Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Nr. 11207. Wien, Dienstag, den 5. November 1895 Hanslick, Eduard Wilfing, Alexander FWF Der Wissenschaftsfond.
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Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Herausgegeben von Wilfing, Alexander Projektmitarbeiterinnen Bamer, Katharina Pfiel, Anna-Maria Elsner, Daniel Austrian Centre for Digital Humanities and Cultural Heritage Wien 2024

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Maschinenlesbares Transkript der Kritiken von Eduard Hanslick.

Nr. 11207. Wien, Dienstag, den 5. November 1895 Hanslick, Eduard Neue Freie Presse Morgenblatt Herausgegeben von Etienne, Michael Friedländer, Max Wien 05.11.1895
font-style:italic; font-weight:bold; Deutsch Transkribus OCR und Lektorat. Transformierung der Daten des Transkribus TEI-Export mit "editions.xsl". Formatierung und Referenzen eingefügt. Letztkorrektur für Zwischenrelease.
Carl-Theater. („Der Apotheker.“ Komische Oper von Joseph Haydn. Aufgeführt im Carl-Theater zum Vortheile der Allgemeinen Politklinik.)

Ed. H. Mit dem „Apotheker“ haben wir nicht blos ein neues Stück kennen gelernt, sondern auch einen neuen Mann: den Operncomponisten Joseph Haydn. In dieser Eigenschaft war der Tondichter der „Schöpfung“ den ver sammelten Zuhörern, ja auch deren Eltern und Großeltern höchstens dem Namen nach bekannt. Haydn’s Opern — er hat deren 19 geschrieben — sind längst so gut wie ver schollen. In Fink’s „Geschichte der Oper“ (1838) kommt nicht einmal sein Name vor. Schon zu seinen Lebzeiten wurden Haydn’s Opern wenig gegeben, noch weniger ge feiert. Er selbst lehnte ein Ansuchen der Prager Theater- Direction mit der Motivirung ab: „weil alle meine Opern zu viel an unser Personale (zu Esterhaz in Ungarn) ge bunden sind und außerdem nie die Wirkung hervorbringen würden, die ich nach der Localität berechnet habe“. Man täuscht sich gern, aber vergeblich mit der An nahme, Haydn’s Opern seien blos verdunkelt durch den Glanz seiner Symphonien und Quartette, der Schöpfung“ und „Jahreszeiten“. Nein, auch völlig frei von jeder bedrückenden Nachbarschaft, geben diese Opern nur ein sehr bescheidenes Licht, und dieses Licht ist größten theils ein abgeleitetes. Der unsterbliche Schöpfer unserer modernen Symphonie und Kammermusik, er ist als Opern componist ein Nachahmer der Italiener. Als ich mit all der Liebe und Ehrfurcht, die ich für Haydn empfinde, zum erstenmale in der Hofbibliothek seine Opern studirte, gerieth ich in eine Art trostloser Verwunderung. Die Wiener Hofbibliothek besitzt außer dem gestochenen Orfeo noch folgende Opern von Haydn in geschriebenen Partituren: Alessandro il Grande, Armida, Roland, l’Isola disabitata, Il mondo della Luna, La vera constanza, l’Incontro improviso. Zuerst seine berühmteste, für London geschriebene Oper „Orfeo“, die einzige, von der eine gestochene Partitur (bei Breitkopf) existirt. Nur wenige Stücke darin erheben sich über das Niveau der italienischen Tagescomponisten jener Zeit. Alles

weichlich, süß, von Rouladen schier erdrückt, ein wahres Castrum doloris der dramatischen Musik. Daß Haydn seine Arien meistens sorgfältiger instrumentirt und harmonisirt, bietet uns wenig Ersatz für die Dürftigkeit ihrer Erfindung. Die naive Sinnlichkeit und Leidenschaft eines echten Italieners bewegt uns doch stärker, als so ein italienisch costümirtes deutsches Phlegma. Gluck’s „Orfeo“ steigt durch die Vergleichung in fast unabsehbare Höhe. Eine aus Haydn’s ruhmvollster Zeit stammende Oper, wie dieser „Orfeo“, mußte auf talentlose Nachahmer die bedenklichste Wirkung üben. Sie wähnten, eine dramatische Neuheit zu schaffen, indem sie ihren deutschen Schlafrock pomphaft mit italienischem Flitter behingen. Haydn’s dramatische Werke sind übrigens ohne Nach wirkung geblieben. Hingegen hat der Charakter seiner übrigen Musik, der anmuthige Fluß und naive Humor in den Sym phonien und Quartetten ohne Frage eingewirkt auf die jüngeren Operncomponisten seiner Zeit: auf Dittersdorf, Wenzel Müller, Weigl, Kauer. Dieser günstige Einfluß ist, mitunter bis auf directes Anlehnen, nachweisbar. Wie Haydn’s Orfeo“, so enthält auch seine große Oper „Armida“ (insbeson dere der im Zauberhain spielende dritte Act) musikalisch reizvolle Nummern, mit denen man wol eine Concert-Aufführung wagen könnte. Auf dem Theater hatten beide, von Haydn selbst bevorzugte Werke keinen nachhaltigen Erfolg. Er mußte noch bei Lebzeiten seine Opern vollständig erdrückt sehen von denen seiner jüngeren deutschen, französischen und italieni schen Zeitgenossen. Die relativ größte Verbreitung und Zu neigung hat von allen Haydn’schen Opern noch sein Orlando Paladino“ gefunden, besonders in der deutschen Bearbeitung als „Ritter Roland“. In Wien, in Graz, Brünn, Dresden, Berlin, Mannheim und Frankfurt er götzte man sich an diesem kindischen Ritterstück und seinem Durcheinander von possenhafter Komik und sentimentalem Pathos. Dicht neben einer tragischen Arie Angelica’s im italieni schen Coloraturstyl steht eine derb komische des Tenor buffo Pasquale („Hätt’ ich einen Schöpfenbraten, wär’ mein Hunger bald vorbei!“). Auf die Zornesrouladen des Tyrannen Medoro folgt wieder ein Possenduett auf „a, e, i, o, u“. In ihrer Verzweiflungsarie („Gib mir Ruh’ im

kühlen Grab’“) singt Angelica auf das Wort „Grab“ sieben ganze Tacte Rouladen und schließt mit dem hohen C und D. Roland, der Titelheld, ist vollends eine Art Gesangs- Holofernes („Ich möchte in Gewittern den Erdball zer splittern, das Weltall erschüttern“). Das Ganze also eine tragisch-heroische Oper mit eingelegtem Casperl. Haydn war kein dramatischer Componist. Und doch explodirt in seinen Oratorien stellenweise eine eminent dramatische Kraft; man denke an das Winzerfest und die Jagd in den „Jahres zeiten“! Im Rahmen des Oratoriums fühlte sich Haydn frei, war er ganz er selbst; sobald er das Theater betrat, verfiel er der conventionellen italienischen Schablone. Am empfindlichsten im pathetischen Styl. Sein Naturell neigte entschieden zur Heiterkeit, zu Frohsinn und Scherz. Darum singt auch der Hanswurst Pasquino überzeugender, als sein großartig edler Ritter Roland, und wirken Haydn’s komische Opern, soweit wir sie kennen, echter und indivi dueller, als die tragischen. Charakteristisch für Haydn war seine Vorliebe für die komischen Singspiele von Wenzel Müller. Wie Hummel erzählt, ist Haydn oft von Eisenstadt nach Wien gefahren, um Müller’s „Sonntagskind“ zu hören, das er als ein in seiner Art classisches Werk bezeichnete. Der Apotheker“ — zu dem ich auf diesem Umwege gelangen mußte — beweist Haydn’s Begabung für das komische Singspiel. Indem C. F. Pohl im zweiten Bande seiner Haydn-Biographie (1882) den „Apotheker“ die einzige von allen Haydn’schen Opern nannte, „welche zum Versuch einer Wiederbelebung zu empfehlen wäre“, hat er wol die erste Anregung zu dieser Wiederbelebung gegeben. Danken wir auch Herrn Hirschfeld, welcher die Oper aus dem Ita lienischen fließend übersetzt und ihre drei Acte sehr zweck mäßig in Einen zusammengezogen hat.

Titelheld unserer Oper ist der Apotheker Sempronio ein bornirter Alter, der, nach Gewohnheit aller Lustspiel vormünder, sich um Herz und Hand seiner schönen Nichte Griletta abzappelt. In diesem Unternehmen wird er von zwei jungen Leuten gehindert, die Beide in Griletta ver liebt sind. Der Eine ein reicher Geck, Namens Volpino, der Andere, Mengone, ein schüchterner Jüngling, der Griletta zuliebe als Lehrling bei dem Apotheker eingetreten

ist. Die beiden Nebenbuhler, sowol der begünstigte Mengone als der verschmähte Volpino, benützen die Leichtgläubigkeit des passionirten Zeitungslesers Sempronio, um ihm aller hand Possen zu spielen. Zuerst erscheinen sie als Notare, um Sempronio’s Heiratscontract aufzusetzen, dann kommt Volpino als türkischer Pascha. Verkleidungen sind ja die Hauptsache in einer richtigen Opera buffa; und immer wird bei dem Gefoppten eine schier unmögliche Dummheit und Blindheit vorausgesetzt. Natürlich führt schließlich der glückliche Mengone die Braut heim. Diese Handlung, die sich im Apothekerladen abspielt, entwaffnet uns durch die Anspruchslosigkeit ihrer possenhaften Komik. Dem Componisten bot sie manche dankbare Situation und hübsch charakterisirte Personen. Die Musik leuchtet von naiver Heiterkeit und Anmuth. Im Styl der italienischen Buffo-Oper gehalten, bei übrigens mäßigem Coloratur- Aufputz, ist sie dem von uns gekannten deutschen Haydn nicht unähnlich, nicht unwürdig. Glücklich erfunden und von solider Meisterhand ausgeführt, sind die (im Original als Finale dienenden) Ensemble-Nummern: das Quartett mit den beiden falschen Notaren und die durch einen kleinen Männerchor verstärkte Türkenscene. Von den Arien muthen uns am freundlichsten die erste des Mengone und die des Sempronio an.

Haydn’s „Apotheker“ hat uns ein ruhiges Vergnügen bereitet. Heutzutage sind wir recht dankbar für anspruchs losen Frohsinn selbst altmodischer Façon, seitdem so selten eine Oper auftaucht, die nicht mit dem Kopfe an die Wolken stößt und mit den Füßen im Blute watet. Zum Repertoire stück eines großen Opernhauses taugt freilich der allzu be scheidene „Apotheker“ nimmermehr. Mit seiner kindischen Handlung, seinen gemächlichen Tempos, seinen gleichmäßigen Rhythmen und Harmonien, seiner dürftigen Instrumen tirung vermag er ein modernes Publicum nicht zu fesseln. Diese Musik hat weder Gegenwart noch Zukunft, aber ein buntes, lebendiges Bild der Vergangenheit rückt sie uns vor Augen. Drei bis vier Aufführungen des „Apotheker“ wür den unserem Hofoperntheater wahrlich nicht geschadet haben, das jetzt, bei bedenklichen Lücken im Personalstand und im classischen Repertoire, förmlich in Monotonie einschlummert.

Der Ruhm, den Wienern zum allererstenmale Haydn als Operncomponisten vorgeführt zu haben, war doch auch nicht zu verachten. Freilich bedarf Haydn’s in Text und Musik vielfach veraltete Oper, um heute zu wirken, einer so vortrefflichen Aufführung, wie die vom letzten Sonntag.

Es war eine Mustervorstellung der Dresdener Hofoper im Carl-Theater. Frau Schuch-Proska und Fräulein Wedekind, Scheidemantel und Anton Erl — da ist kein Name darunter, der uns nicht lieb und vertraut wäre. Wer gedächte nicht gern der Susanne, Rosina, Rose Friquet von Clementine Proska, der liebenswürdigen, classisch geschulten Gesangskünstlerin? Im Apotheker“ hatte sie, aus Gefälligkeit für die plötzlich er krankte Chavanne, den Volpino übernommen und über raschte in der ungewohnten Rolle eines jungen Gecken auf das angenehmste durch ihr degagirtes Spiel und feinen Gesangsvortrag. Fräulein Wedekind, unsere jüngste Be kanntschaft, erfüllte als Griletta auf das schönste die Er wartungen, die sie in „Hänsel und Gretel“ so reichlich er weckt hatte. Wie schön sie den Ton ansetzt, wie musterhaft rein sie singt! Ein älterer, uns sehr werther Bekannter ist Herr Anton Erl, der den schüchternen Liebhaber Mengone mit der ihm eigenen natürlichen Grazie und Liebenswürdig keit darstellt. Im colorirten Gesang hat dieser Tenor heute noch keinen Rivalen in Deutschland. Herr Scheidemantel, be rühmt als Oratoriensänger wie in ernsten Opernpartien, ist uns zum erstenmale in einer Buffo-Rolle, als Apotheker Sem pronio, erschienen. Die ursprünglich für einen Tenor (Karl Frieberth) geschriebene Partie stellt an den Sänger und an den Schauspieler nicht geringe Anforderungen. Herr Scheide mantel löst beide Aufgaben mit überraschender Leichtigkeit und komischer Wirkung. Dieses vortreffliche Sängerquartett würdig zu unterstützen, gab sich das Orchester des Carl- Theaters die lobenswertheste Mühe. Nur in moderne Operettenmusik eingespielt, würde es die ihm neue, fremd artige Aufgabe nicht so zufriedenstellend gelöst haben, hätte es einen weniger vortrefflichen Dirigenten als Herrn General- Musikdirector Ernst Schuch an seiner Spitze gehabt. Herr Schuch mußte zu der kleinen Oper viele mehrstündige Proben halten, denn wenn auch Haydn’s Partitur keine

eigentlich virtuosen Aufgaben stellt, so fordert doch das rasch und fein anschmiegende Accompagnement der Secco- Recitation eine vollkommene Einübung. Es ist uns sehr werthvoll, die Bekanntschaft dieses gefeierten Dirigenten ge macht zu haben, welchem die Dresdener Hofoper ein hohes künstlerisches Ansehen verdankt. Gerne hätten wir sein Talent an einem größeren Werke sich bewähren sehen, aber auch im bescheidenen Rahmen offenbarte sich der Meister.

Für Wien war diese Aufführung ein Ereigniß. Hatte doch Keiner von uns mehr gehofft, jemals eine Oper von Haydn aufgeführt zu sehen! Der „Apotheker“ ist ein kleines Werk, aber es führt uns einen großen Mann in ganz eigenartiger glänzender Umgebung vor Augen: den Haydn als Operndirector des Fürsten Esterhazy im Schlosse Esterhaz. Der bloße Anblick des Theaterzettels macht die wunderlichsten Erinnerungsbilder in uns lebendig. Das prachtvolle Esterhaz, mit seinem Schloß und Park, das der Fürst aus einem Sumpfe in ein zweites Versailles verwandelt hatte; das Schloßtheater, dessen Vorstellungen die höchste Aristokratie Oesterreichs und Ungarns versammelte; ihm gegenüber die Grotte mit dem berühmten Marionetten-Theater, für das ja Haydn auch Singspiele componirt hat; Opernsänger und Orchester im beständigen Dienst des Fürsten; Haydn als Capellmeister von 1767 bis 1790 auf hohen Befehl alles Mögliche componirend und dirigirend! Diesen einen Luxus kennt unser reicher Adel längst nicht mehr: den musikalischen. Das Hof- und Kunstleben in Esterhaz dünkt uns als sociale und künstlerische Erscheinung in unabseh barer Ferne und liegt doch erst ein Jahrhundert hinter uns. Wir achten es als einen unverhofften großen Gewinn, in Haydn’s „Apotheker“ einen lebendigen Ausschnitt jener merk würdigen Zeit angeschaut zu haben. Die Wiedererweckung des „Apothekers“ war für uns mehr als ein Curiosum; wir genossen sie als einen historischen Leckerbissen. Diese Erfahrung und diesen Genuß verdanken wir der unermüd lichen patriotischen und künstlerischen Thätigkeit der Fürstin Metternich. Nur ihr allein konnte es gelingen, die Perlen des Dresdener Hoftheaters und mit ihnen Haydn’s Oper auf eine Wiener Bühne zu zaubern. „Notre-Dame de Vienne.“