Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Nr. 10868. Wien, Samstag, den 24. November 1894 Hanslick, Eduard Wilfing, Alexander FWF Der Wissenschaftsfond.
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Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Herausgegeben von Wilfing, Alexander Projektmitarbeiterinnen Bamer, Katharina Pfiel, Anna-Maria Elsner, Daniel Austrian Centre for Digital Humanities and Cultural Heritage Wien 2024

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Maschinenlesbares Transkript der Kritiken von Eduard Hanslick.

Nr. 10868. Wien, Samstag, den 24. November 1894 Hanslick, Eduard Neue Freie Presse Morgenblatt Herausgegeben von Etienne, Michael Friedländer, Max Wien 24.11.1894
font-style:italic; font-weight:bold; Deutsch Transkribus OCR und Lektorat. Transformierung der Daten des Transkribus TEI-Export mit "editions.xsl". Formatierung und Referenzen eingefügt. Letztkorrektur für Zwischenrelease.
Anton Rubinstein.

Ed. H. Eine geniale Natur, ein bedeutender Mensch, ein starker Künstler ist uns mit Rubinstein entrissen. In unserer Zeit, die täglich ärmer wird an Künstler-Originalen, war er eines der hervorstechendsten. Wer diesen dichtbewal deten, gutmüthig trotzigen Charakterkopf je gesehen hat, der vergißt ihn nicht, und wer Rubinstein auch nur Einmal spielen gehört, dem klingt er in Ewigkeit nach. Von all den berühmten Clavierspielern, denen ich im Laufe eines halben Jahrhunderts gelauscht, hat mir, nach Liszt, keiner so genuß reiche Stunden bereitet, wie Rubinstein. Liszt war einzig, seine überragende Größe leidet keine Anfechtung. Aber Eines schien mir Rubinstein trotzdem voraus zu haben: die Naivetät, die noch unverbrauchte Empfindung. Voll Geist als Mensch und Künstler, begnügte sich Liszt doch oft mit dem Esprit und dem Witz. Sein Spiel, feiner und nervöser als das Rubinstein’s, verrieth häufig Blasirtheit und wurde dann leicht kokett. Rubinstein konnte man das nie vorwerfen; er hat immer aufrichtig, naiv, ganz aus seiner Seele heraus gespielt. Er konnte mit unter arg auf dem Clavier toben — was bei Liszt nicht vorkam — aber niemals saß er dem Publicum ironisch gegenüber, er gab stets sein Bestes, hielt nie zum Besten. Was ihr wollt“ und „Wie es euch gefällt“, diese zwei Shakespeare’schen Lustspieltitel, paßten nicht für die Concert programme Rubinstein’s; er spielte „Was ich will“ und „Wie es mir gefällt!“ Das konnte vielleicht auch einmal unangenehm werden, aufrichtig blieb es immer.

Wien darf sich eine der häufigsten und dankbarsten Stationen auf Rubinstein’s vielbewegter Weltreise nennen. Hier hat er schon als zwölfjähriger Knabe (1842) Auf sehen erregt. Als er fünfzehn Jahre später wiederkam, da war aus dem Wunderkind ein Wundermann geworden. Und noch als hoher Fünfziger verfügte Rubinstein über die volle Energie und Frische von damals und übte den gleichen unbeschreiblichen Zauber auf Jung und Alt. Strotzende

Kraft und Jugendfrische, unvergleichliche Behandlung der Melodie, vollendet schöner Anschlag im brausendsten Sturm wie im leisesten Verhallen des Klanges, eine Ausdauer und ein Gedächtniß ohne Beispiel — das Alles und noch mehr hatten wir zu bewundern in jenem unvergeßlichen „Clavier- Cyklus von sieben Abenden“, der in der Geschichte des Concertwesens eine monumentale Stelle einnimmt. Rubin stein spielen zu hören — so schrieb ich vor Jahren — ist ein Genuß im besten und eigentlichsten Sinne: ein Ge nießen, an welchem noch der sinnliche Beischmack dieses Begriffes haftet. Die gesunde, kräftige Sinnlichkeit Rubinstein’s strömte mit so erfrischendem Behagen auf den Hörer ein, daß dieser, noch ganz anders als bei anderen Virtuosen, den Eindruck eines musikalischen Labsals, eines Ohrenschmauses empfand. Seine Vorzüge wurzelten in seiner ungebrochenen Naturkraft; ebendaselbst auch die Fehler, in welche sein reiches, aber oft ungezügeltes Talent sich leicht verirrte. Woher der besondere Zauber, den gerade Rubinstein auf uns Alle übte? Ich glaube, weil seine Vorzüge aus einer Quelle flossen, die heutzutage fast zu versiegen droht: kräftige Sinnlichkeit und Lebensfülle. Das ist eine künstlerische Mit gift, der wir Vieles verzeihen, weil sie unter den Modernen so selten ist. Unsere heutigen Componisten und Virtuosen haben wenig von jener naiven Naturgewalt, die lieber wagt als grübelt und in der Leidenschaft ohneweiters auch einen unbesonnenen Streich begeht. Ueberwiegend beherrscht sie der Geist, die Bildung, die feine oder tiefsinnige Reflexion. Gemeinsam ist ihnen die Neigung, volles Licht in allerlei Mischfarben zu brechen, abzulenken, die Herztöne der Leidenschaft motivirend zu dämpfen, zu umschreiben. Man denke an Bülow, den Vornehmsten dieser Richtung. Ihm gegenüber war Rubin stein noch eine naive saftige Natur. Darum lauschten wir ihm mit sorglosem Ohr und ganz hingebendem Genusse. Hat er uns mitunter ein bischen geärgert — im nächsten Satze waren wir unfehlbar wieder gefangen. Rubinstein’s Spiel war ungleich und nicht ohne bedenkliche Ausschrei tungen. Schöner kann Niemand singen, als Rubinstein ein einfaches Adagio von Mozart spielte oder eine Nocturne von Field. Gleich darauf konnte er aber irgend ein Allegro wie mit der Hetzpeitsche vor sich herjagen, so daß jeder rhythmische

Sinn verloren ging und damit die Aufnahmsfähigkeit des Zu hörers. Und selbst in solchen wilden Ausbrüchen hat Rubin stein sein Auditorium oft noch bezaubert. Das lag darin, daß wir fühlten, nicht Virtuosen-Eitelkeit, sondern eine den Spieler fortreißende Naturgewalt sei schuld an seinen Ueber schreitungen. Dieser aus Temperament und Race zusammen strömenden Elementargewalt gab das culturmüde Europa sich gefangen und gestattete willig dem „göttlichen Rubin stein“ große Vorrechte.

Rubinstein schätzte sein Compositions-Talent viel höher, als sein Clavierspiel; ich empfand umgekehrt und ward ihm dadurch, wie ich nur zu bald erfahren mußte, persönlich ent fremdet. Daß er auch als Tondichter reich begabt war und in jeder Gattung einzelnes Schöne, ja Hinreißende ge schaffen, habe ich niemals übersehen, ja sehr lebhaft gefühlt und betont. Aber keine von Rubinstein’s größeren Compo sitionen vermag uns völlig zu befriedigen, denn nach einem meist glänzenden Anfang wird die Erfindung fast regelmäßig matter, die Ausführung schleuderischer. Das Clavierquartett in C-dur (op. 66) ist typisch dafür. Mit einem prächtigen Thema bricht der erste Satz wie ein heller Morgen an; das Scherzo ist geringer, aber noch immer pikant; darauf folgt ein wüstenartig langes und sonnenloses Adagio und ein peinlich triviales Finale. Und die Ocean-Symphonie, wie mächtig tritt sie auf! Aber nach diesem imposanten ersten Satz und schon in diesem geht es erst stufenweise, dann jäh abwärts. Trotzdem besticht auch in diesen Werken, in dem D-moll- Concert und manchen Sätzen seiner Kammermusik eine ge wisse Unmittelbarkeit und Naivetät, die in der nachbeethovenschen Musik sich nur selten zeigt. Ohne Zweifel ist Rubin stein in diesem Punkte auch seinem russischen Vaterlande verpflichtet. In den Slaven steckt noch ein Kapital von un verbrauchter Lebenskraft und derber, noch nicht zu Tode cultivirter Sinnlichkeit. Vollkraft und Volltrotz der Slaven natur wogt auch in Rubinstein’s Blut und kommt in seinen Compositionen wie in seinem Spiele zu Tage. Diese Eigen schaften, welche eine starke Energie nach Außen verbürgen, haben mich ehedem zu dem irrigen Glauben ver leitet, die dramatische Musik müßte für Rubinstein das günstigste Feld abgeben. Es lagen damals nur seine beiden

ersten Opern vor: „Die Kinder der Haide“ und „Feramors“, die ich noch immer für seine besten halte. Sie leiden aller dings auch an dem früher genannten Erbübel der Rubin stein’schen Musik: einer schnell und glanzvoll auflodernden, aber rasch wieder erlöschenden Phantasie. Dennoch wüßte ich heute keinen deutschen Operncomponisten, der im Stande wäre, etwas Aehnliches für die Oper zu schreiben, wie der erste Act von „Feramors“ und die Zigeunerscenen in den Kindern der Haide“. Auch die späteren Opern enthalten sehr schöne lyrische Momente, bleiben aber wirkungslos als Ganzes. Für die Oper fehlt Rubinstein der lange Athem, die sich stetig ansammelnde und steigernde dramatische Energie. Dies beweisen sein „Nero“, „Die Makkabäer“, Der Dämon“, „Sulamith“ u. s. w. Wie viel Schönes Rubinstein auf dem Gebiete des Liedes geschaffen, bedarf nicht ausdrücklicher Erinnerung. „Der Asra“, „Wenn es doch immer so bliebe“ und manches andere orienta lisch anklingende Lied Rubinstein’s lebt auf allen sanges kundigen Lippen.

In seinen letzten Jahren hat sich Rubinstein mit leiden schaftlichem und zähem Eifer auf eine von ihm neugeschaffene oder vielmehr umgeschaffene Musikgattung verlegt: auf die geistliche Oper“. Schon seinen „Thurm zu Babel(aufgeführt in Wien1870) nannte er eine „geistliche Oper“. Er hätte dieses, sowie die späteren ähnlichen Werke „Sula mith“, „Moses“, „Christus“ ebenso gut „Oratorium“ taufen können, bei der sehr dehnbaren Natur dieses Be griffes. „Sulamith“ (Dichtung von Julius Rodenberg) ist in Hamburg wirklich auf der Bühne dargestellt worden; die Kritiker begegneten sich aber in dem Urtheile, daß diese „geistliche Oper“ in den Concertsaal gehöre. Der „Thurm von Babel“ und das „Verlorene Paradies“ sind immer nur in Concertform als Oratorium gegeben worden, aber Rubinstein bestand unerschütterlich darauf, daß ihr Platz die Opernbühne sei, was schon wegen der unerhörten scenischen Anforderungen dieser beiden „geistlichen Opern“ Niemand begreifen konnte. Nennen wir es Oper oder Oratorium, das „Paradies“ bleibt rettungs los langweilig; hingegen enthält der „Thurm von BabelScenen von unwiderstehlicher Kraft und Anschaulichkeit. Schien

Rubinstein eine zeitlang resignirt in Bezug auf diese beiden Werke, deren scenische Aufführung er nirgends durchsetzen konnte, so ging er mit verdoppelter Kraft daran, für seinen Moses“ und „Christus“ eine theatralische Heimstätte zu schaffen. In einem längeren Aufsatze hat er selbst für sein Project das Wort ergriffen. Er beginnt mit dem Bekennt nisse, das Oratorium habe als Kunstgattung ihn seit jeher zum Proteste gestimmt; bei den bekanntesten Meisterwerken (nicht beim Studium, sondern bei ihren Aufführungen) sei er immer kalt geblieben. Das Alles müsse viel groß artiger und richtiger wirken, wenn es auf der Bühne in Costümen und mit Decorationen, mit der vollen Action dargestellt würde. Man müßte also im Gegensatze zu weltlichen ein „geistliches Theater für geistliche Opern bauen“. Rubinstein erzählt, wie er wegen Gründung eines solchen Theaters sich zuerst nach Weimar, dann nach Berlin gewendet, später in London und in Paris angeklopft habe und — überall verschlossene Thüren fand. Indem er die finanziellen, künstlerischen und technischen Schwierigkeiten aufzählt, die seinem Unternehmen entgegenstehen, erklärt er sie alle in seinem grenzenlosen Sanguinismus für leicht be siegbar. Ihm erscheint „das Bestehen eines geistlichen Theaters neben einem weltlichen in der ganzen cultivirten Welt, in jeder größeren theaterfähigen Stadt nicht nur ein Mögliches, sondern sogar ein Nothwendiges; sind doch Oratorien überall an der Tagesordnung“! Rubinstein übersah in seinem Eifer, daß das Publicum mit drei bis vier Oratorien jährlich befriedigt ist. Dafür baut man nicht leicht ein neues großes Theater mit kostspieligster Maschinerie und einem eigens engagirten Sängerpersonal. Wie bescheiden ist das Oratorien-Repertoire, wie klein das Publicum, über welches ein solches „geistliches Theater in jeder Stadt“ zu verfügen hätte! Trotzdem war Rubinstein ganz nahe daran, seinen Plan verwirklicht zu sehen: in Bremen, wo man im nächsten Sommer den „Moses“ scenisch darstellen wollte auf einer eigens dafür gebauten Bühne. Er hat es leider nicht erleben sollen. Jetzt, da die mächtigste Triebkraft dieses Unternehmens fehlt, Rubinstein selbst, dürfte sein Lieblings plan wieder in Frage gestellt sein.

Rubinstein’s Project einer scenischen Aufführung seiner Oratorien findet derzeit ein merkwürdiges Seitenstück in der von Leoncavallo geplanten Verbindung des Ballets mit Gesängen. Beide Componisten greifen mit ihren ver meintlichen Neuerungen in die Kinderzeit dieser Kunst gattungen zurück. Die französischen Ballette unter Ludwig XIV. enthielten regelmäßig Gesangstücke, und die ersten italienischen Oratorien waren nichts Anderes als „geistliche Opern“, im Rubinstein’schen Sinn vollständig theatralisch aufgeführt. So wunderlich verschlingt sich oft Aeltestes und Neuestes in der Musikgeschichte.

In Wien sahen wir im Laufe der letzten Jahre Rubin stein’s Namen auf den Concertprogrammen fast gänzlich verschwinden. Man vergaß sogar sein 50jähriges Künstler- Jubiläum durch die Aufführung eines seiner Orchesterwerke hier zu feiern — eine unverzeihliche Lässigkeit. Freilich hatte man durch eine Reihe von Jahren dem Publicum, das dann nicht mehr anbeißen wollte, zu vielRubinstein vor gesetzt, darunter manches sehr Unbedeutende, ja Abstoßende, wie die Ouvertüren zu „Dimitri Donskoi“, „Iwan der Grau same“, die „Dramatische Symphonie“, das Es-dur-Concert. Wir dürfen annehmen, daß die persönlichen Erinnerungen an den verblichenen Meister und die steigende musikalische Hungersnoth jetzt zusammenwirken werden zur Wieder einführung einiger seiner besten Werke in unsere Concert säle. Die so originellen und reizvollen Balletmusiken aus Feramors“ und dem „Dämon“, den ersten Satz der Ocean-Symphonie würde man in den Philharmonischen Concerten ebenso willkommen heißen, wie in den Gesell schaftsconcerten die prächtigen Chöre aus dem „Thurm von Babel“ und andere Gesangsstücke, die als verschüttete Edel steine in Rubinstein’s Opern und Oratorien ruhen. Unsere Quartettspieler, unsere Clavier-Virtuosen und Liedersänger können am wenigsten in Verlegenheit kommen, Rubinstein’s Andenken würdig und reichlich zu ehren. In manchen seiner überaus zahlreichen Compositionen dürfte Rubinstein jetzt wieder aufleben. Könnten wir nur auch den großen, einzigen Clavier-Virtuosen Rubinstein wieder lebendig machen!