Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Nr. 10974. Wien, Mittwoch, den 13. März 1895 Hanslick, Eduard Wilfing, Alexander FWF Der Wissenschaftsfond.
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Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Herausgegeben von Wilfing, Alexander Projektmitarbeiterinnen Bamer, Katharina Pfiel, Anna-Maria Elsner, Daniel Austrian Centre for Digital Humanities and Cultural Heritage Wien 2024

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Maschinenlesbares Transkript der Kritiken von Eduard Hanslick.

Nr. 10974. Wien, Mittwoch, den 13. März 1895 Hanslick, Eduard Neue Freie Presse Morgenblatt Herausgegeben von Etienne, Michael Friedländer, Max Wien 13.03.1895
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Concerte.

Ed. H. In ihrem letzten Concertprogramm hatte die Gesellschaft der Musikfreunde je einen Chor von Pale strina und von Orlando Lassus angekündigt, im letzten Augenblick aber auch diese äußerst homöopathische Ehrenbezeigung für die beiden großen Tondichter zurück genommen. Der römische und der niederländische Meister, durch gleiche Schule und gleiche Ziele mit einander ver bunden, sind es bekanntlich auch durch das gleiche Todesjahr 1595 — eine Analogie mit Sebastian Bach und Händel, welche wieder dasselbe Geburtsjahr 1685 vereint. Alle größeren Concert- und Chorvereine haben sich eifrig erwiesen, die 300. Wiederkehr von Palestrina’s und Lassus’ Todesjahr zu feiern. Sie thaten damit ihre Pflicht, so gut sie konnten, ohne sich durch die allerdings ungewöhnliche Anstrengung dieses Studiums abschrecken zu lassen. Die beiden deutschen Großmeister, deren zweihundertjähriges Jubiläum wir vor zehn Jahren gefeiert haben, machten uns freilich das Fest programm leichter. Bach und Händel leben mit ihren Meisterwerken in der Nation fort; die Concertvereine durften den „Messias“, den „Makkabäus“ oder das „Alexander fest“ wählen, die „Matthäus-“ oder die „Johannes-Passion“, es war immer ein dem Publicum Wohlbekanntes und Hochwill kommenes. Mit Lassus und Palestrina hingegen machen wir jetzt, nach 300 Jahren, eigentlich erst Bekanntschaft. In Wien namentlich, das in der Pflege des a capella-Gesangs so weit hinter den deutschen Musikstädten zurücksteht, sind wir für diesen Kunstzweig des sechzehnten und siebzehnten Jahrhunderts fast allein auf das Studium der Partituren angewiesen. Und diese ersetzen am allerwenigsten bei Pale strina den lebendigen Gehörseindruck. Wer kennt nicht die Schilderungen von der überwältigenden Wirkung der Mar cellusmesse oder die Improperien Palestina’s in der Sixti nischen Capelle! Da wirkt diese von keinem Instrumente begleitete Gesangsmusik wie eine himmlische Offenbarung; sie hört auf, ein persönliches Kunstwerk zu sein, und fließt als sinnlich-geistiges Fluidum mit der gottesdienstlichen Feier zusammen. Sie ist die ideale Kirchenmusik, die Kirchenmusik

im strengsten Sinne, die, selbstlos, unterwürfig, den indi viduellen Charakter des Künstlers zurückdrängt, ohne welchen wir eine moderne Tondichtung uns nicht denken können. Ein älterer Aesthetiker hat als höchste Tugend einer Kirchen musik bezeichnet, daß man sie (als Composition) „gar nicht merke“. In diesem Sinne ist für eine Palestrina-Feier die Kirche der richtige Ort, nicht der Concertsaal, wo die ästhetische Andacht herrscht über die religiöse. Die Gemeinde unserer Musikfreunde ist nicht die Kirchen gemeinde; sie darf ihr eigenes Recht wol geltend machen. Und diesem Rechte entspricht die Pflicht unseres ersten Musik institutes, den dreihundertjährigen Gedenktag Palestrina’s und Lassus’ nicht unbemerkt vorübergehen zu lassen. Damit hat sich die Gesellschaft der Musikfreunde in ihrem ur sprünglichen Programm ohnehin recht knickerisch und kleinlich abgefunden. Nun mußten wir noch die Enttäuschung erleben, daß auch diese Minimalfeier für Palestrina und Lassus im Concert wegblieb. Ein im Saal vertheilter hoch- und scham rother Zettel begründete den Wegfall damit, daß eine Anzahl Chorsänger an der Influenza daniederliegen. Diese Entschuldigung wollte Niemandem recht einleuchten. Stand doch unser „Singverein“ in imposanter Stärke auf dem Podium und entfaltete in Humperdinck’s „Wallfahrtund dem „Triumphlied“ von Brahms den schönsten Vollklang. Mit der Hälfte dieses Chors haben andere Städte eine würdige Palestrina-Feier zu Stande ge bracht. Die „ungenügende Anzahl“ konnte somit kein ernstes Hinderniß bedeuten, falls überhaupt die a capella-Chöre gut studirt waren. Allein wir bekommen ja in vier Wochen noch ein außerordentliches Gesellschaftsconcert! Da die Influenza doch nicht als Orgelpunkt so lange fortbrummen wird, dürfen wir hoffen, die Direction werde ihr Versprechen nachträglich einlösen. Sie könnte dann schicklicherweise ein Uebriges thun durch Hinzufügung auch einer weltlichen Composition sowol von Palestina wie von Lassus. Eines der Madrigale Palestrina’s, am besten ein Stück aus seinem Hohen Lied“, würde den Hörern eine hochwillkommene Probe geben von seiner „profanen“ Musik. Palestina, welcher diese „Cantica canticorum“ dem Papste Gregor XIII. widmete, bekennt sich zwar (ob aus voller Ueberzeugung?) zu der katholischen Auslegung, welche die Liebeslieder

Salamonis in die göttliche Liebe Christi zu seiner Braut, der Seele, umdeutet: weltliche Gedichte, Liebeslieder bleiben sie nichtsdestoweniger, und die schönsten aus dem Schatzkästlein Palestrina’s. Noch merklicher als in Palestrina regt sich in Orlando Lassus auch der weltliche Tondichter. Noch in neuesten Musiklexikons und Handbüchern der Musik geschichte finde ich den alten Irrthum festgehalten, daß Lassus eigent lich Ronald de Lattre geheißen habe. Diese auf die Autorität Dehn’s hin nachgeschriebene Angabe ist von Edmond van der Straeten endgiltig widerlegt. Im sechsten Bande seines Werkes La musique aux Fays-Bas“ (1882) bringt dieser holländische Musik forscher authentische Nachweise über die Familie des Componisten, die „Familie Lassus“. Der vielgereiste, an den verschiedensten Höfen gefeierte Meister, in welchem niederländische, italienische, zuletzt deutsche Ein wirkungen zusammenflossen, zeigt, gegen Palestrina gehalten, eine modernere Färbung und größere Hinneigung zu pro fanen Stoffen. Seine Madrigale waren hochgefeiert und seine scherzhaften und komischen Chöre so allgemein beliebt, daß man die ganze Gattung nach ihm „Orlandiaden“ nannte. Ihn auch von dieser Seite kennen zu lernen, würde unseren Musikfreunden zu Nutz’ und Vergnügen und dem großen Niederländer nicht zum Nachtheil gereichen. Also hoffen wir auf das Erlöschen der Influenza!

Das zusammengeschmolzene, immer noch recht bunt scheckige Programm wurde durch Sebastian Bach’s G-moll-Orgelfuge eingeleitet, welche Herr Joseph Labor klar und sicher mit Vermeidung aller unpassenden Register- Effecte ausführte. Daß übrigens Orgel-Soli im Concert saale meist einen anfremdenden, starren Eindruck hervor bringen, ist nichts Neues. Auf Bach folgte unmittel bar — Humperdinck! Seine Idee, Heine’s „Wall fahrt nach Kevlaar“ als Ballade für Soli, Chor und Or chester zu componiren, war nicht ganz so glücklich, wie der Einfall mit Hänsel und Gretel. Der Text ist überall sinn getreu behandelt, aber stark auseinandergezogen und aufgebauscht, um dem Stück zu anständiger Concert länge zu verhelfen. In dem sinnlichen Ausmalen geht wol der Componist mitunter zu weit. Bei der Erzäh lung, daß Mancher, der auf Krücken nach Kevlaar gewallt, „jetzo tanzet auf dem Seil“, fällt das mächtig anwachsende Crescendo mit den flink hüpfenden Violin- und Clarinett

figuren, welche diese wunderbare Verwandlung mit der An schaulichkeit von etwas Gegenwärtigem zu schildern versucht, völlig aus dem epischen Ton des Gedichtes. Ebenso das H-dur-Fortissimo des Chores und der Blechinstrumente zu den Worten: „Da lag dahingestreckt ihr Sohn, und der war todt.“ Die ganze Composition läßt uns völlig gleichgiltig; sie hat kein musikalisches Leben, weder melodische noch rhythmische Kraft. Die Singstimmen folgen mit ihrem gleichmäßigen Wechsel von Viertel- und Achtelnoten pendelartig dem Versmetrum; diesen blutleeren Gesang glaubt der Componist prächtig aufzufrischen durch eine gekünstelte Orchester-Begleitung, welche geschäftig mit kleinen Imitationen, Figurationen und wechselnden In strumenten experimentirt. Deutsche Erbsünde. Mit solcher peinlichen Filigranarbeit im Orchester rettet man keine Melodie, in der nichts steckt. Nicht Ein Tact offenbart schöpferische Kraft; die „Wallfahrt“ trägt ebenso wenig einen persönlichen Stempel, ebensowenig eine charak teristische Physiognomie, wie Humperdinck’s kurz zuvor auf geführte „Humoreske“. Es mangelt diesem Componisten bei großer technischer Geschicklichkeit durchwegs an eigener Er findung. Und das ist entscheidend. Als der gefeierte Jo melli in einem Streit über das Talent Piccini’s den Ausschlag geben sollte, that er es mit dem feierlichen Aus rufe: „Questi è inventore!“ Mit diesen drei Worten dachte der ältere Meister, seiner Bewunderung für Piccini den kräftigsten Ausdruck zu leihen. In der That hat er damit das Wesentliche der künstlerischen Production, das in der Musik mehr als in jeder andern Kunst ein fortwährend Neuesschaffen und Erfinden ist, treffend bezeichnet. Wer in der Musik kein „Erfinder“ ist, wem die geheimnißvolle Kraft versagt, in Tönen und aus Tönen selbstständig Schönes, Neues zu schaffen, der kann ein technischer Virtuose, ein geistreicher Experimentator werden — ein musikalisches Genie nimmermehr. Die „Wallfahrt“ und die „Hu moreske“, in denen erst der richtige, persönliche Humper dinck sich uns präsentirt, ohne Hänsel und Gretel, kinderlos, melodienlos — sie haben die Vermuthung be stätigt, die ich nach seiner Oper über den Umfang seines Talents auszusprechen wagte. Damit war ich weit entfernt, Werth und Wirkung speciell von „Hänsel und Gretel“ zu

unterschätzen. Ich gehöre nicht zu den „Thoren“, denen, nach Goethe, niemals einfällt, „wie sich Verdienst und Glück verketten“. Die neue Idee, ein Kindermärchen mit bekannten Kinderliedern zur Oper zu machen, das war das „Glück“; im raschen Ergreifen und Ausführen lag das „Verdienst“. Die beiden Elemente sind hier nicht mehr zu trennen; sie verschmelzen sich zu dem „Stein der Weisen“: dem Erfolg. Was hat nicht noch Alles beigetragen zu diesem ungeheuren Erfolg! Welcher Glücksfund für alle großen und kleinen Bühnen: eine Oper ohne Tenor, ohne dramatische Prima donna, ohne Costümprunk und mit zwei Kinderrollen, um welche sich die jungen Sängerinnen raufen! Trotzdem bleibt es dabei, daß die nicht von Humperdinck componirten Kinder lieder die ganze melodische Essenz seiner Oper ausmachen und alles Uebrige geschickte Nachbildung Wagner’scher Decla mation und Instrumentirung ist. Nein, Humperdinck ist kein „Inventore“. ... Die von Director Gericke sorgfältig einstudirte „Wallfahrt nach Kevlaar“ erfreute sich der sehr lobenswerthen Mitwirkung von Fräulein Josephine Statzer und Herrn Dippel.

Herr Hugo Becker — ein so eminenter Künstler, daß ihn zu loben weder nothwendig noch schicklich ist — spielte ein Violoncell-Concert von Haydn. Mit einer so ver alteten, nüchternen Gelegenheits- oder Gefälligkeits-Compo sition wird es dem besten Violoncellisten schwer, Effect zu machen. Das sind lauter Gedanken und Nichtgedanken, die hundertmal von Papa Haydn ausgesprochen und seither durch Tausende von Händen gegangen sind. Kein glänzendes Orchester-Zwischenspiel erweckt uns aus dem leichten Schlum mer dieser Violoncell-Solos, keine energisch contrastirende Stimmung hebt die einzelnen Sätze von einander. Gewiß, die dankbarsten Verehrer von Haydn’s Quartetten werden eingestehen, daß wir diesem Violoncell-Concert entwachsen sind, welches weder Pietät noch Virtuosität zu neuem Leben erwecken können. ... Die Besucher des Gesellschaftsconcerts, denen das Wasser der Langweile bereits ziemlich hoch an den Hals stieg, wurden erst ganz zuletzt durch Brahms starke Faust herausgezogen. Man gab ihnen den ersten Satz — leider nur den ersten — des „Triumphliedes“, das, ein Monument erstaunlicher Kunst und patriotischer Begeisterung, in fernste Zeiten hineinragen wird.