Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Nr. 11121. Wien, Sonntag, den 11. August 1895 Hanslick, Eduard Wilfing, Alexander FWF Der Wissenschaftsfond.
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Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Herausgegeben von Wilfing, Alexander Projektmitarbeiterinnen Bamer, Katharina Pfiel, Anna-Maria Elsner, Daniel Austrian Centre for Digital Humanities and Cultural Heritage Wien 2024

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Maschinenlesbares Transkript der Kritiken von Eduard Hanslick.

Nr. 11121. Wien, Sonntag, den 11. August 1895 Hanslick, Eduard Neue Freie Presse Morgenblatt Herausgegeben von Etienne, Michael Friedländer, Max Wien
font-style:italic; font-weight:bold; Deutsch Transkribus OCR und Lektorat. Transformierung der Daten des Transkribus TEI-Export mit "editions.xsl". Formatierung und Referenzen eingefügt. Letztkorrektur für Zwischenrelease.
Neue Bücher über Musik. II. (Spitta. F. Pfohl. Moszkowski.)

Ed. H. Rasch nacheinander mußten wir jetzt zwei Männer verlieren, welche, jeder von einem anderen End punkte vordringend, die musikalischen Kenntnisse der Gegen wart rühmlichst vermehrt und vertieft haben: Helmholtz und Spitta. Schwerlich dürfte heute unter den Ueber lebenden sich Jemand zutrauen wollen, Ersatz zu bieten für einen dieser beiden Forscher. Helmholtz war die genialere Natur; nicht blos ein Erleuchter, sondern ein Entdecker, ein Schöpfer. Als Naturforscher beherrschte er ein ganz erstaunlich weites Reich, in welchem die Musik nur eine Provinz bedeutete neben der Optik, der Nervenphysiologie und anderen Wissenschaften. Gegen diese universelle Thätig keit erscheint Spitta’s Arbeitsfeld enger begrenzt; neben Helmholtz’ sprühendem Feuergeiste leuchtet Spitta’s Licht in bescheidenerem, milderem Scheine. Für die Musikwissen schaft hatte Helmholtz mit seinem grundlegenden epoche machenden Werke über die Tonempfindungen abgeschlossen: die Arbeit seiner letzten dreißig Jahre gehörte anderen Zweigen der Naturwissenschaft. Spitta hingegen ist bis zum letzten Athemzug für die Tonkunst, und nur für diese, thätig geblieben; sein letztes Buch erschien wenige Tage nach seinem Tode. Es heißt „Musikgeschichtliche Aufsätzeund bildet eine Art Fortsetzung seines im vorigen Jahre hier besprochenen Sammelwerkes: „Zur Musik“. Die zwölf Essais in diesem Buche gehören zu dem Gediegensten, auch in der Form Vollkommensten, was wir Spitta verdanken. Für einen großen Leserkreis und auf sensationelle Wirkung sind sie nicht berechnet: aber was immer Spitta schreiben mochte, wir legen es mit dem dankbaren Glücksgefühl aus der Hand, etwas gelernt zu haben. Und gerade das ist in der heutigen Musik-Schriftstellerei äußerst selten. Vielen Lesern wird dieses Buch sogar sympathischer sein, als Spitta’s berühmte zweibändige Bach-Biographie, die wir (zumal gegen Jahn’s „Mozart“ gehalten) mehr ein un fehlbares Nachschlagebuch nennen möchten, als eine fesselnde

Lectüre. So ungewöhnliche Breite und Ausführlichkeit mußte ohne Frage einem Buche gestattet sein, das seinen Gegenstand nach allen Seiten hin vollständig erledigt und durchgehends auf eigener mühevoller Forschung beruht. Trotz dem mochte diese Breite im Zusammenhang mit noch einem andern charakteristischen Zug ihm manchen Leser stellenweise entfremden. Ich meine das stark ausgesprochene protestantisch- religiöse Pathos, das mitunter das rein Musikalische über tönt. Spitta ist nicht umsonst der Sohn eines geistlichen Liederdichters, des frommen Sängers von „Psalter und Harfe“. Pries er doch in der Vorrede zu seiner Bach- Biographie als einen Charakterzug unserer Zeit, daß sie „von neuem festeren kirchlichen Formen zustrebt“. Die „Zeitigung der Keime, aus denen die Musik neuen Idealen entgegenwächst“, erwartet er nur von der Reli gion. Ja, er geht, auf die deutschen Siege von 1870 an spielend, so weit, zu behaupten, daß „mehr noch als jene glänzenden politischen Errungenschaften die mächtigen religiösen Bewegungen, welche das tiefste Wesen unseres Volkes aufwühlen, das Herannahen einer neuen großen Zeit verkündigen“ — eine Anschauungsweise, in die wir uns nicht einzuleben vermögen. Daß Spitta noch zwanzig Jahre später nicht nachgelassen hat in emsiger Erforschung Bach’s, bezeugen auch drei „Bachiana“ überschriebene Auf sätze in dem neuen Buche. Darin ist unter Anderm erzählt, wie Bach eine für den Fürsten von Anhalt componirte dramatische Neujahrs-Serenade später zu einer Kirchen- Cantate („Ein Herz, das seinen Jesum lebend weiß“) um gestaltet hat — eines der sehr vielen Beispiele, welche in einseitiger Hervorhebung des religiösen Ausdrucks bei Bach und Händel zur Vorsicht mahnen. Das Studium Bach’s lenkte Spitta’s Forschungen überwiegend zu der Musik des 17. und 18. Jahrhunderts. Brahms aus genommen, dem er (1892) eine gründliche liebevolle Studie gewidmet hat, bezeichnen Spohr, Loewe und Schumann so ziemlich die Grenze, bis zu welcher Spitta’s Betrachtungen an die Gegenwart hinanreichen. Die neuesten Strömungen der Musik ließ er beiseite und vermied es, über Wagner und die Zukunftsmusik, die ihm unsympathisch waren, sich öffentlich auszusprechen. Eine ruhige Gelehrtennatur, hat Spitta daran wohlgethan, seine ernste productive Arbeit sich nicht durch kleinliche Guerillakriege unterbrechen zu lassen. Die Wagnerianer, welche durch einen ihrer Vorreiter das letzte Buch Spitta’s beiseite schieben ließen, weil der

Name Wagner nur vier- bis fünfmal darin vorkam, werden sich von dem neuen Werke noch viel mehr „gelangweilt“ fühlen, denn nur ein einzigesmal (in dem Schumann-Artikel) wird Wagner als Schriftsteller flüchtig erwähnt.

Der erste, zugleich längste der „Musikgeschichtlichen Auf sätze“ handelt von Heinrich Schütz. Bekanntlich hat Spitta dessen Tonwerke in 16 Bänden herausgegeben und sich damit ein unvergängliches Verdienst geschaffen. In der vorliegenden Abhandlung weist er nach, wie H. Schütz, dessen eigene Kunst tief in die italienische eingewurzelt war, durch seine concertmäßigen Compositionen wol eigentlich den deut schen Musikstyl des 17. Jahrhunderts bestimmt hat. Als Vermittler zweier Kunstperioden von fundamentaler Gegen sätzlichkeit, hat Schütz einen schweren Stand gegenüber dem Verständniß unserer Zeit; dennoch hofft Spitta, das nächste Jahrhundert werde das Genie dieses Meisters vollständig erkennen und innerlich ganz sich wieder aneignen. Eine un schätzbare Quelle des Studiums ist uns in Schütz erschlossen; ob auch eine Musik von unmittelbarer, allgemeiner Wirkung, möchten wir bezweifeln. Diesem Großen stehen zwei Größere im Wege: seine Nachfolger Händel und Bach. Vortreffliche, mehr für einen engeren, gelehrten Leserkreis berechnete Aufsätze behandeln „Die Anfänge der madrigalischen Dichtung in Deutschland“, „Die Musikalische Societät zu Mühlhausen im 17. Jahrhundert“ und drei kleinere Beiträge zur Bach-Biographie. In dem Aufsatze über Hunold wird anschaulich gezeigt, wie die Poesie sich damals im Schlepptau der Musik befand und selbst in der kleinsten Form, im Liede, abhängig von dieser. Es ist ein überraschend wahrer und geistreicher Aus spruch Spitta’s, daß es einer gründlich unmusikalischen Person bedurft hat, um die Poesie endlich aus den Banden der Musik zu befreien. Gottsched war eine solche, und unter seinen Verdiensten um das Gedeihen einer selbst ständigen deutschen Poesie ist diese negative Eigenschaft keines der geringsten, daß er gegen den in der Verbindung von Tonkunst und Dichtkunst liegenden Reiz ganz unempfindlich war. Werthvolle Aufschlüsse enthält der Aufsatz über Ri naldo von Capua und dessen Oper „Die Zigeunerin“. Fast alle Compositionen dieses vielgenannten Meisters scheinen aus der Welt verschwunden; trotz seiner wahrschein lich nahen Beziehungen zu Wien besitzt unsere Hofbibliothek kein Werk von ihm. Darum ist doppelt interessant, was wir hier von Rinaldo’s Intermezzo, „La Zingara“, erfahren,

das 1752 von einer italienischen Truppe in Paris gegeben wurde. Darin befindet sich die allbekannte Ariette „Tre giorni“, welche Pergolose zugeschrieben wird, aber nach Spitta’s Nachweis von Rinaldo ist. Einen werthvollen Ein blick in den deutschen Hausgesang im 18. Jahrhundert er öffnet uns der Aufsatz: Sperontes, „Singende Muse an der Pleiße“. Der weltliche Hausgesang vom Beginn des 18. Jahr hunderts ist ein fast unbekanntes Gebiet; wir wissen viel mehr von dem Haus- und Gesellschaftsgesang des 16. Jahr hunderts. Eines der beliebtesten Gesangbücher war das oben genannte von Sperontes, das, 1736 in Leipzig erschienen, 100 Oden enthielt. Dies sind Gedichte, welche zu bereits vorhandenen Musikstücken gemacht oder ange paßt waren. Wer der pseudonyme Dichter „Spe rontes“ eigentlich gewesen, war bis heute unbekannt oder streitig. Nach Spitta’s sehr genauer Beweisführung hieß der Mann Johann Sigismund Scholze und ist als Advocaten schreiber 1750 in Dürftigkeit gestorben. Die culturgeschicht liche Bedeutung seiner „Singenden Muse“ liegt darin, daß sie uns über 200 kleine Musikstücke aufbehalten hat, welche in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts für Leipzig und Mitteldeutschland dasjenige waren, was man vor 50 Jahren bei uns „Favoritstücke“ zu nennen pflegte. Anknüpfend an Elben’s bekanntes Buch, gibt Spitta einen kurzen Abriß der Geschichte des Männergesanges in Deutschland. Er leugnet mit Recht jeden Zusammenhang desselben mit dem Minne- und Meistergesang. Unsere heutigen Männer gesang-Vereine wurzeln vollständig in dem neuen Aufschwunge, welcher am Ende des vorigen Jahrhunderts Wissenschaft, Kunst und Nationalbewußtsein in Deutschland nahmen. Spitta lobt die Studenten-Gesangvereine, welche ihrem Sang bis heute einen besonderen Charakter von Frische und Ursprünglichkeit bewahrt haben, und will nichts wissen von den Männer-Massengesängen. Das Lied bleibt die Grundform des Männergesangs. „Ein Unding nennt es Spitta, für den Vortrag solch kleiner Kunst gebilde einen großartigen Apparat aufzustellen.“ Zwei biographisch-kritische Aufsätze beschäftigen sich mit dem französischen Musikschriftsteller George Kastner und dem Schweizer Componisten Schnyder v. Wartensee. Ein noch allgemeineres Interesse dürften die beiden letzten Ab handlungen erregen, welche übrigens aus Rodenberg’s Deutscher Rundschau“ bereits einem größeren Leserkreis

bekannt sind: „Die Ballade“ und „Robert Schumann’s Schriften“. Mit der gewissenhaften Vollständigkeit, die den Verfasser überall auszeichnet, verbindet er in seiner Würdi gung des Balladen-Componisten Karl Loewe und des Schriftstellers Robert Schumann eine besonders wohl thuende, nicht gewöhnliche Wärme des Ausdrucks. Ich nehme Abschied von Spitta’s reichhaltigem letzten Buche, dankbar, aber zugleich schmerzlich bewegt. Wie Schönes und Großes dürften wir von dem Manne noch erwarten, den in der Blüthe männlicher Kraft, auf der Höhe seines Schaffens der Tod ereilt hat!

Ich hätte darauf verzichten müssen, Spitta’s neues Buch unseren Lesern zu beschreiben und zu empfehlen, wenn es dem gelehrten Verfasser beigefallen wäre, Jedem, der nicht Musiker von Fach ist, ein Urtheil darüber abzusprechen. Eine solche Verwahrung hat meines Wissens auch noch kein Musikschriftsteller an die Spitze seines Buches gestellt. Es war Herrn Ferdinand Pfohl vorbehalten, vor seine Kritiken sammlung „Die moderne Oper“ (Leipzig, 1894) die Warnungs tafel aufzustecken: Nichtmusikern ist hier der Eintritt ver boten! Er erhebt im Vorwort sehr nachdrücklich den An spruch, es sollen sein Buch „die sämmtlichen deutschen Nichtmusiker zwar lesen, aber nur die Musiker darüber sprechen, darüber richten“. Daß nur musikalische Kenntnisse — je mehr und tiefer, desto besser — zum Ur theil über Musik und Musikliteratur berechtigen, ist so selbst verständlich, daß es Herrn Pfohl gewiß nicht einfallen konnte, dies in Form einer ausdrücklichen Verwahrung eigens her vorzuheben. Was er sagen will und auch meint, ist offen bar dies, daß nur Fachmusikern im engeren Sinne, schaffenden oder ausübenden Tonkünstlern über seine Opernkritiken ein Urtheil zusteht. Da mir leider mein Beruf nur die Feder in die Hand gedrückt, nicht aber ein Clarinett in den Mund gesteckt oder ein Violoncell zwischen die Beine geklemmt hat, so darf ich, ohne Auflehnung gegen Herrn Pfohl’s Verbot, hier nichts über sein Buch sagen. Und doch muß dasselbe, nach jener stolzen Verwahrung zu schließen, offenbar wichtige Entdeckungen technisch-musikalischer Natur und nur den Eingeweihten zu gängliche Formgeheimnisse enthüllen, die man den Lesern nicht unterschlagen darf. So schickte ich denn das Buch ver schiedenen Fachmusikern mit der Bitte um ihr Votum zu. Zuerst einem unserer ersten Capellmeister. Er antwortete,

daß das Buch keinerlei Aufklärung über die Zusammen stellung und Leitung eines Orchesters, über die Technik der einzelnen Instrumente, über streitige Tempi oder Vortrags zeichen, überhaupt nichts enthalte, was speciell an die Kennt nisse oder Erfahrungen eines Orchester-Dirigenten appellirt. Mit ganz analogen Antworten erhielt ich das Buch zurück von einem Primgeiger, einem Flötisten, einem Clavier virtuosen, einem Orgelspieler. Ich wendete mich nun an einen berühmten Sänger und Gesanglehrer. Er bedauerte, von Herrn Pfohl nichts über Stimmbildung und Vortrag gelernt zu haben, könne aber die Vermuthung nicht unter drücken, daß ein so schrankenlos für Wagner schwärmender Autor nicht viel vom Gesang verstehen dürfte. Jetzt blieb mir als letzte Instanz nur noch ein hochgeschätzter Componist meiner Bekanntschaft. Seine Antwort klang etwas gereizt: ich könne es ohneweiters meinen Lesern zu beurtheilen überlassen, ob Pfohl’s „Moderne Oper“ ein wirklich eminent musikwissenschaftliches, an tech nische Kenntniß appellirendes Werk sei oder nicht, vielmehr eine für junge Wagnerianerinnen bestimmte Blüthensamm lung? Ich möge nur einige beliebige Stellen daraus citiren, zum Beispiel folgende aus dem Vorwort: „Licht strahlen aus fernem, räthselhaftem Aether zaubern auf unsere Netzhaut das flimmernde Bild eines Sternes hervor, obwol der Lichtborn, dem sie entquollen, längst versiegt und der Fixstern, der sie einst in den unendlichen Weltraum ent sendet, seit Aeonen erloschen ist. Ist die moderne Oper nicht ein Märchen, jenen Sternen zu vergleichen, jenen schönen optischen Täuschungen, die uns eine Gegenwart glauben machen wollen, während hinter ihren Lichtstrahlen, diesen letzten Zuckungen einer sterbenden Welt, die öde Leere des ungeheuren Nichts gähnt und das „Es war einmal“ der Vergangenheit sich verbirgt? ... Das Alpha und das Omega der modernen dramatischen Musik im Sinne der eindringlichsten Ausdrucksfähigkeit, des tiefsten, wahrsten und innerlichsten, von aller Convention losgelösten Empfindens unserer Zeit, im Sinne einer vollständig ursprünglichen, lediglich aus ihrem Inhalt herausbestimmten Formengebung ist das Musikdrama R. Wagner’s. Es existirt in der gesammten Kunst des neunzehnten Jahr hunderts (Goethe’s „Faust“ ausgenommen) kein Werk großen Styls, das mit seinen der wunderbar innigen Ver einigung des großen Dichters, des großen Musikers und des

tiefen Denkers entstammenden Accenten in ähnlicher Weise den innersten Lebensnerv unserer Zeit berührt, wie Wagner’s Nibelungen“, dieses gigantische, erschütternde, eine Welt in Trümmer schlagende und eine neue Welt gebärende Werk.“

So habe ich denn, mich selbst versteckend, die von Herrn Pfohl verlangten Fachmusiker und schließlich ihn selbst sprechen lassen. Ich denke, man kann nicht loyaler vorgehen.

Sträflicher Undank wäre es, wollte ich eines geist reichen und liebenswürdigen Musikschriftstellers vergessen, der mich nach so mancher ernster, auch schwerfälliger und langweiliger Lectüre in helle Fröhlichkeit versetzt hat: Moriz Moszkowski. Er hat sich mit zwei neuen Büchlein eingestellt. In „Anton Notenquetschers lustigen Fahrten“ wechselt Poesie mit Prosa. Unter den musikalischen Gedichten glänzt „Meine Weihnachts bescheerung“ durch eine fast abenteuerliche Reimvirtuosität; unter den prosaischen Humoresken „Die räthselhafte Pia nistin“. Höchst ergötzlich sind ferner die „Reichsmusikalischen Zukunftsbilder“ vom Jahre 1910, welche uns die Verstaat lichung der Musik in allen Zweigen vorführen, und vieles Andere. „Anton Notenquetschers heitere Dich tungen“ (so heißt das zweite Buch Moszkowski’s) be schränken sich durchaus nicht auf musikalische Stoffe; ja unter den nichtmusikalischen finden wir die witzigsten der ganzen Sammlung. Drei kleine Proben aus den „Liedern der Unliebe, frei nach Heine, im Geiste Tolstoi’s“ mögen für die übrigen sprechen:

1. Auf Flügeln des Gesanges, Kätinka, jag’ ich dich fort, Fort nach den Fluthen des Gesanges. Ich bitte dich, bleibe nur dort! Und läßt du dich je wieder sehen Vor meinem strafenden Blick, So treib’ ich dich mit dem Bambus Nach Indien zurück.

2. Nur Einmal möcht’ ich sie sehen Und sinken vor ihr aufs Knie Und sprechen: „Sie glauben gar nicht, Wie wohl mir ist ohne Sie!“

3. Du bist wie eine Distel, so häßlich, eklig und rauh, Du bist, mit Einem Worte, das Ideal einer Frau. Mit ist, als ob ich die Hände aufs Haupt dir legen müßt’, Betend, daß Gott dich erhalte so unbeliebt wie du bist!