Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Nr. 10820. Wien, Sonntag, den 7. October 1894 Hanslick, Eduard Wilfing, Alexander FWF Der Wissenschaftsfond.
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Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Herausgegeben von Wilfing, Alexander Projektmitarbeiterinnen Bamer, Katharina Pfiel, Anna-Maria Elsner, Daniel Austrian Centre for Digital Humanities and Cultural Heritage Wien 2024

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Maschinenlesbares Transkript der Kritiken von Eduard Hanslick.

Nr. 10820. Wien, Sonntag, den 7. October 1894 Hanslick, Eduard Neue Freie Presse Morgenblatt Herausgegeben von Etienne, Michael Friedländer, Max Wien 07.10.1894
font-style:italic; font-weight:bold; Deutsch Transkribus OCR und Lektorat. Transformierung der Daten des Transkribus TEI-Export mit "editions.xsl". Formatierung und Referenzen eingefügt. Letztkorrektur für Zwischenrelease.
Hofoperntheater. („Mara“, Oper von F. Hummel. „Die Hochzeit im Frisirsalon.“ Ballet.)

Ed. H. Die Drachensaat der „Cavalleria“ geht recht üppig auf. Mascagni, der mit dieser einactigen Dorftragödie ein neues Operngenre und sich selber einen jungen Ruhm geschaffen, hat diesen Pfad sofort wieder verlassen, um zwei rührende Familiengeschichten („Freund Fritz“ und „Die Rantzau“) zu illustriren, in welchen kein Tröpfchen Blut ver gossen wird. Aber sein erster Erfolg wirkt noch immer ver lockend, fast möchte ich sagen verheerend auf die jüngeren Componisten. In Italien drängten sich die Opern „Santa Lucia“, „Pagliacci“, „Mala Vita“, „Tilda“, „Festa a Marina“ — um nur die bei uns bekannt gewordenen zu nennen. In Deutschland erhielt der natürliche Nachahmungs trieb noch einen unverhofft gewaltigen Vorschub durch die Preis ausschreibung des Herzogs Ernst von Coburg. Von den zweihundert eingereichten Einactern sollen mehr als drei Viertel tragische Stoffe behandelt haben. Nach der preis gekrönten „Rose von Pontevedra“, einer Oper von ab schreckend brutalem Inhalt, dürfen wir ungefähr auf die Beschaffenheit der übrigen schließen. Die Componisten haben Blut geleckt und lechzen nach Grausamkeiten. Sie erinnern mich an jenen Parlamentsrath aus Bordeaux in der Re volutionszeit, der sich bei herrlichem Wetter die Hände rieb und ausrief: Voilà un beau jour pour une exécution! „Maradrängt in den allerengsten Rahmen ein erschütterndes Trauer spiel zusammen: zwischen zwei mörderischen Flintenschüssen rollt sich die ganze Geschichte in drei Viertelstunden ab. Mit dem ersten Schuß streckt Eddin seinen Schwiegervater nieder, mit dem zweiten Mara ihren Gatten. Der erste Schuß knallt schon in der Ouvertüre; er gehört zur Partitur und ist als ein neuer realistischer Effect charakteristisch. Diese gewaltthätigen Einacter machen fast alle den Eindruck eines letzten Actes, dem die früheren zwei oder drei ampu tirt worden sind. Es fehlt die erklärende Exposition und die Entwicklung der Handlung. Auch in der „Mara“ belehrt

uns erst die dritte Scene über das Verhältniß der Personen, über die Vorgeschichte und über den pikanten Schuß in der Ouvertüre. Wenn die Sänger, wie es zu geschehen pflegt, undeutlich aussprechen, so mag man sich selber zurechtfinden. Eddin, ein junger Tscherkesse, hat im Handgemenge mit einem feindlichen Stamm seinen Schwiegervater erschossen. Auf der Flucht vor den Verfolgern stürzt er atemlos in seine Hütte, wo sein junges Weib, Mara, ihn verbirgt. Bald ist der feindliche Anführer Djul, der Bruder Mara’s, mit seinem Anhang zur Stelle, um den Flüchtigen zu suchen. Der Chor der Tscherkessen singt: Hört ihr das Mahnen des edelen Blutes — Hier hat der Pesthauch des Mörders geweht! Sühnet es, Brüder, unbeugsamen Muthes, Rache, ja Rache es zürnend erfleht.

Diese grausamen Verse belehren uns, daß Eddin der Blut rache verfallen ist. Die Rächer stürmen „unbeugsamen Muthes“ gegen die Hütte an, worin Mara’s Söhnchen schläft — da tritt Eddin aus seinem Versteck und liefert sich selbst aus. Er bittet nur um eine rasche Hinrichtung durch Pulver und Blei. Die Bitte wird ihm abgeschlagen; lebendig soll er vom Felsen in den Abgrund gestürzt werden. Mara sieht Eddin gefesselt auf der verhängnißvollen Felsen spitze ankommen. Da ergreift sie die Büchse und erschießt ihn. Das Textbuch ist in seiner Gedrängtheit geschickt ge macht, und wer es liebt, eine ganze Oper hindurch ununter brochen gemartert zu werden, der mag sich daran erfreuen. Nicht die grausame Katastrophe allein ist’s, was uns die Seele aufwühlt, sondern die qualvolle Todesangst, in der wir erhalten werden vom Anfang bis zu Ende. Wir fühlen tief mit Eddin und Mara, zwei in treuer Liebe verbundenen Menschen, die sich in verzehrender Seelenqual vor uns auf reiben. Mit dem Auftreten Eddin’s wissen wir auch, daß er sterben muß — in fünfzehn oder in zwanzig Minuten, die sich uns zu einer qualvollen Ewigkeit ausdehnen. An den Anfang und das Ende seiner Tragödie stellt der Dichter eine rührende Kinderscene. Vielleicht wollte er durch diesen Contrast das Gräßliche der Handlung mildern; für mein Gefühl hat er es nur verschärft.

Der Musik zu „Mara“ ist manches Gute nachzu rühmen. Herr Ferdinand Hummel, obgleich erst jetzt durch seine Erstlingsoper bekannt geworden, zählt als Com ponist glücklicherweise nicht zu unseren Allerjüngsten. Er hat

Sinn für Form und Wohlklang und opfert Beides nur ausnahmsweise dem dramatischen Effect. Im Besitze aller modernen Mittel, insbesondere der Instrumentation, erweist er sich vielfach als ein guter Musiker der älteren Schule. Seine Partitur zeugt von Effectkenntniß und theatralischem Blick. Leider ist seine Erfindung weder reich noch originell. Kommt es daher, daß Herr Hummel anfangs im Opern orchester, dann als Musikdirector im königlichen Schauspiel hause zu viel fremde Musik gespielt und dirigirt hat? Er entlehnt nicht die Worte anderer Meister, aber er spricht mit ihren Stimmen, insbesondere mit der des jüngeren Wagner. In den Duetten zwischen Eddin und Mara werden wir die Lohengrinklänge im Gesang und Orchester keinen Augenblick los. Hin und wieder glauben wir Mascagni zu vernehmen, auch die Verschwörungsscene aus den „Hugenottenklingt deutlich nach in Djul’s Es-dur-Strophe. Auffallend genug fehlt jede Localfärbung, jeder nationale Anklang in der Musik. Am glücklichsten erscheint mir Herr Hummel in den zarten lyrischen Stücken. Vor Allem in der einleiten den Scene Mara’s mit dem Kinde. Das Büblein neckt die Mutter, indem es sich versteckt und wiederholt Kukuk! ruft. (Nebenbei bemerkt: Warum verschwieg der Componist, der gewiß oft den Kukuk gehört hat, dem Kleinen das Geheimniß, daß dieser populäre Vogel stets die tiefere kleine Terz intonirt, und nicht die obere Quart oder Quint?) Diesem Spiel zwischen Mutter und Kind, welches sich auf einer zarten ländler artigen Melodie schaukelt, folgt ein gleichfalls gelungenes Schlummerlied von weicher, blos durch den Querstand in den beiden ersten Tacten leicht gestörter Anmuth. Nur zu lange dauert dieses Lied; die sich langsam hinziehende Melodie wird so oft wiederholt, daß ihre einschläfernde Wir kung sich schließlich über das Kind hinaus auf Andere aus dehnt. Der Componist beutet seine Motive über Gebühr aus, wie schon die Ouvertüre beweist. Es ist unmöglich, haushälterischer zu sein. Die ganze Scene zwischen Mutter und Kind ist überaus fein instrumentirt. Von da an durch bricht das Orchester alle Schranken; wir werden über fluthet von den stärksten, dicksten Schallwellen; unausgesetzt, athemlos arbeiten die vier Hörner sammt Trompeten, Po saunen und Tuba, mit Pauken und Trommel zusammen. Zu diesen leidenschaftlichen „hochdramatischen“ Stellen ist Herr Hummel weniger ein Dichter in Tönen, als vielmehr effectkundiger Theatermaler. Conventionell gewordene, be

währte Phrasen und grelle Klangwirkungen müssen hier die eigene Inspiration, die unmittelbar überzeugende tiefere Empfindung vertreten.

Von der günstigen Aufnahme der Novität im Hof operntheater haben wir bereits in Kürze berichtet. Das Ver dienst der Aufführung wog dabei nicht leichter als das des Componisten. Frau Schläger (Mara) und Herr Winkelmann (Eddin) ließen keinen Effect der Compo sition unbeachtet und wirkten wie diese durch möglichst starken Farbenauftrag. Frau Schläger scheint leider auf zwei unschöne Ausschmückungen nicht verzichten zu wollen, welche wir schon aus ihrer Santuzza und ähnlichen Kraftrollen hinweggewünscht; es ist der weithin kreischende gelle Auf schrei und das platte Niederfallen, eigentlich Hinplumpfen auf den Boden. Ich möchte wissen, ob Frau Schläger oder eine ihrer Colleginnen je eine Frau, insbesondere eine kräftige Bäuerin, gesehen hat, welche bei einer schmerzlichen Ueber raschung ohneweiters als lebloser Sack zu Boden fällt, um gleich darauf wieder stramm und munter mit einem hohen C aufzustehen? Gewöhnlich pflegt die Betroffene zu schwanken, sich auf ihre Nachbarin zu stützen, an einen Stuhl zu halten, oder auf eine Bank hinzusinken. Jedenfalls reicht das hin für dra matische Darstellung, die uns mit absolut Häßlichem, wo es nicht nöthig ist, verschonen soll. In der kleineren Rolle des Tscherkessen Djul wirkte Herr Ritter vortrefflich durch seine herrliche, diesmal auch maßvoll behandelte Stimme, wie durch seine deutliche Aussprache und charakteristisches Spiel. Es bleibt abzuwarten, ob die Zuversicht der Direc tion, welche alle Rollen in „Mara“ doppelt besetzt hat, sich rechtfertigen und der Novität ein langes Leben sichern werde. Am zweiten Abend sollen Frau Januschofsky, die Herren Schrödter und Neidl viel Beifall geerntet haben. Eine Zeitungsnotiz, welche obendrein Fräulein Mark als dritte Mara bezeichnet, beruht hoffentlich auf einem Irrthum. Fräulein Mark ist ein großes Talent, aber keine Athletin. Sie hat freilich in einer ähnlichen wilden Kraftrolle, der „Rose von Pontevedra“, einen großen Erfolg errungen — leider. In ihrem Interesse, wie in dem des Operninstituts möchten wir die junge Sängerin sorgsam behütet wissen vor dergleichen Aufgaben, welche ihrer Stimme wie ihrem Geschmack Verderben drohen.

Die Direction der Hofoper durfte füglich voraussetzen daß dem Publicum nach den Flintenschüssen der „Mara

ein erheiterndes Nachspiel willkommen sein würde. Dafür schien ein neues Ballet der Herren Regel, Haßreiter und Raul Mader: „Die Hochzeit im Frisirsalon“, wie geschaffen. Ich gehöre selbst zu denen, die gern lachen — aber die Komik dieses Barbierladens war mir doch zu kindisch. Daß ein hitziger Friseur einem Herrn statt der schwarzen Perrücke eine rothe aufstülpt und einem zweiten nicht nur den Kopf, sondern auch den Pelzkragen glatt rasirt, erinnert sehr lebhaft an Circusspässe und Jahrmarkts- Pantomimen. Die Grundidee — wenn ich diesen schmeichel haften Ausdruck brauchen darf — ist eine matte Parodie der „Puppenfee“. Wenn dort all die zierlichen Puppen durch ein Zauberwort Leben erhalten, die Bleisoldaten zu marschiren, die kleinen Tambours zu trommeln, die Schäfe rinnen zu tanzen beginnen, so hat das einen Sinn und ist reizend anzusehen. Daß aber Friseurkämme, Puderquasten, Brenneisen, Scheeren und Pomadebüchsen durch einander hüpfen und eine Gavotte aufführen, ist abgeschmackt und gar nicht hübsch. Unter den vielen Intermezzos, welche diese magere Handlung ausschmücken, gibt es neben einigen ver fehlten (wie das Herumfahren von Vélocipedisten im Friseur laden!) auch manche effectvolle, überraschende, z. B. das Pas de deux des Fräuleins Sironi mit dem Perrückenstock, ein von Mader graziös componirter, von vier in allen Farben schillernden Ballerinen getanzter „Mantelwalzer“ u. dgl. Endlich: 50 bis 60 reizend costümirte, bildhübsche junge Mädchen — eine Wirkung, so sicher wie bares Geld, in jedem Ballet, es heiße wie es will. „Rouge et noir“, Burschenliebe“, „Märchenzauber“, „Der Teufel im Pen sionat“ — zu diesen Minimalgewinnsten, mit welchen das Publicum seit den beiden Haupttreffern „Wiener Walzerund „Puppenfee“ sich begnügen muß, gehört auch „Der neue Frisirsalon“. Seit längerer Zeit nehmen dergleichen Ballette im Repertoire der Hofoper einen unverhältnißmäßig großen Raum ein. Die Einwendung, daß unsere modernen ein actigen Opern ebensoviel einactige Ballette zur Ergänzung benöthigen, ist nicht ganz stichhältig. Wir besitzen genug ältere und neuere kleine Opern, welche, theils vergessen, theils hier ganz unbekannt, die Stelle des Frisirladens mit besserem Anstand einnehmen könnten. Ich möchte vor Allem an Bizet’sDjamileh“ erinnern, eine reizende kleine Oper, in der weder rasirt noch geschossen, aber viel liebens würdige Musik gemacht wird.