Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Nr. 10918. Wien, Dienstag, den 15. Januar 1895 Hanslick, Eduard Wilfing, Alexander FWF Der Wissenschaftsfond.
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Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Herausgegeben von Wilfing, Alexander Projektmitarbeiterinnen Bamer, Katharina Pfiel, Anna-Maria Elsner, Daniel Austrian Centre for Digital Humanities and Cultural Heritage Wien 2024

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Maschinenlesbares Transkript der Kritiken von Eduard Hanslick.

Nr. 10918. Wien, Dienstag, den 15. Januar 1895 Hanslick, Eduard Neue Freie Presse Morgenblatt Herausgegeben von Etienne, Michael Friedländer, Max Wien 15.01.1895
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Concerte. (Festconcert der Gesellschaft der Musikfreunde. „Die Jahreszeiten.“ Zwei neue Sonaten von Brahms.)

Ed. H. Vor einem Jahre noch stand auf dem Neue Markt das fürstlich Schwarzenberg’sche Palais. Darin hat vor vierundneunzig Jahren die erste Aufführung von Haydn’s „Jahreszeiten“ stattgefunden. Eine kunstsinnige Ge sellschaft aus dem hohen Adel — van Swieten war ihr be ständiger Secretär — gab diese denkwürdige Première für sich und ihre geladenen Freunde. Der neunundsechzig jährige Haydn dirigirte das Orchester, Salieri accom pagnirte am Flügel. Die „Jahreszeiten“ mit der um zwei Jahre älteren „Schöpfung“ übergingen dann in die Hände der „Tonkünstler-Witwen-Societät“, welche alljährlich im alten Burgtheater beide Oratorien schlecht und recht ab spielte. Das dauerte so mehrere Decennien, bis man endlich diesen regelmäßigen Wechsel von „Schöpfung“ und „Jahres zeiten“ in zunehmend schleuderischen Aufführungen satt be kam. Welcher Jubel erscholl, als nach langer Pause Her beck im Jahre 1860 die „Jahreszeiten“ wieder heraufholte zu neuem, kräftigem Leben! Seither pflegt die Gesellschaft der Musikfreunde alle vier oder fünf Jahre eines der beiden Ora torien Haydn’s in sorgfältigster Aufführung zu geben und findet jedesmal dafür ein sehr empfängliches, ja begeistertes Audi torium. Sie hat es auch an diesem 9. Januar gefunden, trotz des furchtbaren Schneesturmes, der den Ein- und Aus gang arg gefährdete. Diesmal erschienen die „Jahreszeitenals Festconcert, zum 25jährigen Jubiläum unseres Musik vereins-Gebäudes. Der Verein selbst (die ehrwürdige „Gesell schaft der Musikfreunde“) hat bereits vor 33 Jahren seinen fünfzigsten Geburtstag gefeiert. Damals sprach Minister Schmerling in einem schwungvollen Toast die Zuversicht aus, es werde die Gesellschaft „bald im eigenen Hause walten und selber Gastrecht üben“. So ist es auch ge kommen. Das hoffnungsvolle Lied vom eigenen Haus war ihr übrigens früher schon gesungen worden. Jahrelang mußte sie für ihre Concerte sich den großen oder den kleinen

Redoutensaal erbitten, dessen Bewilligung jedesmal von dem besonderen Wohlwollen des Obersthofmeister-Amtes abhing. Immer dringender, unabweislicher für die „Gesellschaft“ wurde somit der Bau, wenn nicht eines eigenen Hauses, doch wenigstens eines eigenen Concertsaales. Das war der „alte Musikvereinssaal“ unter den Tuchlauben, „zum rothen Igel“. Seine feierliche Eröffnung geschah am 4. November 1831 mit einem von Grillparzer eigens gedichteten, von Franz Lachner componirten „Weihgesang“. Man fühlte sich wie im Himmel — beinahe vierzig Jahre lang. Für ein rasch aufblühendes Musikwesen sind vierzig Jahre eine halbe Ewigkeit. Der Himmel des „rothen Igels“ wurde uns bald unerträglich eng. Es galt, einen großen Entschluß zu fassen. Die Direction der Musikfreunde ar beitete mit Muth und Erfolg an dem Zustandekommen eines würdigen Neubaues, wofür ganz Wien sich lebhaft interessirte. Unser musikheiliger Nikolo, genannt Dumba, muß seine Hand stark im Spiele gehabt haben, denn das neue Musikvereins-Gebäude stand am Neujahrstage 1870 fertig da und wurde am 6. Januar feierlich mit Sang und Klang eröffnet. Ein Ehrentag für Meister Theophil Hansen, den wir jetzt bei dem fünfundzwanzigjährigen Jubiläum seiner Schöpfung schmerzlich vermißt haben, wie so viele der früheren trefflichen Directionsräthe: Dr. Egger, Eduard Schön, General Drathschmiedt, Dr. Standhartner, Mosenthal, Herbeck, Hellmesberger! Tags darauf wurde der „kleine Saal“ von Clara Schumann eingeweiht — ein gutes Omen, das aber nicht recht nachzuwirken scheint. Schade, daß dieser schmucke Saal, der durch seine Lage und innere Einrichtung ungleich bequemer ist, als der Bösendorfer’sche, jetzt so wenig benützt wird von Virtuosen und Quartett vereinen.

Erst fünfundzwanzig Jahre lang steht unser Musik vereinssaal. Eine kurze Zeitspanne, und doch — wie viele hochbedeutende glänzende Namen, mitunter Marksteine unserer Musikentwicklung, sind damit verbunden! Liszt hat in seinen alten Tagen als Abbé zum letztenmale hier mit Orchester gespielt; Bülow und Rubinstein haben da ihre schönsten Triumphe gefeiert. In diesem Saale lauschten

wir der Geige Joachim’s, Sarasate’s, Wilhelmj’s; dem Gesange der Adelina Patti, Nilsson, Albani, Bellincioni, Barbi; dem Orgelspiele Bruckner’s und Labor’s. Richard Wagner, Bülow, Liszt, Herbeck, Dessoff haben hier ihren Commandostab geschwungen; nach ihnen Brahms, Richter, Gericke. Alle großen Chor- und Orchesterwerke von Brahms, die wesentlichsten von Liszt, Rubinstein, Goldmark, Dvořak, Smetana u. A. stammen sämmtlich für uns aus dem neuen Musikvereinssaal.

Habe ich mich wegen des langen historischen Rückblicks zu entschuldigen? Dann citire ich Berger’s Festgedicht: „Jeglich Menschenwerk, groß oder klein, wie sich’s auch wandle in der Zeiten Wechsel, des eig’nen Ursprungs bleib’ es eingedenk!“ Alfred v. Berger war auch diesmal, wie jüngst bei der Johann Strauß-Feier, rasch und gefällig mit einem Prolog bei der Hand. „Bereit sein ist Alles,“ sagt Shakespeare. Unser Dichter nimmt seinen Ausgang bedeutungsvoll von den politischen Weltereignissen, unter deren Einwirkung die alte Gesellschaft der Musik freunde erwuchs. Das neue Haus selbst bot ihm weniger poetische Motive. Gelegenheitsgedicht ist häufig Verlegenheitsgedicht; es entsteht nicht immer auf specielle Einladung der Minerva. Berger’s Poem, sachgemäß und würdig, muß sich ohne die poetischen Fittiche behelfen, auf denen sein Strauß-Prolog sich so kräftig aufschwang. Der alte Johann Strauß stimmt uns noch immer lyrischer als ein fünfundzwanzigjähriges Haus. An Lewinsky, dem Sprecher des Prologs, bewunderten wir wieder die Kunst der klaren und doch warmen, gehobenen Rede. ... Die Aufführung der „Jahreszeiten“ unter Director Gericke’s Leitung entsprach allen Anforderungen. Voll des Dankes und der Zufriedenheit ist diese Musik ein Heilmittel — wenigstens ein momentanes — gegen den Pessimismus unserer Zeit. Aber jedesmal frappirt es uns von neuem, wie die einzelnen Jahreszeiten auf Haydn’s Phantasie eine so ganz andere, fast umgekehrte Wirkung üben, als auf uns im wirklichen Leben. Herbst und Winter sind bei ihm nicht blos die blühendsten, frischesten Jahreszeiten, in ihnen fängt überhaupt geniales Leben erst recht an, während der Früh ling nach Haydn ein ziemlich gleichgiltiger, der Sommer

sogar der verdrießlichste Abschnitt sein müßte, in dem man blos schwitzt und sich vor dem Gewitter fürchtet. Sogar die Liebe zwischen Lucas und Hannchen läßt er nicht im wunderschönen Monat Mai erwachen, sondern erst im October. Frau Lillian Henschel, die Gattin Georg Henschel’s, der im Londoner Musikleben seit zehn Jahren eine bedeutende Stellung als Sänger, Componist und Dirigent behauptet, sang die Sopranpartie. Ein feines, leicht ansprechendes, wohlgeschultes Stimmchen, das besonders in kleinem Raume, bei Clavierbegleitung vor trefflich wirkt. In ihrem eigenen Concert hat Frau Henschel das Publicum entzückt mit dem geistreichen Vortrag französischer, deutscher und englischer Lieder. Was in den „Jahreszeitenden Styl des heiteren Singspiels streift, wie das Duett mit Lucas, sang Frau Henschel mit vollendeter Grazie. In den langsamen, pathetischen Sätzen, im Recitativ zumal, fühlte sie sich weniger behaglich und verfiel leicht in Manierirtheit. Verschweigen läßt sich auch nicht, daß ihre Aussprache leider ganz unverständlich blieb. Frau Henschel fand sehr lebhaften Beifall, desgleichen Herr Sistermans, der uns vom vorigen Jahre her in gutem Andenken steht. Stimmlich schien er mir diesmal weniger disponirt. Die treffliche Me thode dieses Sängers, stylvoller Vortrag und deutliche Aus sprache müssen ersetzen, was seinem Organ an Farbe und sinnlichem Reiz abgeht. Der Beste von Allen war wiederum — Herr Walter. Ein fast überraschendes Lob, das wir bereits drei Jahrzehnte lang der strengsten Wahrheit gemäß wiederholen. Bei der Einweihung des neuen Musikvereins- Gebäudes, im Januar 1870, entzückte Walter die Hörer mit dem Vortrag einer Mozart’schen Arie — und jetzt, bei der fünfundzwanzigjährigen Jubelfeier desselben Hauses, entzückte er sie ganz ebenso in Haydn’s „Jahreszeiten“. Er ist immer gleich liebenswürdig und „wird es ewig, ewig bleiben!“

Wir sind jetzt reich an Musik — an lebendiger echter Musik, nicht blos an musikmachenden Concertgebern. So haben wir binnen wenig Tagen zwei neue, noch ungedruckte Compositionen von Brahms zu hören bekommen: Sonaten für Clarinette und Piano. Jede Novität dieses sparsam zurück haltenden Tondichters versetzt unser Publicum in eine fest liche Stimmung. Diesmal versprach gar sein herrliches

Clarinet-Quintett eine hoffnungsvolle Descendenz! Nach einander ein Quintett, ein Trio und zwei SonatenBrahms’ Spätliebe für die Clarinette scheint zu förmlicher Brautschaft gediehen. C. M. Weber und Brahms, zwei so grundverschiedene Naturen, begegnen sich in der Vorliebe für dieses Organ schwärmerischer Romantik; sogar in der Thatsache persönlicher Anregung durch einen idealen Clarinet tisten. Weber hat ihn in Bärmann, Brahms in Herrn Richard Mühlfeld gefunden, dem berühmten Blasengel der herzoglich meiningen’schen Capelle. Den neuen Clarinett- Sonaten danken wir eine bleibende und ganz eigenartige Bereicherung unserer Kammermusik. Die packende Wirkung, welche das Clarinett-Quintett namentlich in seinem genialen, tief ergreifenden Adagio ausübt, hat Brahms in den zier licher geformten Sonaten nicht erreicht, auch nicht be absichtigen können. Bescheidener an Wuchs und gelasseneren Temperaments besitzen doch beide die Vorzüge echt Brahms’scher Prägung. Anders als im Quintett hat im Duo die Clarinette entschieden die führende Stimme; der Componist, der sie weislich in den Grenzen ihrer schönen Wirkungen hält, verfügt hier über keinen sehr weiten Spielraum. Er kann unmöglich in jedem der acht Sonatensätze stets überraschend Neues bringen und nicht auch manchmal an Stellen seiner früheren Clarinett- Compositionen erinnern. Entzückend ist der erste Satz der Es-dur-Sonate. Ein Thema, wie vom Himmel ge fallen, oder richtiger, aus schönster Jugendzeit herüber duftend, voll süßer Schwärmerei und drängendem Liebes glück! Um dieser Melodie willen, mit welcher die Clarinette ohne jedes Vorspiel anhebt, sich am eigenen Gesang be rauschend, ist mir dieser Satz der liebste und die Es-dur- Sonate lieber als die zweite in F-moll. Und doch vernahm man am zweiten Concertabend zahlreiche Stimmen, welche die F-moll-Sonate vorziehen. Um so besser! Der zweite Satz, ein Allegro appassionato in Es-moll, unterbricht den der Clarinette weniger zuträglichen Gefühlssturm, um in einen gesangvollen, langsamen Dur-Mittelsatz einzulenken, nach welchem der erste Theil zurückkehrt und in tiefen Schalmeitönen leise hinstirbt. Ein Sechsachteltact, Es-dur, in dem sinnenden, bequem schlendernden Gang, den

Brahms für seine mitteren Sätze liebt, bringt einige reizende Variationen und leitet unmittelbar in das Finale, welches bei geringerer Erfindung doch einen effectvollen Abschluß bildet. ... In der F-moll-Sonate ist der erste Satz (gleichfalls ein Allegro appassionato) der musikalisch bedeutendste, nicht so sehr durch melodiöse Erfindung als durch seine vielgestaltigen geistvollen Combi nationen. Ein stimmungsvolles kurzes Andante in As-dur verwendet in schönem Wechsel alle hohen und tiefen Klang wirkungen der Clarinette. Ihm folgt der unmittelbar an sprechendste aller Sätze: ein Allegretto grazioso, dessen idyllische Anmuth und Heiterkeit an Schubert’sche und an Brahms’ eigene Ländler erinnert. Es wird überall große Eroberungen machen. Frisch und behend strömt das Finale dahin, ein rascher alla breve-Satz, in welchem eine Clarinett figur von stakkirten Achtelnoten originell und witzig heraus sticht. Beide Sonaten sind in Rosé’s Quartett-Abenden überaus beifällig aufgenommen worden. Wie fast allen Compositionen von Brahms, steht ihnen bei näherer Bekanntschaft ein wachsender Erfolg bevor. Gehören sie auch keineswegs zu den schwerfaßlichen Werken, so liegen doch ihre feinsten Züge und intimsten Reize nicht gerade auf der Oberfläche. Die historische Weihe und der Nimbus der ersten Wiener Aufführung werden freilich nicht jeder Stadt zu Theil: Brahms und Mühlfeld einträchtig zusammenwirkend! Ueber Mühlfeld’s unvergleich liche Kunst habe ich mich bereits vor zwei und drei Jahren im Lobe erschöpft und kann heute nur constatiren, daß sie ganz die alte geblieben. Daß Mühlfeld, meines Erachtens, jetzt noch schöner spielt, wird mir doch Niemand glauben. Brahms, den Schöpfer dieser schönen Sachen, selbst am Clavier zu sehen, ist uns immer ein Anblick voll freudiger Rührung. Mag er auch mitunter mehr in sich hinein und für sich spielen, als für das Publicum — ungefähr wie Schumann zu dirigiren pflegte — es kann ihn doch Keiner ersetzen. An jedem der beiden Rosé-Abende feierte Brahms einen Doppeltriumph. Nebst seinen zwei neuen Sonaten wurde nämlich auch das herrliche G-dur-Quintett (op. 111) und das Clarinett-Quintett in vollendetem Zusammenspiel zu Gehör gebracht.