Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Nr. 10938. Wien, Dienstag, den 5. Februar 1895 Hanslick, Eduard Wilfing, Alexander FWF Der Wissenschaftsfond.
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Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Herausgegeben von Wilfing, Alexander Projektmitarbeiterinnen Bamer, Katharina Pfiel, Anna-Maria Elsner, Daniel Austrian Centre for Digital Humanities and Cultural Heritage Wien 2024

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Maschinenlesbares Transkript der Kritiken von Eduard Hanslick.

Nr. 10938. Wien, Dienstag, den 5. Februar 1895 Hanslick, Eduard Neue Freie Presse Morgenblatt Herausgegeben von Etienne, Michael Friedländer, Max Wien 05.02.1895
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Concerte.

Ed. H. In dem vorletzten Philharmonie-Concert inter essirte zumeist die Sängerin Frau Lillian Henschel. Die geistreiche kleine Amerikanerin mit dem blassen, pikanten Gesichtchen sang zwei Coloratur-Arien von Händel und Rameau, unter deren gehäuftem Schmuck der eigentliche Körper, Fleisch und Knochengerüste der Musik, beinahe ver schwindet. Für Preisaufgaben dieses Styls eignet sich am besten eine Stimme, die leicht beweglich, wie ein feines Seidenfädchen, nirgends durch ihr eigenes Volumen behindert wird. Aus Frau Henschel’s Vogelkehle kam das Alles über aus zierlich und geschmackvoll heraus. Allerdings mußten die Zuhörer auf den entfernteren Plätzen scharf aufpassen, um nichts von diesem holden Gezwitscher zu verlieren. Daß man vom Texte kein Wort verstand, konnte hier nicht schaden, denn sowol Händel’s wie Rameau’s Arie dürften allenfalls solfeggirt werden, da beide zunächst der Gesangs-Virtuosität dienen und im rein elementaren Klang schwelgen. In der Händel’schen Arie hält sich der Dichter thatsächlich an das Bild des flatternden Vogels; dieser wird dem Componisten zum musikalischen Motiv. Welch hochausgebildete Gesangstechnik wurde damals bei jeder Primadonna vorausgesetzt! In derselben Händel’schen Oper „Alessandra“, worin Faustina Hasse jene Vogel-Arie sang, rivalisirte mit ihr (1726) eine zweite, ebenso große Sängerin, die Cuzzoni. Beide mußten als Solosängerinnen gleichmäßig bedacht und am Schluß des ersten Actes in einem effectvollen Duett vereinigt werden. Von ähnlichem Charakter, nur melodisch weniger reizvoll, ist die zweite von Frau Hen schel vorgetragene Coloratur-Arie aus Rameau’s Oper Hippolyte et Aricie“ (1733). Ein Gesangstück von Rameau, dem großen französischen Zeitgenossen Händel’s, ist heute ein seltenes Ereigniß und darum doppelt interessant. An Kraft und Reichthum der musikalischen Erfindung steht Rameau gegen Händel weit zurück; speciell als Dramatiker überholt er diesen in vielen Stücken. In Rameau’s „Castor et Polluxherrscht eine Gewissenhaftigkeit gegen das Wort und die Situation, sogar eine Energie des dramatischen Ausdruckes,

wie wir sie in Händel’s ganz dem italienischen Modegeschmack huldigenden Opern nur ausnahmsweise begegnen. „Hippo lyte und Aricie“ war die erste Oper Rameau’s und behan delt denselben Stoff, wie Racine’s „Phädra“. Von der Händel’schen Arie wie von der Rameau’s könnte man sagen, sie gehören zu jenen Musikstücken, die einmal schön waren. Heute von überwiegend historischem Interesse, bedeuten sie mehr einen Triumph der Sängerin als des Componisten. Nicht das Genie der beiden Meister spricht daraus, sondern der Geschmack ihres Publicums und der Glanz einer ent schwundenen Gesangskunst. Heute leben wenige Sängerinnen, welche solchen Aufgaben vollkommen gewachsen sind. Kein geringer Ruhm für Frau Henschel, daß sie zu diesen weni gen zählt.

Von Instrumentalstücken hörten wir Mendels sohn’s Ouvertüre zum „Sommernachtstraum“, Brahms F-dur-Symphonie und dazwischen eine fünfsätzige Suite für Clavier und Streichinstrumente von Hugo Reinhold. Letztere enthält neben oberflächlichen Redensarten und er müdenden Wiederholungen (besonders im Finale) auch sehr anmuthige, melodiöse Partien. Die Suite hat sehr ge fallen und Herrn Reinhold als Componisten und elegantem Clavierspieler lebhaften Beifall verschafft. Trotzdem war uns die Wahl dieses Stückes nicht recht verständlich. Es ist ein Erstlingswerk, mit welchem der junge Reinhold schon vor achtzehn Jahren sein Debüt bei den Philharmonikern gemacht hat. Seit dieser langen Zeit wird er wol Reiferes, Be deutenderes geschaffen haben. Und dann: wie kostbar und vielumworben ist ein Platz auf dem Programm der Phil harmoniker! Wie viele weit bessere Compositionen sind seit diesen achtzehn Jahren zur ersten Aufführung gelangt, ohne einer zweiten gewürdigt zu werden! Schließlich war die Auf führung der sehr ausgedehnten Reinhold’schen Suite, un mittelbar vor Brahms’ dritter Symphonie, auch noch ein ökonomischer Fehler. In einem Wiener Mittagsconcert darf man eine große, die volle Aufmerksamkeit und Frische der Hörer fordernde Symphonie, wie die von Brahms, nicht erst kurz vor 2 Uhr beginnen lassen. Die höchst bedauerliche, aber unausbleibliche Folge davon ist, daß nach jedem der ersten drei Sätze ein immer größerer Theil des Publicums sich entfernt. Eine Ouvertüre an Stelle der fünfsätzigen

Suite würde zur Ausfüllung des Programms genügt und die Zuhörer empfänglicher und freudiger vorgefunden haben für die mächtige Tondichtung von Brahms.

In ihrem sechsten Concert machten uns die Philharmoniker mit einer neuen Concert-Ouvertüre von Dvořak bekannt. Sie ist „In der Natur“, betitelt und ein sehr erfreuliches Seitenstück zu seiner jüngst gehörten „Carnevals-Ouvertüre“. In beiden Stücken pulsirt ein jugendlich drängendes Leben — dort in übermüthiger Faschingslust, hier in milderer Frühlingsfreude. A. B. Marx, der einmal mit Mendelssohn über die Farbe einer Composition stritt, würde die erste Ouvertüre etwa purpurroth, die zweite hellgrün gefunden haben. Aber beide beherrscht dieselbe Freude am schönen Klang, dieselbe melodische Frische, Unmittelbarkeit und Natürlichkeit. Mit den besten Compositionen Dvořak’s haben sie jenes Glücksgefühl gemein, das in unseren pessimistischen Tagen doppelt wohlthuend wirkt. Nach modernem Maßstab wird man vielleicht keine der beiden Ouvertüren „bedeutend“ nennen — sie legen es gar nicht darauf an — aber echt und liebenswürdig sind sie, eine Erfrischung nach der Mehrzahl der neuesten Orchesterwerke, die sich für tief und bedeutend ausgeben, während sie nur tief im Größenwahn stecken und bedeutend sind in falschen Con trasten und angeschminktem Weltschmerz. Zugleich mit diesen zwei Ouvertüren hat Dvořak eine dritte, „Othello“, ver öffentlicht, also eine Einleitung oder Nachdichtung des Shakespeare’schen Trauerspieles. Es dürfte nicht an Stimmen fehlen, welche diese tragische Ouvertüre gegen jene zwei heiteren für die „bedeutendere“ erklären. Mir scheint das Gegentheil richtig. Im „Carneval“ und der Frühlings-Ouver türe ist Dvořak er selbst, im „Othello“ trägt er eine Maske, die bald an Liszt, bald an Wagner erinnert. Hier wollte Dvořak einmal tragisch kommen, und da seiner Natur der vernichtende dramatische Conflict, das Selbstzerfleischen und Blutvergießen ferne liegen, so nimmt er Zuflucht zu künst licher Injection. Auch sein „Othello“ interessirt durch geist reiche Züge und wirkt durch instrumentalen Pomp, aber man merkt nicht blos die Absicht, sondern auch die Anstrengung. Die „Othello“-Ouvertüre sucht den drama tischen Verlauf der Tragödie nachzubilden und verweilt mit grausamer Ausführlichkeit bei dem Erwürgen der

Desdemona. Dvořak kehrt hier am unrechten Ort den dramatischen Componisten hervor; er ist aber kein drama tischer Componist im eminenten Sinne: das hat er am rechten Ort, in seinen Opern, gezeigt, welche nur durch ihre lyrischen Schönheiten, vorzüglich in gemüthvoller und heiterer Stimmung glänzen. Nicht ohne einiges Verwundern wird man in Dvořak’s „In der Natur“ ein Motiv entdecken, das auch in den beiden anderen Ouvertüren („Carneval“ und Othello“) auftaucht. Es heißt, Dvořak habe ursprünglich alle drei Ouvertüren in einem gewissen Zusammenhange gedacht. Ein solcher Zusammenhang ist, wie ich glaube, schlechterdings unverständlich. Gut, daß der Componist den Einfall auf gegeben hat, die drei Stücke auch äußerlich als etwas Zusam mengehöriges erscheinen zu lassen, was sie doch nimmermehr sein können. Dvořak’s Ouvertüre „In der Natur“ wurde unter Hanns Richter’s Leitung ebenso glänzend ausgeführt und so stürmisch applaudirt, wie jüngst sein „Carneval“.

Auch eine Novität von Grieg ward uns bescheert. Die „Drei Orchesterstücke aus Sigurd Jorsalfar“ sind zur Aufführung des gleichnamigen Dramas von Björnson com ponirt, also ursprünglich Zwischenacts- und Bühnenmusik, wie Grieg’s Musik zu Ibsen’s symbolisch-nationalem Schau spiel „Peer Gynt“. In beiden Fällen hat sich der Com ponist zu einer nachträglichen Adaptirung für den Concert saal entschlossen. Werth und Wirkung dieser Composition speciell für Björnson’s Drama vermag ich, ohne Kenntniß desselben, nicht abzuschätzen. Als Concertmusik erreicht sie nirgends die reizende (erste) „Peer Gynt“-Suite. Sie hört sich nicht übel an, reizt vorübergehend durch einige norwegische Klänge, ist aber im Ganzen von dürftiger Erfindung und sehr bequemer Arbeit. Das Vorspiel ist ein etwas steif idyllisches „Allegretto semplice“ (molto semplice!), welches durch das auffallend langsam genommene Tempo an die Grenze des Langweiligen gerieth. Es folgt ein ängstlich düsterer „Traum der Borghild“, der man wahrscheinlich etwas geborgt hat, was sie nicht zurückzahlen kann. Zweimal springt sie plötzlich auf, fleischt die Zähne, lacht convulsivisch und legt sich wieder schlafen. Die dritte und letzte Nummer, ein Triumphmarsch, weist auf einen glücklichen Ausgang des Dramas hin. Das Thema des Marsches ist von einer unerschrockenen Alltäglichkeit und

wird nur durch das Aufgebot aller materiellen Kraft ge steigert. Schon des Contrastes wegen freut man sich an dem Trio, einer sanften Geigenmelodie über Harfenaccorden, worauf leider der Marsch wieder losgeht. Von Militär- Capellen im Freien gespielt, mag er Beifall finden, im Concertsaal hat dieses brutale Fortissimo aller Blechinstru mente sammt Becken, Pauken, großer und kleiner Trommel nur die Wirkung, daß wir mit Goethe’s Faust ausrufen: „Baumwolle her! Der Kerl sprengt mir die Ohren!“

Noch eine dritte Novität verdanken wir dem Phil harmonischen Concert — nicht ein neues Tonstück, aber einen neuen, vielbesprochenen Tonkünstler: den Pianisten Joseph Hofmann. Wie gegenwärtig sein jüngerer pol nischer Landsmann Bronislaw Hubermann, so gehörte kurz zuvor der (jetzt sechzehn- bis siebzehnjährige) Hofmann zu den angestaunten Wunderkindern. Außer seinem Talent verfügt er über eine interessante „Legende“. Vor acht Jahren in Amerika concertirend, erregte er durch sein kränklich über müdetes Aussehen das Mitleid eines reichen Menschen freundes, welcher den talentvollen Knaben der Gefahr fort gesetzter Ausbeutung entziehen wollte. Er bot dem Papa Hofmann eine große Summe gegen das Versprechen, den kleinen Joseph mehrere Jahre lang nicht öffentlich auftreten, sondern in Ruhe weiterstudiren zu lassen. Der Handel wurde geschlossen und hat dem jungen Künstler vortrefflich angeschlagen. Die übernächtige Blässe ist von seinem feinen intelligenten Ge sichte verschwunden und sein Clavierspiel zu sicherer Meister schaft gediehen. Hofmann’s hochausgebildete Technik, sein klangvoller Anschlag, auch die Art, zu phrasiren und zu be tonen, erinnern auffallend an seinen Meister Anton Rubin stein. An Kraft natürlich steht er hinter diesem Titanen zurück. Rubinstein’s D-moll-Concert setzt die Virtuosität des Pianisten auf eine starke Probe; der junge Hofmann hat sie glänzend bestanden, da in dem beschleunigten Tempo des Finales noch ein Uebriges gethan. Ob er auch so viel Tiefe und Gemüth besitzt wie Bravour, das läßt sich nach diesem Rubinstein’schen Concert, das weder tief noch gemüthvoll ist, nicht entscheiden. Der junge Hofmann gibt dem Wiener Publicum, das ihn überschwänglich ausgezeichnet hat, gewiß noch Gelegenheit, sein Talent von allen Seiten kennen zu lernen.