Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Nr. 11223. Wien, Donnerstag, den 21. November 1895 Hanslick, Eduard Wilfing, Alexander FWF Der Wissenschaftsfond.
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Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Herausgegeben von Wilfing, Alexander Projektmitarbeiterinnen Bamer, Katharina Pfiel, Anna-Maria Elsner, Daniel Austrian Centre for Digital Humanities and Cultural Heritage Wien 2024

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Maschinenlesbares Transkript der Kritiken von Eduard Hanslick.

Nr. 11223. Wien, Donnerstag, den 21. November 1895 Hanslick, Eduard Neue Freie Presse Morgenblatt Herausgegeben von Etienne, Michael Friedländer, Max Wien 21.11.1895
font-style:italic; font-weight:bold; Deutsch Transkribus OCR und Lektorat. Transformierung der Daten des Transkribus TEI-Export mit "editions.xsl". Formatierung und Referenzen eingefügt. Letztkorrektur für Zwischenrelease.
Hofoperntheater. („Rothkäppchen“ von Boieldieu. Neu einstudirt.)

Ed. H. Boieldieu’s komische Oper „Le petit chaperon rouge“ zählt heute etwas über 77 Jahre, wandelt also unter den heutigen Repertoirestücken als eine Respectperson von ehrwürdigstem Alter. Man hat in Wien zuletzt vor 30 Jahren ihre Wieder-Erweckung aus dem langjährigen Schlafe versucht. Damals ist sie beiweitem nicht so gut ge spielt und gesungen worden, wie von unseren heute wirken den Künstlern; hingegen kam der intimere Raum des alten Kärntnerthor-Theaters, diese heute noch nicht ersetzte werth volle Stätte der Spieloper, dem Eindruck besser zu statten. Der Erfolg jener Wiederbelebung war ein kühler Succès d’estime. Seitdem sind wieder dreißig Jahre verflossen — und was für Jahre! Wagner-Jahre, die gleich den Kriegs jahren doppelt zählen; doppelt in der Bewegungsschnelligkeit des Opernstyls wie in der musikalischen Ueberreizung des Publicums. Die Wirkung blieb, wie vorauszusehen, heute noch unter jenem Niveau von 1866. Erwartungsvoll, fast rathlos sah die junge Generation diesem Rothkäppchen entgegen, von dem die Großeltern so gern erzählt hatten. Die Jugend um mich her schien auf das bekannte alte Märchen von Perrault aufzupassen. Aber den Stoff unserer Oper liefert weder das naive Kindermärchen, in welchem der gefräßige Wolf die Hauptrolle hat, noch das künstlich lallende, alt kluge Stück von Tieck, wo allerlei Vögel poetischen Unsinn sprechen und Wolf und Hund philosophische Gespräche führen. Boieldieu’s Oper spielt nur allegorisch und paro dirend auf das Märchen an, dessen Vorgänge die mit vielen Worterklärungen gespickte Ouvertüre scherzhaft ausmalt. Hier ist Rothkäppchen („Rose d’amour“) kein kleines Kind, sondern ein achtzehnjähriges unschuldiges Bauern mädchen, das leicht unschuldig sein kann, weil sein Talisman, ein rothes Mützchen, gegen jede Anfechtung schützt. Auf dieses Rothkäppchen lauert kein Wolf, sondern ein vornehmer Verführer von Profession, der ritter

liche Baron Rudolph. Ihm fällt das Unwiderstehlichsein ganz so leicht, wie dem Rothkäppchen die Tugend, denn auch er hat seinen Talisman: einen Ring, dessen Glanz jedes Mäd chen berückt. Im Walde lauert Rudolph der Kleinen auf. Von seinem Zauberring tapfer attaquirt, wird sie von ihrem Talisman noch tapferer vertheidigt — hübscher wäre es, wenn sie sich selber vertheidigte. Beschämt über diese schmäh liche Niederlage, eilt Rudolph in die Einsiedelei voraus, wohin Röschen’s Weg führt. Er weiß den Eremiten durch List zu entfernen und erwartet nun, in dessen Kutte ver mummt, den Besuch Röschen’s. Diesmal hat der Wolf seine Beute beinahe schon erfaßt — da tritt der echte Klausner rechtzeitig als Retter ein und spricht die groß artigen Worte: „Es ist Zelindens Tochter, deine Schwester war ihre Mutter!“ Also Onkel und Nichte! Mit dieser zerschmetternden Entdeckung ist der Baron beseitigt und Rothkäppchen kann den Grafen Hugo heiraten, der als Schäfer und Tenor bereits ihr Herz gewonnen.

Die große Einfachheit der Handlung und deren Moti virung aus einer hier ganz unnöthigen und widersinnigen Zauberwelt ist unserem Geschmack sehr ferngerückt. Ins besondere für Opern-Eremiten haben wir nicht mehr das rechte Verständniß. Der im „Rothkäppchen“ ist vollends ein wunderlicher Kautz; trotz seiner zweihundert Jahre hat er ein fabelhaftes Gedächtniß, verräth aber früher nichts von der vornehmen Herkunft Röschen’s, weil sonst die Oper schon im ersten Acte ein Ende hätte. Als ein umgekehrter Samiel marschirt er jedesmal über den Hintergrund der Bühne, so oft der Tugend Gefahr droht. Offenbar stammt dieser Klausner direct von dem zaubernden Prinzen-Erzieher Alcidor aus Isouard’s „Cendrillon“ ab, sowie „Rose d’amour“, von Aschenbrödel selbst. Der Einfluß dieser Isouard’schen Oper auf Boieldieu’s „Rothkäppchen“ ver räth sich in Text und Musik; er findet auch eine historische Bestätigung in der ungeheuren Beliebtheit Aschenbrödels bei dem damaligen Pariser Publicum und dem eifrigen Bestreben Boieldieu’s, seinen Rivalen Isouard im gleichen Genre zu überflügeln.

An die Composition des „Rothkäppchen“ hatte Boieldieu, ein Künstler von peinlichster Sorgfalt, mehrere

Jahre rastloser Arbeit verwendet. Sie durften ihn nicht reuen, denn der Erfolg der Oper war ebenso glänzend, wie nachhaltig. Wir begreifen ihn vollkommen. Man denke nur siebzig Jahre zurück und stelle sich gleichsam auf den histo rischen Isolirschemel jenes Zeitpunktes, wo all die reizenden Blüthen des späteren italienischen und französischen Sing spiels noch nicht aufgebrochen waren und „Le chaperon rouge“, die eben erstiegene höchste Spitze der komischen Oper in Frankreich bezeichnete. „Rothkäppchen“ ist ein Werk von vornehmster Einheit des Styls, von feinem Geschmack, niemals trivial und überall melodiös im Charakter jener musikalischen Conversation, welche die Franzosen vor Allem lieben. Diese Musik hat etwas Akademisches, und nicht um sonst nannte man das „RothkäppchenBoieldieu’s „Discours de réception“, indem der Componist seine Aufnahme in die Akademie damit gleichsam legitimirte. Anmuth und Eleganz walten vorherrschend, die Empfindung wird nur leicht gestreift, nirgends ins Herz getroffen; die Charaktere locken als scharfgezeichnete lohnende Contouren die ausmalende Hand des Schauspielers. Neben kleinen Romanzen und Couplets (wie die allerliebsten der Nanette im dritten Act) bringt Rothkäppchen“ auch große ausgeführte Nummern, Musikstücke, welche die damaligen Normalmaße der Opéra comique („Johann von Paris“ mit eingeschlossen) beträchtlich erwei terten. Ich brauche blos an Rudolph’s Duett mit Nanette, an sein zweites Duett mit Röschen, an seine letzte Arie zu erinnern, dieselbe, die Julius Stockhausen mit Vorliebe in seinen Concerten sang. Dies Alles erschien noch gehoben durch eine feine, bewegliche Instrumentirung, welche namentlich im Ausdruck des Wunderbaren (Harfen-, Flöten- und Waldhorn-Solos) als originell und effectvoll damals gerühmt werden durfte. „Rothkäppchen“ war eben neu. Die Neuheit ist aber das wahrhafte rothe Käppchen, welches Melodien bezaubernd aussehen macht, die später ohne das Käpp chen uns recht alltäglich dünken. Das rothe Käppchen der Boieldieu’schen Oper erhielt sich lange wie neu; endlich begann doch seine Farbe den Glanz zu verlieren. Am em pfindlichsten abgeblaßt erscheinen uns heute die Chöre und die große Traumscene im zweiten Acte. Noch immer sind wir uns der künstlerischen Vorzüge dieser Oper wohl be

wußt und hören Vieles daraus, insbesondere den dritten Act, mit aufrichtigem Vergnügen. Als Ganzes hat sie die Zaubermacht über uns verloren, denn wir vermissen darin, was uns unmittelbar ergreift und festhält, was uns nicht blos freundlich anregt, sondern auch ein wenig aufregt. Wir hören heute rascher und ungeduldiger, fühlen accentuirter und energischer als unsere Vorgänger Anno 1818. Die Instrumentirung dünkt uns allzu zart und gleichförmig, die Melodie nicht warm, die Harmonie nicht reich genug. Der Puls der ganzen Oper geht uns zu langsam. Ja, wie eine artige Auseinandersetzung klingt uns mitunter, das unsere Großeltern als glühende Leidenschaft empfanden: Hugo’s und Rudolph’s Liebesergüsse sprechen mehr zu un serem Verstande, als zu unserem Herzen, und gar an dem Lockenhaupte des salbungsvollen Eremiten erblicken wir, was vor siebzig Jahren Niemand gewahrte — ein böses An hängsel. In der Original-Partitur hat der Eremit eine (hier mit Recht gestrichene) Arie, in der er sich beklagt, daß er, der Zweihundertjährige, noch immer nicht sterben kann. — Der Tondichter, welcher zuerst das gefeierte „Roth käppchen“ weit übertraf und es aus der ersten in die zweite Reihe der komischen Opern zurückwarf, war Boieldieu selbst mit sein „Weißen Frau“. Dieses sieben Jahre nach dem „Rothkäppchen“ componirte Meisterwerk steht gegen Boieldieu’s frühere Opern wie ein in Rosenfülle prangender Garten gegen eine grün angehauchte, schüchtern knospende Frühlingslandschaft.

Die Ausgrabung des „Rothkäppchen“ für Wien geschah wol kaum um des Werkes willen, das man ja nicht wieder jung und zugkräftig machen kann. Den Anlaß lieferten viel mehr die Gotha’schen Musteraufführungen unter Herzog Ernst von Coburg, bei welchen Fräulein Renard als Rothkäppchen in erster Linie glänzte. Neben den beiden einactigen Preisopern „Evanthia“ und „Rose von Ponte vedra“ brachte man dort Boieldieu’s „Rothkäppchen“ und Cherubini’s „Medea“ zur Darstellung — gleichsam um der allerneuesten Opernmode ein Stück classischer Verschollenheit entgegenzusetzen. In einem kleinen Theater, vor festlich ge stimmten Zuhörern, ausgeführt von einer Elite erster Künstler, können solche Meisterwerke von veraltetem Inhalt und Zu

schnitt noch auf einsichtsvolle, aufrichtige Theilnahme rechnen. Ein Lieblingstraum — nicht von mir allein — war von jeher eine kleine Opernbühne, eigens bestimmt für das Beste des älteren französischen und deutschen Repertoires, ein „classisches“ oder „historisches“ Operntheater, das in periodischen Cyklen grundsätzlich nur Altes bringt, etwa wie die Berliner Freie Bühne oder das Théâtre libre in Paris principiell nur Allerneuestes. Dieser Traum wird sich schwerlich je erfüllen. Aber die Festvorstellungen in Gotha gaben einen kleinen Vorgeschmack davon und ganz besonders das „Rothkäppchen“ mit Marie Renard. Schon um dieser köstlichen Leistung willen verlohnte es sich, Boieldieu’s Oper der Verschollenheit zu entreißen. Fräulein Renard mit dem rothen Käppchen über den blonden Locken sieht reizend aus, singt und spielt die Rolle ganz vortrefflich, sowol in den kindlich einfachen Scenen der beiden ersten Act, wie in dem dramatisch gesteigerten letzten Duett mit Rudolph in der Klause. Wenn vielleicht etwas dem Charakter Röschen’s und der Musik widersprach, so war es nur der gezierte, durch kokette Ritardandos und Stockungen in den Parlando stellen verkünstelte Vortrag der ersten Couplets. Die kleinere Rolle der Nanette gewann an Reiz und Bedeutung durch die liebenswürdige Persönlichkeit und den reinen, schlichten Gesang der Frau Forster. Die dankbarste, zugleich schwierigste Aufgabe ist Baron Rudolph. Herr Reich mann imponirte wie immer durch den Glanz seiner Stimme und seiner Erscheinung, aber seine Individualität reagirt gegen diese Rolle. Sie war für den berühmten Bariton Martin geschrieben, dessen hohe Bruststimme sich in einem kunstvoll ausgebildeten Falsett fortsetzte, ähnlich wie das Organ des Baritonisten Chollet, für den Herold seinen Zampa schrieb. Herr Reichmann mußte sich Vieles transponiren und manche effectvolle Stelle in dem Ensemble abändern. Allein nicht blos musikalisch, auch dramatisch liegt ihm die Rolle dieses französischen Don Juan nicht. Ein prachtvoller Hans Heiling, Holländer, Vampyr, kommt Herr Reichmann aus diesen Gestalten nie vollständig heraus. Ein düsteres Pathos und melancholisches Phlegma drückt auf seinen Vortrag, der sich zu herzhafter Frische und liebenswürdiger Anmuth nur mühsam durchringt. In der

Maske des Eremiten soll Rudolph den Anfang des Märchens ruhig, im gedämpften Erzählerton vortragen, später erst darf seine Leidenschaft allmälig hervorbrechen und den „Wolf“ verrathen. Herr Reichmann sang gleich die erste Strophe mit voller Stimmkraft und pathetischer Erregung, so wie ungefähr die letzte Strophe zu singen wäre. Noch weniger vertragen die Liebesscenen so schwere Gewichte, und wenn es selbst goldene wären. Dem Grafen Hugo, der ge sanglich und dramatisch stark hinter Rudolph zurücksteht, lieh Herr Schrödter seine süße Tenorstimme und schau spielerische Gewandtheit. Die kleineren Rollen fanden in Frau Kaulich, den Herren Reichenberg und Felix sorgfältige Darsteller. Das Orchester konnte in dieser Oper ohne Posaunen sich durch seine Schattirung und Delicatesse hervorthun. Die Tempi schienen mir manchmal zu langsam. Musikstücke, welche uns schon durch ihre vielen Wieder holungen ungeduldig machen, wie das Duett: „Mein schöner Herr, laßt euch erbitten“, vertragen dieses Schleppen am wenigsten.

Die durchwegs sehr beifällige Aufnahme der Vorstellung haben wir gestern bereits constatirt. Trotzdem wird wol Niemand das „Rothkäppchen“ für diejenige Oper erklären wollen, welche unserem Repertoire am dringendsten noththat. Von neueren französischen Opern warten Delibes Lakmé“ und Bizet’sDjamileh“ seit Jahren auf eine Wiener Aufführung; von älteren sind der „Schwarze Domino“, die „Stumme von Portici“ und andere mit Un recht vergessen. Ja, es dürften auch „Fidelio“, „Oberon“, Euryanthe“ bei uns bald zu den verschollenen Opern ge hören. Sie fehlen auf keiner andern deutschen Bühne. „Es mangeln uns dafür die geeigneten Sängerinnen“ — so heißt es immer. Nun, so muß man sie suchen, ernsthaft und eifrig suchen und für Wien gewinnen. Es gibt kaum eine deutsche Sängerin, die nicht gern ans Hofoperntheater käme. Man hat Fräulein Mora engagirt, welche sowol die Rollen der Lola Beeth (Rebekka), als jene der Materna singt (Valentine, Donna Anna). Die junge Sängerin ist eine anständige Aushilfe, aber kein Ersatz für die Materna, noch selbst für die Beeth — am wenigsten für alle Beide.