Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Nr. 10891. Wien, Dienstag, den 18. December 1894 Hanslick, Eduard Wilfing, Alexander FWF Der Wissenschaftsfond.
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Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Herausgegeben von Wilfing, Alexander Projektmitarbeiterinnen Bamer, Katharina Pfiel, Anna-Maria Elsner, Daniel Austrian Centre for Digital Humanities and Cultural Heritage Wien 2024

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Maschinenlesbares Transkript der Kritiken von Eduard Hanslick.

Nr. 10891. Wien, Dienstag, den 18. December 1894 Hanslick, Eduard Neue Freie Presse Morgenblatt Herausgegeben von Etienne, Michael Friedländer, Max Wien 18.12.1894
font-style:italic; font-weight:bold; Deutsch Transkribus OCR und Lektorat. Transformierung der Daten des Transkribus TEI-Export mit "editions.xsl". Formatierung und Referenzen eingefügt. Letztkorrektur für Zwischenrelease.
Musikalisches aus Budapest.

Ed. H. Der Wunsch, liebe Verwandte wiederzusehen, führte mich jüngst für drei Tage nach Budapest. Ohne musika lische Absichten dort angelangt, bin ich doch nicht ganz ohne musikalische Ernte zurückgekehrt. Die ungarische Oper, welche unter dem vorigen Director Mahler einen so schönen Aufschwung genommen, beginnt nach einem kurzen Inter regnum sich wieder kräftig zu heben. Nachdem man diesem aus Deutschland berufenen trefflichen Dirigenten eine große Summe ausgezahlt, damit er lange vor Ablauf seines Con tracts nur wieder gehe, ist solches mehr schwäbisch als unga risch klingende Stücklein durch die Berufung Arthur Nikisch glücklich wieder gutgemacht worden. Nikisch, ein geborener Ungar, aber am Wiener Conservatorium heran gebildet, ist bekanntlich als Capellmeister der Leipziger Oper früh zu großem Rufe gelangt. Die Amerikaner holten sich ihn von dort nach Boston, wo er als Nachfolger Gericke’s drei Jahre lang rüstig gewirkt hat. Um einen vollwerthigen Ersatz für Mahler verlegen, dachte man in Budapest sofort an Nikisch, der auch wirklich vor Jahresfrist als Director und erster Capellmeister in das Heiligthum der ungarischen Oper einzog. Er soll unter dem früheren Intendanten keinen leichten Stand gehabt haben, da er für dringendste Maß regeln und geringfügigste Anschaffungen die Einwilligung seines hohen Vorgesetzten ansuchen, oft mühsam erringen mußte. Die alte traurige Mär von dem Doppelregiment an Hoftheatern. Dem künstlerisch verantwortlichen Director sind die Hände gebunden durch einen ihm vorgesetzten Ca valier, der von der Sache entweder gar nichts versteht oder (was oft noch bedenklicher) als Musikdilettant und Selbst componist den Director spielen will. „Wenn Sie als Inten dant sich die Wahl der Novitäten und die Besetzung der Rollen vorbehalten, was bleibt mir dann übrig?“ So sprach einst Laube als Director des Burgtheaters zu dem neuen Intendanten Baron Münch und — legte seine Stelle nieder. Wie oft wiederholt sich dieser Dialog an den ver schiedensten Hoftheatern, nur mit dem Unterschiede, daß der

Director meistens die gebundenen Hände seiner Pensioni rung vorzieht. Seit einigen Tagen besitzt die Buda pester Oper einen neuen Intendanten, der bisher nicht im Verdachte stand, ein näheres Verhältniß zur Musik zu haben. Vielleicht schlägt dies besser aus. Sein volles Vertrauen und Wohlwollen hat er in feierlicher Antrittsrede dem Operndirector ausgedrückt, und wenn diese zwei Dinge stricte eingehalten werden, so kann ein fähiger Director sich nichts Besseres wünschen. Herr Nikisch hat in seinem — wie gesagt, nicht unbehinderten — ersten Jahre bereits eine fruchtbare Thätigkeit in Budapest entwickelt. Die Zahl der Novitäten an der königlichen Oper ist verhältniß mäßig sehr groß. Director Nikisch hat im Laufe der letzten zehn Monate folgende neun Novitäten zur ersten Aufführung gebracht: „Die ver kaufte Braut“ von Smetana, „Der Wildschütz“ von Lortzing, Manon Lescaut“ von Puccini, „Enoch Arden“ von Raimann, Die Navarreserin“ von Massenet, „Der Geigenmacher“ von Hubay, „Der Schatz des Darius“ von Szabo, „Das Nordlicht(Ballet) von Poldini. Gegenwärtig werden die seit zehn Jahren nicht gegebenen „Meistersinger“ in völlig neuer Besetzung vorbereitet, außerdem als Novitäten: „Djamileh“ von Bizet, „Ein nächtliches Abenteuer“ von R. Mandl, „A basso porto“ von Spinelli, Tamora“ von Elbert, „Ninon“ von Stójanovits, „Die Lautenschägerin“ (Ballet) von Richard Heuberger und „Die Natur“ (Ballet) von Jos. Beer und Horvath. Es war mir vergönnt, in drei Tagen zwei in Wien noch ganz unbekannte Oper von Massenet und Hubay zu hören, außerdem Smetana’s „Verkaufte Braut“, von welcher zwar Wien, aber nicht das Wiener Hofoperntheater etwas weiß.

La Navarraise“ von Massenet hat im vorigen Sommer ihre erste Aufführung in London erlebt. Budapest ist die erste Stadt auf dem Continent, welche diese (selbst den Parisern noch fremde) interessante Novität auf die Bühne bringt. Eine vortreffliche Londoner Correspondenz hat seinerzeit in der „Neuen Freien Presse“ über das Werk berichtet und ausführlich die Handlung erzählt, die ich hier blos anzu deuten brauche. Ein muthiges armes Mädchen, Anita, eilt Nachts in das feindliche Lager und ersticht dort den An führer der Carlisten — nicht um, wie Judith, ihr Volk zu befreien, sondern um eine hohe Geldsumme zu verdienen, die sie als Mitgift zu ihrer Heirat braucht. Schwerverwundet wird ihr Geliebter, der Sergeant Araquil, herbeigetragen;

er stößt die Mörderin mit einem Fluche von sich und stirbt zu ihren Füßen, während sie in Wahnsinn ausbricht. Da zwischen Kriegslärm, Bivouak, Transport von Verwundeten, Sterbeglocken, Trommelwirbel, Hornsignale. Wer von einer einactigen Oper noch mehr fordern wollte, ich glaube, Massenet würde ihn selbst fordern. Schon das Vorspiel, worin Trommeln und Trompeten das große Wort führen, verräth, daß wir es hier mehr mit einem Gemälde, als mit einer Oper zu thun haben. Das Vorbild Mascagni’s, das „fortzeugend Böses muß gebären“, ist unverkennbar. Ich glaube Massenet leibhaftig vor mir zu sehen, wie er nach Anhören der „Cavalleria“ zu sich sagt: Das kann ich auch und wahrscheinlich besser. Dieses „besser“ zeigt sich un streitig in der feineren, pikanten Ausführung des Details und dem Vermeiden jener derben Trivialitäten, durch welche die „Cavalleria“ uns so oft ungeduldig und ärgerlich macht. In „La Navarraise“ ist der tragische Spiritus noch con centrirter; athemlos, unter beständigem Herzklopfen stürmt die Handlung vorwärts und treibt jeden der wechselnden Gemüthsaffecte gleich auf die äußerste Spitze. In einer solchen Oper ißt die Musik nur das Gnadenbrot und ein meist tüchtig versalzenes. Sie darf nicht aus eigenen Mitteln leben und sich bequem machen: ihr Geschäft ist das augenblick liche virtuose Farbenmischen. In dieser Kunst entfaltet Massenet eine ungemeine Geschicklichkeit. Die wenigen Momente, wo die Musik doch ein Weilchen stillhalten muß, hebt Massenet nicht so wol durch melodische Erfindung — sie ist sehr dürftig — als durch den exotischen Reiz spanischer Rhythmen und Harmonien. Es sind dies drei Nummern: die Erzählung Anita’s von ihrem Bekanntwerden mit Araquil, welche das Orchester mit einer Fandango-Melodie leicht untermalt; dann das schwerfällige Trinklied der Soldaten, endlich ein reizend instrumentirtes Orchester-Intermezzo, welches die auf dem Boden lagernden Soldaten leise in den Schlaf lullt. Sonst bewegt sich der Gesang fast überall dialogisch, in Andeutungen oder Auf schreien. Die einzelnen Charaktere haben scharf umrissene Profile, aber keine Tiefe. Die Stimmung ist von Anfang bis zu Ende im höchsten Grad elektrisch gespannt; brütende Gewitterschwüle, von vernichtenden Blitzen durchzuckt. „La Navarraise“ gehört zu jenen aufregendsten Sensationsstücken, die uns mit pathologischem Grauen anziehen und zugleich

ästhetisch abstoßen. Ein Nachbar meinte, solche Stücke sollten eigentlich verboten werden. Ich denke, das wird nicht nothwendig sein, sie werden bald von selbst aufhören. Indessen, ich habe hier keine Kritik abzugeben über Massenet’s „scène lyrique“, wie er das wilde kleine Drama nennt, sondern nur den ersten Eindruck zu schildern. Diesem kam die wirklich vortreffliche Aufführung sehr günstig zu Hilfe. In der Darstellerin der Anita, Fräulein Szilagyi, lernte ich eine hochbegabte dramatische Sängerin kennen, deren leidenschaftlich empfundener Vortrag und ergreifend wahres Spiel diese unwahrscheinliche Gestalt halbwegs glaubwürdig und sympathisch machte. Den Araquil singt ein noch sehr junger, stimmbegabter Tenorist, Herr Aranyi, mit Ge schmack und innigem Ausdruck. In dem spanischen Brigadier Garrido fand ich einen alten Bekannten wieder, Herrn D. Ney, der seinen schönen kraftvollen Baßbariton sich die Jahre hindurch unbeschädigt erhalten hat. Zwei andere werthvolle Stützen der Budapester Oper, die auch in Wien wohlbekannten Heldentenore Perotti und Broulik, hatte ich leider keine Gelegenheit, zu hören.

Unmittelbar nach dem nervösen Taumel, in den uns Massenet’s Schauerdrama versetzt, fühlt sich der Hörer von Hubay’s einactiger Oper „Der Geiger von Cremona“ wie mit weicher, sänftigender Hand berührt. Der Stoff ist Coppée’s gleichnamigem Schauspiel, bekanntlich einem Reper toirestück des Burgtheaters, entnommen und geschickt, nur etwas zu weitläufig, ausgeführt. Den Componisten, Herrn Eugen Hubay, kennt das Wiener Publicum als einen Violin-Virtuosen ersten Ranges. Er feiert auch als solcher, nicht blos als Componist, bei jeder Aufführung einen persönlichen Triumph, indem er das mit der Handlung verflochtene große Violin-Solo hinter der Scene unver gleichlich schön vorträgt. Auch seine Oper selbst darf sich eines starken, anhaltenden Erfolges in Budapest rühmen, und wenn man von dem Beifall abzieht, was auf Rechnung des ungarischen Local-Patriotismus und des Geigers von Budapest fällt, so bleibt noch immer genug übrig für den Geiger von Cremona. Die Musik ist das Werk eines geschmackvollen Musikers, melodiös und sangbar, wenngleich ohne starke Originalität. Auch diese von der „Navarraise“ so grund

verschiedene Oper wird in Budapest vorzüglich gegeben. Ins besondere ist mir der Bariton Herr Takats sehr ange nehm aufgefallen, dessen jugendlich frische, gut geschulte Stimme von einem seelenvollen Vortrag und natürlichem Spiel unterstützt wird. Den günstigsten Eindruck machte auch Frau Abranyi, eine hervorragende Gesangskünstlerin, in der Rolle der Giannina.

Leider ward ich durch eine plötzliche Repertoire-Störung des Vergnügens beraubt, noch eine dritte nagelneue Oper zu hören: „Enoch Arden“ von Raimann. Es hat mich manchmal gewundert, daß von unseren so desperat nach Opernstoffen umhersuchenden Componisten noch keiner auf Enoch Arden verfallen ist. Für grelle „Cavalleria“- Effecte gibt Tennyson’s Gedicht allerdings keinen Stoff, aber sowol die glückliche Idylle von Anna’s zweiter Ehe, wie Enoch’s unheildrohende Rückkehr müßte einen Ton dichter locken, der die rechten Töne für zarte und furcht bare Seelenstimmungen in seiner Gewalt hat und aus der Tiefe des Gemüthes zu schaffen weiß. Für diese mir un bekannt gebliebene Oper ward ich entschädigt durch eine ganz vorzügliche Aufführung von Smetana’sVerkaufter Braut“. Sie weckte neuerdings mein Bedauern, daß diese reizende, gesunde Musik keine Heimstätte in unserem Hofopernhaus gefunden hat. Wie herrlich war sie da zu be setzen! Die Aufführung der genannten drei Opern lieferte eine glänzende Probe von den Fähigkeiten des Theater- Directors und Orchester-Dirigenten Nikisch. Virtuose Auf gaben feinster Art, wie die Ouvertüre von Smetana und das Nocturno von Massenet, wurden bewunderungswürdig gelöst. In der „Verkauften Braut“ stimmen Frau Abranyi und Herr Aranyi in Gesang und Spiel so harmonisch zusammen wie ihre Namen. Auch der Baßbuffo Herr Szendröi verwendet seine trockene Komik recht wirksam für die Rolle des Heiratsvermittlers Kezal. Was mir aber noch werthvoller erschien als das Talent der einzelnen Sänger, ist der künstlerische Geist, der über dem Ganzen waltete, der echte Lustspielton, der gut musikalische, natür liche Gesangsvortrag, das durchwegs harmonische Ensemble. Die Chöre wurden frisch und kräftig gesungen und die Na tionaltänze mit hinreißendem Schwung getanzt.

Herr Arthur Nikisch soll im vorigen Jahre sein großes Dirigententalent auch in der Leitung der Philharmonischen Concerte vollauf bewährt haben. Umsomehr beklagen es die Budapester Musikfreunde, daß überhäufter Theaterdienst ihn in dieser Saison von diesen Concerten fernhält. Man hat zu dem Aushilfsmittel wechselnder Gastdirigenten gegriffen: Hermann Lewi, Goldmark, Gericke, Richter werden je Ein Philharmonisches Concert dirigiren. Diese auch in deutschen Hauptstädten Mode gewordene Methode scheint mir weniger dem künstlerischen Zweck, als der Neugierde des Publicums zu dienen, welches gerne wissen möchte, wie dieser und jener berühmte Capellmeister aussieht. Wenn ein Orchester glück licherweise selbst einen ausgezeichneten Dirigenten besitzt, so kann nichts wünschenswerther sein, als daß es mit diesem so fest wie möglich verwachse zu Einem beseelten Organis mus. Ein fremder, zugereister Dirigent, der, unvertraut mit dem Orchester, nach zwei hastigen Proben ein Concert leitet und dann auf Nimmerwiedersehen abreist, um einem zweiten, dritten und vierten den Platz zu räumen, kann nur zufällig und ausnahmsweise so Vollkommenes leisten, wie ein ständiger Capellmeister, der sein Orchester und jeden Einzelnen darin aus täglichem Zusammenwirken kennt und beherrscht. Ohne Zweifel wird man in Budapest nach dem heurigen Experiment wieder zurückkehren zu der alten, monarchischen Verfassung.

Von den Concerten habe ich während meiner drei Tage nichts gesehen, als die Anschlagzettel, welche mich be lehrten, daß auch Budapest nicht verschont ist von starker Heim suchung durch Virtuosen. Selbst namhafte unter ihnen sollen die Stadt mit einem bitteren Nachgeschmack verlassen haben; ihren Concertsaal fanden einige halb leer, andere zwar gefüllt, aber nicht mit zahlenden Personen. Nur im engsten Privatkreise ward mir ein musikalischer Genuß geboten: ich hörte zum erstenmale die neuen Brahms’schen „Volks lieder“ singen, und zwar von einer geistvollen Gesangs künstlerin, der Frau Nikisch. Früher ein werthvolles Mit glied der Leipziger Oper, hat die anmuthige junge Frau nach ihrer Verheiratung mit Director Nikisch der Bühne entsagt und erfreut nur zeitweilig das Publicum durch ihre Mitwirkung an Wohlthätigkeits-Concerten.

Die sieben Hefte „Deutsche Volkslieder mit Clavierbegleitung von Johannes Brahmssind in Poesie und Musik ein Schatz für das Haus, für die Familie, aber nebstbei auch für den musikalischen Kenner und Feinschmecker. Man weiß, wie sehr Brahms die Volks weise liebt, wie sie stärker oder leiser durch manche seiner Compositionen rauscht. Neben dieser Herzensneigung und darüber hinaus besitzt Brahms auch eine ausgebreitete Kenntniß der Geschichte und Literatur des deutschen Volks liedes. Die Herausgabe seiner sieben Hefte soll ursprünglich aus einer polemischen Absicht herausgewachsen sein: Brahms wollte über eine neue große Volksliedersammlung seine kritischen Bedenken niederschreiben. Mitten in dieser Streitschrift griff er aber entschlossen zum Notenpapier und that nach Gei bel’s Spruch: Das ist die beste Kritik von der Welt, Wenn neben das, was ihm mißfällt, Einer was Eigenes, Besseres stellt.

Von den 42 Volksliedern der Sammlung dürften wenige bekannt sein; Brahms hat diesen Schatz — echte Naturlaute der Musik wie der Poesie — aus verschollenen Almanachen und Volksbüchlein gehoben, die Melodie ganz unverändert gelassen und mit einer Clavierbegleitung ver sehen, wie nur eben Brahms sie zuwege bringt. Ganz einfach zu den ersten Strophen, reicher figurirt zu den wei teren, schmiegt sich die Begleitung so innig und unmittelbar an die Singstimme an, wie diese an das Gedicht. Heitere und wehmüthige Lieder, neckische und leidenschaftliche, reine Lyrik und balladenmäßige Erzählung wechseln mit einander. Ich muß darauf verzichten, einzelne Lieder besonders her vorzuheben, denn jedes ist „besonders“ schön. Und wie sich das Einfachste, Natürlichste in der Kunst am schwersten schildert, so wehren sich auch diese Volkslieder gegen die beschreibende Feder des Kritikers. Genug, daß Brahms sich mit seiner Volksliedersammlung ein unvergängliches Verdienst geschaffen und einen verschütteten Jungbrunnen erschlossen hat, der in keiner musikalischen Familie fehlen sollte. So ist denn auch mit diesen Liedern für mich eine freundliche Erinne rung an Budapest verknüpft. Die Zeit ist lange vorüber, da man dort blos Zigeunermusik zu hören bekam.