Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Nr. 10792. Wien, Samstag, den 8. September 1894 Hanslick, Eduard Wilfing, Alexander FWF Der Wissenschaftsfond.
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Maschinenlesbares Transkript der Kritiken von Eduard Hanslick.

Nr. 10792. Wien, Samstag, den 8. September 1894 Hanslick, Eduard Neue Freie Presse Morgenblatt Herausgegeben von Etienne, Michael Friedländer, Max Wien 08.09.1894
font-style:italic; font-weight:bold; Deutsch Transkribus OCR und Lektorat. Transformierung der Daten des Transkribus TEI-Export mit "editions.xsl". Formatierung und Referenzen eingefügt. Letztkorrektur für Zwischenrelease.
Billroth als Musikreferent.

Ed. H. Die Berufung nach Wien traf Billroth in Zürich, wo er zu Anfang der Sechziger-Jahre die Professur für Chirurgie an der medicinischen Facultät der damals noch jungen Hochschule versah. Es war in jener für die beiden Hochschulen Zürichs, das Polytechnicum und die Uni versität, so glanzvollen Epoche, während welcher Lehrkräfte wie Gottfried Semper, Moleschott, der Aesthetiker Fr. Vischer, der Kunsthistoriker Lübke, der Angenarzt Horner, der Bota niker Heer, der Chemiker Wislicenus, der Criminalist Temme, der Geschichtsschreiber Büdinger und Andere ein lernbegieriges Auditorium um sich versammelten und Geister wie Georg Herwegh, Gottfried Kinkel, Richard Wagner, Otto Roquette und Andere sich des Asylrechtes auf freiem Schweizer Boden erfreuten. Der Lections-Katalog des Jahres 1861 weist aus, daß Billroth ein sechsstündiges Colleg über specielle Chirurgie las, daneben noch 7½ Stunden der chirurgischen Klinik und sechs Stunden dem Operationscurse widmete. Weniger bekannt dürfte jedoch die Thatsache sein, daß der so vielbeschäftigte Lehrer und Operateur noch Zeit und Lust fand, der journalistischen Thätigkeit, und zwar als Musik referent der Neuen Züricher Zeitung, obzuliegen. Wußte doch selbst die Redaction dieses heute noch existirenden an gesehenen Blattes sich gelegentlich des Dahinscheidens des allgemein betrauerten Mannes nicht zu erinnern, daß der selbe einst zu dem Stabe ihrer Mitarbeiter gehört hat. Einzig dem gegenwärtigen Decan der medicinischen Fa cultät in Zürich, Professor Dr. Otto Haab, der mit dem Rufe eines gefeierten Ophtalmologen den eines aufrichtigen Kunstfreundes verbindet, war es vorbehalten, in seiner Gedenkrede auf die Verdienste hinzuweisen, die sich Billroth um das musikalische Leben Zürichs erworben hat, und namentlich den Antheil zu betonen, der dem Verstor benen an dem Zustandekommen eines ständigen Concert- Orchesters gebührt. Es kann nicht Aufgabe dieser Zeilen sein, nach dieser Richtung hin den Einfluß zu untersuchen, den Billroth’s gesprochenes und geschriebenes Wort ausübte. Lebhaftere Theilnahme jedoch als für dieses lediglich locale Interessen betreffende Wirken dürfte dem großen Kreise der Verehrer Billroth’s die Art und Weise erregen, wie er seines

Amtes als Musikreferent waltete. Nicht ohne ein Gefühl der Wehmuth betrachten wir die vergilbten Blätter der Züricher Zeitung aus den Jahren 1861 bis 1863, welche die mit einem —h signirten Concertberichte enthalten. Dem Entdecker talent und der bewährten Gefälligkeit des k. k. General- Consuls in Zürich, Hofrath Ludwig Przibram, verdanken wir die Mittheilung der längst verschollenen Musikberichte Billroth’s. Jede Thätigkeit, die ein bedeutender Mann mit liebevollem Eifer gepflegt hat, ist uns wichtig, mag sie auch neben seinem eigentlichen Beruf nur als anmuthiger Schmuck erscheinen. So gehört denn zu einem vollständigen Bilde von Billroth nicht blos die Wissenschaft allein, mit der er vermält, sondern auch die Kunst, in welche er verliebt war. Aber das rein subjective Interesse, welches man diesen Musik berichten entgegenbringen mag, wird immer mehr zurück gedrängt, je weiter der Leser gelangt und inne wird, daß er es da mit Urtheilen zu thun hat, die sich durch Prägnanz des Ausdruckes wie durch vollkommenes musikalisches Ver ständniß auszeichnen. Dabei versetze man sich zurück in die Zeit vor mehr als dreißig Jahren, da jene von Billroth besprochenen Tonschöpfungen noch nicht Gemeingut aller Ge bildeten waren und fachmännische Kritik nur wenig Vorbilder aufzuweisen hatte.

In Nachstehendem geben wir einige Stichproben aus diesen „von des Augenblickes Gunst geborenen“ Recensionen; sie werden nachhaltiger als alle Schilderung darthun, wie dieselbe Hand, welche das Messer des Operateurs führte, auch die Feder zu meistern wußte.

So schreibt Billroth nach der Aufführung von Schubert’s großer C-dur-Symphonie am 14. Januar 1862:

„Es gehört zu der Charakteristik der Schubert’schen Instrumentalwerke, daß sie sehr breit, im größten Style an gelegt sind. Diese Breite ist nicht bedingt durch eine über triebene Methode oder Manier der Durchführung, wie wir sie in den Spohr’schen Werken finden, in welchen das Thema zuweilen alle existirenden Tonarten durchpassiren muß, son dern sie ist durch die Breite der Themen, durch die Länge der Perioden bedingt, die Verhältnisse der einzelnen Theile eines Satzes sind durchaus ebenmäßig und gehen keineswegs über das Uebliche hinaus. Bei genauer Verfolgung der Partitur wird man freilich finden, daß er mit wenigen be

stimmten Rhythmen schon im ersten Theile der Sätze Com binationen und Harmonisirungen vornimmt, die sich ein weniger üppig begabter Componist wohlweislich für den An fang des zweiten Theiles verspart; dies ist nun zwar auch schon von Mozart und Beethoven geschehen, doch in be schränkterem Maße (mit Ausnahme der Neunten Symphonie Beethoven’s); indeß die Steigerung, die Schubert trotz dieser Verschwendung immer noch zu Gebote stand, läßt das Uebermaß der epischen Breite bald vergessen, und eine Steigerung liegt in jedem Satze, sowie in dem ganzen Kunstwerk, wie sie nur den begabtesten Geistern zu Diensten ist. Ob Schubert, wenn er selbst seine Orchestersachen und Opern öfter gehört hätte, hie und da gekürzt haben würde, ist schwer zu sagen; von Mozart weiß man allerdings, daß er öfter nach den ersten Proben noch strich, denn sein Grundsatz war: „kurz und gut“. Jetzt an einer solchen Symphonie zu streichen, wäre allerdings ein Unfug.“

Gelegentlich einer Quartett-Production schreibt Billroth:

„Es ist ein oft wiederholter Ausspruch, daß die Streichquartettmusik die vollkommenste Instru mentalmusik sei; die Einheit der Tonfarbe, die Uebersichtlichkeit der Combinationen, die Vollkommenheit der Harmonie bietet den höchsten musikalischen Genuß, der dabei stets eine gewisse Behaglichkeit mit sich führt, die hier höchstens durch die oft unangenehme Kälte des Locales beeinträchtigt wird. Die meisten Componisten sind darüber einig, daß es viel leichter ist, eine gute Symphonie und eine gute Oper zu schreiben, als ein gutes Streichquartett; Spohr erklärt es ohne Be denken für die schwierigste musikalische Aufgabe. Dies hat nun den großen Vortheil, daß sich gerade die gediegensten Musiker seit Haydn diese Aufgabe wiederholt stellten und so die Quartett-Literatur die schönsten Blüthen der modernen Kunst aufzuweisen hat. Haydn, Mozart, Beethoven, Schubert sind daher stehend in allen von uns je gehörten Quartett-Soiréen, und selbst Mendelssohn und Schumann treten hier weniger als Meister hervor, so Schönes sie auch sonst geboten haben.“ Und dann weiter: „Das Quartett von Mozart A-dur gehört ohne Zweifel zu einer der frühesten Arbeiten, wir haben bis jetzt keines gehört, welches so sehr den Stempel des Vater Haydn trüge als dies; die Motive sind

wenig charakteristisch, die Arbeit gewandt, doch ohne den Geist des Mozart, der uns am liebsten und befreundetsten ist. Das ganze Stück, in knapper Form, trägt einen recht ordentlichen Zopf mit Haarbeutel; doch nein! mehr ein Zöpfchen, und das lustige Gesicht des jungen Wolfgang schaut unter den gepuderten Haaren hervor; bei aller Fröhlichkeit wird heftig studirt, ob sich auch Alles schön contrapunktisch fügt, und daß der Papa ja zufriedengestellt wird; doch das blitzende Auge des großen Mozart schaut schon hervor, und in den letzten Variationen des dritten Satzes, da mögen die alten Herren die Ohren gespitzt haben; prächtige Sachen kommen da zum Vorschein, schön auch noch für uns, schön für alle Zeiten!

Es folgte das neue Octett von Niels Gade für vier Violinen, zwei Bratschen und zwei Celli, eine Zu sammensetzung, die, sowie auch das Sextett für Streich instrumente, bisher nicht oft benützt ist. Aus dem Bildungs gange und dem Naturell Gade’s war zu erwarten, daß er sich mehr dem Muster Mendelssohn’s als Spohr’s (von Beiden besitzen wir ähnliche Arbeiten) anschließen würde, und so ist das Werk denn auch im echt Mendelssohn’schen Geiste geboren, ohne gerade imitirt zu sein. Wie herrlich ist dieses Werk! Es fielen uns nach den ersten Tacten die Worte aus „Faust“ ins Gedächtniß: „Wie anders wirkt dies Zeichen auf mich ein!“ Der moderne Geist, das eigene Ich, tritt hier vor den Hörer, wir sind ganz in dem Elemente, in dem wir leben, in der Luft, die wir athmen; die unmittel bare Gegenwart reißt uns fort ins Reich von Idealen, die unserer Zeit naturgemäß sind; lassen wir die Reflexionen darüber, ob diese Musik wirklich vollendeter ist, als die eines Mozart, eines Beethoven; geben wir uns ganz dem sinn lichen Genusse der Töne, ganz dem üppigen Wohllaute der Harmonien, dem jubelnden, stolzen Schwunge der Melodien hin, lassen wir uns vom Dichter berauschen und geben wir uns gefangen! — Der Klang der acht Saiten-Instrumente in ihrer organischen Zusammenwirkung hat in der That etwas Aufregendes; er ist so intensiv, man möchte sagen, so nervös, daß man wie bezaubert ist; dies tritt noch mehr in einem kleineren Raume hervor, wo wir schon wiederholt das Werk hörten und sorgfältig hörend studirten. Viel des schönen

Details an welchem die Arbeit so unendlich reich ist, geht in großem Raum verloren, zumal für diejenigen, welche das Musikstück zum erstenmale hören; doch daß es trotzdem so herrlich wirkt, ist der beste Prüfstein für die Vollendung des Ganzen; auch die Skizze bleibt noch herrlich, voll warmen Lebens und Kraft! Der Schönheiten sind so viele, daß wir hier von einer Detaillirung ganz absehen müssen. Bei jeder Stelle, die uns ins Gedächtniß kommt, können wir nur wiederholen: wie schön, wie herrlich ist das und das, und wie das Alles so wunderbar klingt! So klar und abgerundet die Form, und doch so ungebunden frei die Phantasie! — Doch daß wir über das Werk fast die Spieler ganz vergessen hätten, das ist wol das Beste, was man von ihnen sagen kann.“

Hören wir an anderer Stelle ein Urtheil über Frau Clara Schumann und Mozart’sJupiter-Symphonie“:

„Frau Clara Schumann ist schon seit vielen Jahren als Künstlerin ersten Ranges bekannt und steht als solche immer noch auf derselben Höhe. Ein Stück Geschichte der modern-classischen Musik wird sich für immer an diese Frau knüpfen; sie gehört innig verbunden zu jenem Kreise in Leipzig, welcher, durch Mendelssohn, Hauptmann, Schu mann etc. gebildet, die deutsche Musik zu einem erneuten Aufschwung brachte, den man so bald nach Mozart und Beethoven kaum erwarten durfte. Frau Schumann spielte das G-dur-Concert von Beethoven und kleinere Sachen von S. Bach und R. Schumann; daß sie Alles meisterhaft vor trug, braucht wol kaum erwähnt zu werden; sie entwickelte eine Kraft und Energie im Spiel, wie sie zuvor nie von einer Frau gehört worden ist; alle Sachen im classischen Styl sind ihr recht eigentliches Element; ihre Spielart selbst ließe sich vielleicht am passendsten als „Spielart im großen Styl“ bezeichnen; es kann damit indeß nur Eine Seite ihrer künstlerischen Individualität angedeutet werden. Das anmuthige Concert von Beethoven ent zückte in allen drei Theilen in gleicher Weise; man thäte Unrecht, einen Theil vor dem andern hervorzuheben. In zwei von der Künstlerin eingelegten Cadenzen verflocht die selbe die einzelnen schönsten Blumen des großen Kranzes noch zu reizenden Bouquets, die in sich noch einmal im

Kleinen das ganze Kunstwerk widerspiegelten. War es der Zauber, der um die Künstlerin schwebt, war es der Diri gent, war es die Begeisterung für die Composition, was das Orchester beseelte? — Die Orchestersätze griffen so prächtig exact mit dem Clavier in einander, die Begleitung war meist so delicat, so präcis, daß man eine vollkommen abgerundete Anschauung von dem ganzen Kunstwerke bekam; man konnte sich einmal ganz dem Werke selbst hingeben und brauchte sich nicht fortwährend zu fürchten, daß durch irgend einen instrumentalen Unfall der Genuß des nächsten Mo mentes verbittert werden würde; so gut wurde es uns hier noch nie. — Und auch die große C-dur-Symphonie von Mozart: mit welchem Feuer, mit welchem Schwung eilte sie leider nur zu bald vorüber! Ein Geizhals kann kaum ein größeres Behagen darin finden, mit den Händen in seinen mit Goldstücken gefüllten Kästen zu wühlen, als ein musikalisch gebildeter Mensch empfinden muß, eine der größeren Mozartschen Symphonien zu hören; es ist eine Art des Genusses, die sich nicht recht beschreiben läßt, eine Art Tonbad, bei dem jedoch noch keine Trompeten- und Posaunen-Douchen vorkommen, wie in der modernen Opernmusik, sondern in welchem nur ein bald schwächerer, bald stärkerer Wellenschlag die Aufmerksamkeit bald mehr, bald weniger angeregt erhält, wo durch dann ein Zustand angenehmsten sinnlichen Behagens und innerlicher Freudigkeit eintritt, in welchem Geist und Kör per in gleicher Weise betheiligt sind; denn die sinnliche Tonempfindung, zumal die Empfindung von harmonisch schön verbundenen Tonmassen, wie sie gerade Mozart bietet, ist schon an sich ein Genuß von einer bei anderen ähnlichen Kunstgenüssen nie vorgekommenen Intensität, ganz abgesehen von allen dadurch angeregten bewußten oder halb bewußten Bildern der Phantasie.“

Ein anderer Bericht gilt einer Kammermusik-Soirée, in welcher das Mozart’sche Quintett für Clavier und Blasinstrumente gespielt wurde:

„Ein reizend naives Werk aus der besten Zeit des Mei sters! Sowol bei diesem wie bei dem imitirten Quintett von Beethoven hat es uns immer bedünken wollen, als mischten sich die Blasinstrumente weit besser mit dem Ton der mo

dernen Flügel als die Streichinstrumente, und es ist daher zu verwundern, daß erstere in der modernen Kammermusik für Clavier nicht mehr verwendet sind. Was die Ausführung betrifft, so war dieselbe bezüglich der einzelnen Spieler ganz gut, doch die Direction des Ganzen, die dem Clavier zufällt, war im höchsten Grade schläfrig und geistlos. Wie kann sich ein Clavierspieler so zu seinen Mitspielern setzen, daß er keinen von ihnen zu sehen im Stande ist! Gleich im Anfange begannen die Bläser, ohne daß der Clavierspieler davon eine Ahnung hatte, daß wirklich angefangen werden sollte; wie wurde der erste Satz verschleppt, welche philiströse Auffassung des Finales und, trotz aller Sauberkeit im Einzelnen, welch ein steifleinenes Vorwärtsschieben des Ganzen!

Es folgte das große Streichquartett D-moll von Schubert, unserer Auffassung nach das Größte, was je in diesem Genre angestrebt, vielleicht auch erreicht ist. Wir hatten einige Bedenken, als wir hörten, daß das Streichquartett des Orchestervereins mit diesem Stück debü tiren wolle, freuen uns jedoch, berichten zu können, daß die Aufgabe in einer Weise gelöst wurde, die alle Hörer aufs erfreulichste überrascht hat. Dieses Quartett, eines der schwierigsten, sowol für die einzelnen Instrumente als für das Zusammenspiel, wurde mit einer solchen Klarheit ge spielt, wie wir es hier früher nicht gehört haben. Der Herr Concertmeister Zeller (die Namen der übrigen Herren sind uns nicht bekannt) hatte die äußerst schwierige Partie der ersten Geige mit einer Sauberkeit ausgearbeitet, die für den Eindruck des Ganzen höchst wohlthuend war; der Glanz punkt war das Andante mit Variationen und von diesen die Variation in Dur; jede Harmonie war hier klar und rein, und gab das Ganze Zeugniß von dem sorgfältigsten Studium, was umsomehr anzuerkennen ist, als die Musiker bisher so mit Concert- und Opernproben überbürdet waren, daß man kaum begreift, wo sie die Zeit nehmen, diese Quartettstudien zu machen. Daß die Ausführung den höchsten Anforderungen noch nicht entsprechen konnte, liegt darin, daß das Zusammenspiel bisher ein zu kurzes war; die Gesammtwirkung der Instrumente kann in Bezug auf Kraftentfaltung noch eine größere werden; es fehlt dem Ganzen der Ausführung noch an Styl und an individueller

Auffassung. Dies wird jedoch kommen, sobald die Spieler unbefangener und freier sich gegenseitig hingeben.

Die dritte Nummer bildete ein Octett von August Walter für Violine, Viola, Violoncell, Contrabaß, Oboë, Clarinett, Horn und Fagott. Bei einem solchen Aufwand von Mitteln, die ein kleines Orchester darstellen, erwartet man ein Werk, welches sich mehr dem Styl der Sym phonie, als demjenigen der Kammermusik hinneigt. Doch dies ist nicht der Fall: Die Form schließt sich etwa an die Notturnos von Haydn, die Serenaden für kleines Orchester und Harmoniemusik von Mozart, an das Septett von Beethoven und Aehnliches an; man sollte meinen, das in Rede stehende Werk könnte etwa vor 50 oder 60 Jahren von einem Schüler jener Zeit geschrieben sein; doch warum sollte nicht in der knappen Form jener Zeit etwas Schönes geschaffen werden können? Gewiß ist das Bestreben der Einfachheit anzuerkennen, doch dann muß der Inhalt derart sein, daß er uns erwärmt, wie es in den Werken eines Haydn, eines Mozart so oft auch in den unbedeutendsten Arbeiten noch der Fall ist. Leider können wir dies nach unserm Geschmack von dem Walter’schen Octett nicht sagen; der Inhalt des Ganzen ist so dürftig, daß man es kaum begreifen kann, wie ein Musiker diese Motive überhaupt niederschreibt, von denen jedes einzelne aus älteren Werken nachweisbar ist. Die Harmonienfolgen bewegen sich auf den gewöhnlichsten Gemeinplätzen und erheben sich kaum hie und da zu Spohr’schen Wendungen. Es ist immerhin inter essant, daß an einem modernen Componisten die Neuzeit so spurlos vorübergehen konnte! Wie wir hören, ist dies eines der frühesten Werke Walter’s, von dem uns andere recht hübsche Sachen bekannt sind. Dies Werk schmeckt etwas nach einer preisgekrönten Arbeit in einem Conservatorium mit der Censur „recht gut componirt, doch ohne alle eigene Erfindung“.

Es folgte das große Trio für Clavier, Violine und Cello in B-dur von Beethoven. Wir konnten uns zwar nicht recht hineinfinden, das Claviertrio hat uns nie im Concertsaale behagen wollen; der Ton der beiden Streich instrumente will sich durchaus nicht mit dem dicken Ton des Clavierflügels, der durch die starke Belederung und die

dicken Saiten den Saitenklang fast verloren hat, mischen. Das Stück selbst, bekanntlich eines der vollendetsten aus der vorletzten Periode Beethoven’s, hat viele Stellen, welche dem geistigen Ohr schöner klingen, als dem körperlichen. Für jeden Dilettanten ist es eine der schönsten Jugenderinnerungen, und diese erscheinen uns ja immer in der Phantasie idealer, so daß, wenn wir sie in Wirklichkeit wieder vor uns sehen, wir durch diese Wirklichkeit oft enttäuscht werden. Wir waren durch diese Reflexionen befangen und unterlassen da her eine eingehende Besprechung.“

Die Nachbarschaft Richard Wagner’s, mit dem übrigens Billroth keinerlei persönliche Beziehungen unterhalten zu haben scheint, hinderte ihn nicht, sich gegen dessen Richtung scharf auszusprechen. Er schreibt gelegentlich:

„Jetzt gehört es zum guten Ton, auch die letzten Werke Beethoven’s, selbst die Clavierfugen in seinen letzten Sona ten, für die höchste Potenz des „musikalisch Schönen“ zu erklären. Wir sind nicht dieser Ansicht, sondern sind Männern, wie Spohr, Mendelssohn, Schubert, Schumann, sehr dankbar, daß sie nicht an diese letzten Werke Beet hoven’s anknüpften, wie es die Zukunftsmusiker oder die sogenannte neudeutsche Musikschule thun möchte — wenn sie es nur könnte.“

Aber auch dem Publicum blieb Billroth seine Meinung nicht schuldig. Es scheint, daß der Besuch der Concerte in jenen Tagen Vieles zu wünschen übrig ließ. Heute, da man in Zürich die letzte Hand legt an den Bau einer neuen Tonhalle, mag es von erhöhtem Interesse sein, zu lesen, wie Billroth das dortige Publicum im November 1862 apostrophirte:

„So werkthätig sich das Publicum bei der Gründung des Vereines betheiligt hat, so wenig nimmt es verhältniß mäßig Theil an der Förderung und Entwicklung desselben. Die Einrichtung scheint noch zu neu; oder sollte es wirklich an Interesse für Musik fehlen? Sollte das Publicum mei nen: wir hören ja im Theater und in den Concerten der allgemeinen Musikgesellschaft, daß Manches besser ist als früher, was sollen die vielen neuen Concerte? Man kann nicht in alle Concerte gehen! Dies ist gewiß zum Theile berechtigt, doch dabei kann das neue Orchester nicht bestehen; die Künstler wollen nicht allein von ihrem Gehalt leben. Die Gunst, das Interesse des Publicums ist ein ebenso

wichtiges Nahrungsmittel für den Künstler, als das tägliche Brot! Lieber mehr Beifall, als Geld! Das hört und fühlt Jeder, der mit Künstlern häufiger zu verkehren Ge legenheit hat.“

In einer Besprechung vom 9. December 1861 heißt es über den Pianisten Alfred Jaell:

„Herr Jaell ist als Künstler zu anerkannt, als daß man über ihn viel sagen könnte; er steht in vieler Hinsicht über jeder Kritik, er hat sich in seiner Manier fern von der Liszt’schen Schule gehalten, wo diese anfängt, das Clavier zu schlagen, anstatt es zu spielen; er erinnert an Hummel, so weit uns die Spielart dieses Meisters aus Tradition und Schriften bekannt ist. Dabei entwickelt er ausreichend Kraft und behandelt das Instrument mit schönem Maß. Herr Jaell spielte das C-moll-Concert von Beethoven voll endet schön. Die im ersten Satz wie üblich eingelegte Cadenz war mit außerordentlich feinem Geschmack componirt, und obgleich sie sich genau in den Figuren des Beethoven’schen Satzes hielt, wußte der Künstler doch auf die geschmackvollste Weise seine Force in perlenden Trillerketten zu zeigen. Das Concert ist nicht brillant im heutigen Sinne der Technik, es liegt bequem claviermäßig und schließt sich enger an die Mozart’schen Muster an, als das im vorigen Jahre von demselben Künstler meisterhaft vorgetragene Es-dur-Concert von Beethoven. Wir sind aber gerade deßhalb Herrn Jaell doch besonders dankbar für die Wahl dieses Concertes, da es jedenfalls eines der schönsten der gesammten Literatur ist. Das zarte Adagio wurde leider vom Orchester völlig ver nichtet. Der erste Fagottist war, wie es schien, so entzückt über das Spiel des Herrn Jaell, daß er gar nicht mehr blies, und so der mittlere Abschnitt des Andante ganz ver stümmelt und unverständlich zum Vorschein kam. Von um so schlagenderer Wirkung war das Rondo, in dessen Vortrag Herr Jaell so echt künstlerisch vorsichtig mit der Beimischung des Pikanten verfuhr, daß wir es nicht genug anerkennen können. Die vollendeten chromatischen Läufe waren von entzückender Wirkung und liefen wie Quecksilber kügelchen auf einer bald aufwärts, bald abwärts bewegten polirten Platte.“

Das damalige Züricher Orchester erfährt in einem Berichte von Billroth folgende scharfe Zurechtweisung:

„Mit den Streichinstrumenten kann man sich wol be friedigt erklären, ihre Zahl ist durchaus genügend. Die Trompeten und Posaunen und das erste Horn sind gut besetzt, müssen jedoch in Schranken gehalten werden; die Herren mögen in ihrer schmetternden Freude bedenken, daß sie in einen heißen Saal hineinblasen, in welchem sich Menschen mit Ohren befinden. Der schwache Punkt des Orchesters sind die Holzbläser und besonders auch der Paukist. Die Flöte ist gar zu zart in den Einsätzen; die erste Clarinette ist recht gut, die zweite bläst meist unrein, die Oboën sind höchst naiv ungeschickt, das Fagott kann nur unschön grunzen und tölpelt bei jeder Gelegenheit hinein; das große Horn stolpert über seine eigenen Töne; der Paukist mißkennt durchaus den großen Werth seines In strumentes. Es ist bekannt, daß Mendelssohn, wenn er seine Symphonien in Berlin dirigirte, von dem ganzen Leipziger Orchester nur den Paukisten und dieser seine Pauken mit nahm und seinen Kasten mit acht bis zehn Arten von Pauken schlägeln, die alle mit verschiedenen Stoffen umwickelt waren, um eine jede denkbare Modulation des Tones hervorzubrin gen; die Pauke ist bei Beethoven nicht selten eine Rivalin der Contrabässe und muß Töne von sich geben, kein un musikalisches Gepolter wie heute Abends.“

Diese und ähnliche Kritiken Billroth’s, welche sich ab fällig über die Leistungen des Orchesters aussprachen und durch die außerordentliche Sachkenntniß überraschten, mit welcher jedem einzelnen Instrumente ein Sündenregister vor gehalten wurde, scheinen Empfindlichkeiten geweckt zu haben. Das Herüberschießen vertrugen die sonst so kaltkritischen Züricher schon damals nicht. Wenigstens regnete es in den Spalten der Züricher Zeitung eine Reihe von mehr oder minder geharnischten Entgegnungen, und die Redaction selbst salvirte sich unter das Regendach einer zahmen Erklärung, „daß ihrem Mitarbeiter jede böswillige Absicht ferngelegen sei etc.“ Vielleicht mag diese Rückwärts-Concentrirung nicht nach dem Geschmacke Billroth’s gewesen sein, wenigstens hören mit dem Jahre 1863 seine Beiträge plötzlich auf. Spätere Musikberichte in der Züricher Zeitung werden dem nun auch dahingegangenen Professor Wilhelm Lübke zu geschrieben.