Resectionen und manches Andere. Ich habe meinen Schülern die Veröffentlichung dieser Operationen überlassen, die anfangs nur als Virtuositäten operativer Technik imponirten, bis die Zunft sich ihrer bald als Handwerk bemächtigte, gerade so wie heute die Liszt’sche Technik jedem jungen Clavierspieler eingeimpft wird und er überhaupt gar nicht daran denken darf, Clavierspieler zu sein, ohne diese Technik zu beherrschen. — Doch so wie Liszt auf diese Dinge gar nichts mehr gab, sondern in einer ganz andern Richtung zu streben sich bemühte, so ging es auch mir. Ich thue in Wien meine Schuldigkeit als Lehrer und Arzt, doch so ich fort von Wien bin, erfassen mich mit unwiderstehlicher Gewalt zwei Probleme: 1. Ist es möglich, dem Ich-Bewußtsein und 2. dem sogenannten „Moralischen im Menschen“ auf anatomisch-physiologischer Grundlage bei zukommen? ... Noch habe ich nie die Feder angesetzt, um meinen Ideen Form zu geben. Es ist zweifelhaft, ob ich je dazu komme. Aber es lebt eben Jeder in einer gewissen Illusion. Du hast das Talent. ... Mir wird das viel schwerer; mir fehlt dazu die Unmittelbarkeit, die Naivetät. Ich werde zu leicht abgezogen. Die Empfindung für die Natur, das Einswerden mit ihr hemmt auch mich hier wie

in St. Gilgen. Ich fühle die warme Sonne auf dem unter meinem Fuß knisternden Schnee, das tiefblaue Meer, den Himmel wie Email über mir, das tiefe Grün der Lorbeern u. s. w. zu sehr, als daß ich mich auf andere Gedanken concentriren könnte. Ich fühle mich als Stück der Natur, als Fels, als Woge, als Baum, als Himmel, und da ver flüchtigen sich meine Speculationen. Und in Wien, da herr schen die Menschengedanken wieder zu sehr vor, und so wird nichts — Alles bleibt Vorempfindung, „unendliches Melo disiren ohne Melodie“!

Wien, October 1888. Sueß Rede hat mich heute entzückt. Wenn mir der Inhalt auch nichts Neues brachte, da ich mich seit Jahren mit den von ihm berührten Dingen beschäftige, so war doch die Form meisterhaft, ungemein geistvoll. —

— Sorgen um die Zukunft verbittern mein Leben; wie lächerlich ist doch ein alter Mensch, der für die wenige Zukunft, die er noch hat, sich hundertmal mehr Sorgen macht, als ein junger Mensch, der noch eine lange Zukunft vor sich hat! —

Wien, Februar 1888. Ich führe ein sehr liederliches Leben. Seit ich von Abbazia zurück bin, war ich keinen Abend zu Hause oder hatte Leute bei mir. ... Du wirst die Achsel zucken und mir zurufen: Chamäleon, Salamander! Nun jedenfalls besser als Kameel und andere Viecher. Ich bin dabei kreuz fidel und mache mir keine Sorgen. Wie schade, daß ich mich nicht auch noch wie der alte Goethe verlieben kann; doch dazu hat mir immer das Talent gefehlt und sich weder in der Stille noch im Strom der Welt entwickelt. Wenn ich wieder vernünftig bin — Alles kommt bei mir in Anfällen — hoffe ich deiner Nähe und Freundschaft wieder würdig zu werden!

Wien, Februar 1889. Hörte im Carl-Theater „Capitän Wilson“. Die Musik ist nur mit Zwang in die Handlung verflochten und sehr schwach. Alles nach der Schablone des „Mikado“. O heiliger Jacques Offenbach! Classischer Heros des musi kalischen Talents! — Wie sonderbar diese Sechzehntel- Genies! wie Schumann sagt. Welch glücklicher Griff im Mikado“: Stoff, Land, Ausstattung, Humor, Satire, seines Zurückgreifen auf die alte Form des Madrigals,

englische National-Melodien Offenbachisch geformt — Alles scheint intensiv Talent! Gerade so Lecocq; wir hörten Angot“ zusammen in Neapel, im gleichen Jahre hörte ich Angot“ in Stockholm. So wurde auch der „Mikado“ ubi quistisch wie die Schimmelpilze und gewisse Bacterien, Wesen, deren Keime auf den Spitzen des Micimborosso und in den Kohlengruben der Gebrüder Gutmannvorkom men, eine Art Allgegenwart, in der die Weltseele eine Art Gottheit vermuthen könnte wie im „Mikado“ und in der Angot“! Aber, o weh! Bei Nr. 2 schon Alles aus! Die Gottheit des Talents von Talmi! Man hat die Fata morgana für Wirklichkeit genommen. Wenn das Wesen der Kunst im „schönen Schein“ besteht, so gibt es auch noch eine Kunst, ihr den Anschein eines schönen Scheins zu geben. (Nimm’s nicht zu ernsthaft!)

Abbazia, 9. Januar 1892. Draußen furchtbarer Gewittersturm; es blitzt und donnert wie im Juli; die Wogen spritzen hoch in die Höhe in den Park hinein; die ganze Natur im höchsten Aufruhr! Frau und Kinder packen in den Nebenzimmern Alles zu sammen zur Abreise. Ich wäre zu gern heute mit nach Wien gefahren, da mich das vollkommene Nichtsthun schon sehr ödet. Doch mein Katheder kommt doch noch allzu leicht wieder, und meinen Kräften fehlt noch der gewisse Ueber schuß, über welchen ich disponiren muß, wenn ich mit Freu den arbeiten soll. — Dein lieber Brief vom Drei-Königs-Tag hat mir sehr wohl gethan. Wenn mir meine Frau auch zu weilen den Kopf wäscht über meine Raunzereien, so wirkt das doch nicht mehr viel. Deine freundlich strenge Straf predigt über meine Ungeduld und Ungeberdigkeit habe ich mir dankbarst hinter die Ohren geschrieben. Doch ich bin oft so tieftraurigen Stimmungen unterworfen, daß ich mir schon selber recht zuwider bin. Ich finde kaum Stimmung zum Lesen; vom Schreiben oder längerem consequenten Denken ist noch gar keine Rede. Den Sitz neben dir am 17. nehme ich dankbarst an. Auf vergnügtes Wiedersehen! Sophie trage ich auf, in dieser Influenza-Zeit ganz beson ders auf dich Acht zu nehmen.

Wien, März 1892. In Mascagni’s „Amico Fritz“ klingt mir Vieles geradezu widerwärtig; daß man sich an jede musikalische

Klangfratze gewöhnen soll, ist doch viel verlangt. Indeß bin ich überzeugt, daß wir noch lange nicht am Ende sind. Man wird dazu kommen, das beliebige Hin- und Her schlagen mit Fäusten auf dem Clavier in irgend welchen fünf- oder siebentheiligen Rhythmen auch noch für interessante Kunst zu halten. Erst dann wird man, wenn man ganz ins natürliche bestialische Chaos zurückgefallen ist, wieder von vorne anfangen. So wird es auch mit dem Ethischen und Socialen gehen, das sich die Culturnationen mühsam erworben haben. Man will zum bestialischen Urzustand zurück. Freut mich, daß ich es nicht erlebe. — Das Clarinett- Quintett von Brahms! Wie anders wirkt dies Zeichen auf mich ein! Freilich gibt es wol kaum ein Kammermusik stück, was in der vierhändigen Bearbeitung so wenig von dem wonnigen Klangreiz zu bieten vermag, als dieses Quintett. Und doch! Dies Skelet ist von einer so wunder baren Schönheit für den musikalischen Anatomen, daß es für den, welcher das Original kennt, sich mit Fleisch und Haut bedeckt und zum schönsten Individuum wird. Hier ist Alles ausgesucht schöne Form und Klangschönheit. In der knappen Form aller Sätze vollendete classische und doch interessante Schönheit. Nichts Häßliches und doch viel inter essanter als der ganze Mascagni mit seinen Fratzen. Ich habe das Stück heute dreimal mit Frau Groll durch gespielt, und wenn ich danach nicht völlig nervös erschöpft gewesen wäre, so hätte ich gern von vorne angefangen. Es ging das drittemal erträglich; doch ob ich es bis Samstag nicht wieder vergessen habe, dafür möchte ich nicht stehen. Ich habe den Baß gespielt. Mit den Clarinett-Coloraturen im Adagio wirst du dich vorher befassen müssen, wenn wir es spielen wollen. Ich fürchte, du wirst überhaupt an manchen Stellen sehr nervös werden, wo Viertel, Achtel, Triolen, Synkopen etc. immer ganz ungenirt neben einander hergehen und dabei doch das Ganze einen ruhigen Eindruck machen soll. Ich komme Samstag 7 Uhr und freue mich sehr darauf.

Abbazia, 3. Januar 1893. Durch eigene Studien und eigenes Grübeln bin ich schon lange zur Ueberzeugung gekommen, daß es für den Menschen absolute Begriffe wie „schön“ und „gut“ seiner ganzen Natur und seinen bisherigen socialen Gestaltungen nach überhaupt nicht geben kann; denn man muß sich doch

immer fragen: „Schön“ für wen? „Gut“ für wen? Es sind im höheren Sinne conventionelle, mit der Veränderung und Cultur der menschlichen Gesellschaften unlösbar ver bundene, fortwährend wechselnde Begriffe. Sie sind deßhalb nicht weniger werthvoll, weil sie conventionell sind; denn die aus dem Altruismus hervorgegangene Convention ist eine der stärksten Fundamente der Ethik und der Aesthetik. Wenn ich noch einen Moment über diese Dinge im Zweifel gewesen wäre, so würde mich ein Buch, das ich mit Heiß hunger verschlinge, Herbert Spencer’s „Sociologie“, darüber völlig ins Klare gebracht haben.

Ungemein schwierig ist es nun auf dem Gebiete jeder Kunst für den innerhalb einer Zeit Stehenden zu beurtheilen, nach welcher Richtung hin sich eine weitere Entwicklung kundgibt; ja man hat schon oft Fortschritt für Rückgang oder Rückgang für Fortschritt gehalten. Es ist mit den socialen Verhältnissen nicht anders. Die meisten Menschen halten Social-Demokratie und Communismus für Fort schritt; die sociologischen Historiker sagen, es ist ein Rück schritt zu bereits überwundenen Formen der Gesellschaften und Staaten. Nur in den Naturwissenschaften wissen wir immer sehr bald, ob eine Beobachtung, eine Zusammenhangs- Erkenntniß neu ist oder nicht.

Wir befinden uns zur Zeit mit der Musik, so viel ich es zu beurtheilen vermag, auf einem Punkte, wo eigentlich Niemand sagen kann, was werden wird. (Es ist wol mit den modernen Künsten zur Zeit nicht besser bestellt.) Man denkt sich wol zuweilen, es müßte Jemand kommen, der un erschöpflich an neuen, bisher noch nicht gehörten Melodien ist. Ist aber unsere jetzige Generation auch noch empfänglich dafür? Das ist mir sehr zweifelhaft. Der Culturmensch will immer etwas Neues von Zeit zu Zeit haben. Was soll ihm die Musik Neues bringen? Sollen die Stücke complicirter, polyphoner werden, um das Interesse an dem Ineinander winden der Tonformen zu reizen? Man kann die Motive doch nur nacheinander oder nebeneinander bringen, entweder wie sie sind oder in veränderter Form. Man kann das Ein zelne und das Ganze kürzer oder länger machen. Bruckner wählt das Letztere. Daß eine Symphonie ein Concert aus füllt, war wol noch nicht da, es ist neu, die neuen Gene rationen wollen vor Allem etwas Neues. Die Kritiker wollen

auch etwas sein; sie klammern sich an das Neue und kommen sich dabei selbst neu und interessant vor; sie schrauben sich in ihrer bornirten Phantasie zu Vorkämpfern einer neuen Aera hinauf und kommen sich dabei viel wichtiger vor wie der Held, den sie auf ihrem Schild tragen.

Es wäre wol ganz interessant, zu hören, was für Musik man in hundert Jahren machen wird, doch wir werden wol kaum Aussicht haben, hier am Karst oder sonstwo, wie der Meister von Palmyra, einem Geist zu begegnen, der uns ein ewiges Leben schenkt; so thun wir wol am besten, uns an dem zu erfreuen, was wir haben, und übrigens dem Grundsatze zu huldigen: „Mensch, ärgere dich nicht!“

Abbazia, 3. März 1893. Ueber mich weiß ich dir nichts Neues zu erzählen, als daß ich mit größtem Behagen das Studium von Herbert Spencer’s Sociologie“ fortsetze; es scheint mir wie ein Buch der Bücher, wie eine Bibel. Freilich ist auch letztere nicht nach Jedermanns Geschmack. — Am 9. April will ich nach Wien zurück, eine Woche für die Vollendung des Rudolphiner hauses betteln gehen, dann für das Haus der Gesellschaft der Aerzte und dann für meine Zukunftsklinik arbeiten: drei Nägel zu meinem Sarge. Ich wollt’, ich läge erst drin; denn das langsame Hinabkriechen ist gar nicht nach meinem Geschmack.

St. Gilgen, 11. Juli 1893. Hoffentlich besuchst du mich bald. Es geht mir augen blicklich recht leidlich. Ich hatte jetzt in Wien fünf Wochen strenger Arbeit; vier Wochen lang ging es gut; die letzte Woche war ich sehr müde und abgespannt. Mit Hilfe von Digitalis habe ich mich wieder aufgepulvert; ohne dieses merkwürdige Mittel will mein altes Herz nicht mehr recht arbeiten. Man gewöhnt sich auch daran. Jedenfalls geht es mir besser als im vorigen Jahre. Mein Tagwerk ist voll endet, Alles von mir Geschaffene so organisirt, daß es nun auch ohne mich geht. An der „Manie d’être“ leide ich nicht. Fühle ich mich nach Ablauf der Digitalis-Wirkung oder nach angestrengter Arbeit recht elend, so habe ich heiße Todes sehnsucht; geht es mir mit der Digitalis besser, so finde ich das Leben stellenweise noch ganz angenehm. Ein solcher Moment würde eintreten, wenn du mich bald einmal besuchtest.

Wien, 20. December 1893. Für die Empfehlung des Böhmischen Quartetts bin ich dir sehr dankbar. Lag es an meiner Stimmung oder war es wirklich so: ich hatte den Eindruck, noch nie einen so schönen Zusammenklang gehört zu haben, und doch habe ich die Gebrüder Müller, Spohr’s Hausquartett mit dem Meister als Primgeiger, das Pariser Quartett (in Berlin vor fünfundzwanzig Jahren), Joachim-Quartett, Becker-Reckmann-Quartett gehört, also wol das Beste, was man in den letzten fünfundvierzig Jahren hatte. Vollkommene Reinheit, einfacher, unverkünstelter Vortrag, geschmackvolle Phrasirung ohne Uebertreibung. Ob sie die psychische und tech nische Kraft haben, wie sie etwa für das D-moll-Quartett von Schubert und manche energische Stücke von Brahms nöthig ist, lasse ich dahingestellt. Das bescheidene Auftreten, zumal des Primarius, berührt besonders angenehm. Kurz, Alles zusammen wirkt im höchsten Grade musikalisch und wohltuend, so rein künstlerisch. Das Es-dur-Clavier- Quartett von Dvořak ist wol keine von seinen genialsten Compositionen, doch hat es mir — so gespielt, so einheitlich vorgetragen — sehr gut gefallen. — Vom böhmischen Quartett zu böhmischen Volksliedern ist kein zu großer Schritt. Man sagt meist, die Slaven seien ein melancho lisches Volk und haben deßhalb vorwiegend Volkslieder in Moll. Brahms behauptet, es sei nicht wahr, daß die sla vischen Volkslieder vorwiegend in Moll seien. Er theilte mir aber mit, daß du eine besonders zahlreiche Sammlung sla vischer Lieder habest. Du würdest mir einen großen Gefallen erweisen, wenn du beliebig die ersten hundert Stücke heraus nehmen und abzählen möchtest, wie viele davon in Moll stehen. Es kommt mir viel darauf an, das Factum zu constatiren, weil ich schon im Begriffe war, auf den Anfang aller Musik mit Moll psychologische Theorien zu construiren; ich gerieth dabei in Opposition mit Helmholtz, der, wie mir scheint, gar zu viel in Betreff der Tonleitern und Harmonien aus den Obertönen ableiten will. Man muß sich vorsehen, einem Manne wie Helmholtz zu opponiren, der selbst ganz unmusikalisch geneigt ist, Alles aus physi kalischen Gründen zu erklären, und dabei das psychologische, conventionelle und rein musikalische Moment unterschätzt. Helmholtz ist in der Vielseitigkeit seines Wissens und Gestaltens

neben Goethe mit einer der Größten unter den Großen; doch die Zeit schreitet vor, und auch die Größten irrten zuweilen, wie die Kritik der Späteren mit neuen Forschungen und Ent deckungen neuer Thatsachen oder Betrachtung auch älterer Thatsachen von anderen Gesichtspunkten aus aufweist. Es gibt keine ewigen Größen, sondern immer nur Größen in einer be stimmten Zeit und unter bestimmten Verhältnissen. Ich quäle dich heute sehr: kannst du mir sagen, in welchem Jahre Cherubini seine drei Streichquartette geschrieben hat?

In alter Liebe und Treue dein gelähmter Kranich.

Das Concert des „Böhmischen Quartetts“ war die letzte Musik, die Billroth gehört, sein Brief darüber der letzte, den er vor seiner Abschiedsfahrt nach Abbazia ge schrieben hat. Welch lebendiges Interesse an der Musik quillt da noch aus jeder Zeile! Von Bekannten und Un bekannten ward mir in zahlreichen Zuschriften das dankbare Geständniß, sie hätten aus Billroth’s intimen Briefen erst den ganzen großen Menschen kennen und verehren gelernt. Der medicinischen Welt hat Billroth Wunderdinge geboten, die wir Laien nicht verstehen können; uns Anderen über häufte er mit Schätzen des Geistes und Herzens, die Jeder versteht und die Jeden beglücken. So war es denn wohl gethan, diese Briefe, welche die Bewunderung und Liebe Tausender für Billroth vermehrt haben, zu veröffentlichen, gerade jetzt zu veröffentlichen, wo sie ohne Commentar allgemein verständlich sind und Billroth’s ideale Gestalt noch lebendig vor unseren Augen steht, der Ton seiner Stimme noch deutlich in uns nachklingt. Eine anonyme „Billroth-Verehrerin“ kann ich mit der Ver sicherung beruhigen, daß kein einziger von Billroth’s Briefen aus meinen Händen gekommen ist, noch jemals kommen wird. In die Druckerei der „Neuen Freien Presse“ sind nur von mir verfertigte Abschriften gelangt. Wir werden nimmer Seinesgleichen sehen. An der Schwelle des prosaisch-praktischen neuen Jahrhunderts steht Billroth als der ganz einzige große Arzt, den ein poetischer und roman tischer Hauch umwittert und von dessen Künstlernatur und reinem Menschenadel ein alle Herzen bezwingender Zauber ausging. Nothnagel hat ihn schön und treffend mit einem geschliffenen Edelstein verglichen: „Von welcher Seite man ihn betrachten mag, immer leuchtet er in neuer Pracht.“