Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Nr. 11232. Wien, Samstag, den 30. November 1895 Hanslick, Eduard Wilfing, Alexander FWF Der Wissenschaftsfond.
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Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Herausgegeben von Wilfing, Alexander Projektmitarbeiterinnen Bamer, Katharina Pfiel, Anna-Maria Elsner, Daniel Austrian Centre for Digital Humanities and Cultural Heritage Wien 2024

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Maschinenlesbares Transkript der Kritiken von Eduard Hanslick.

Nr. 11232. Wien, Samstag, den 30. November 1895 Hanslick, Eduard Neue Freie Presse Morgenblatt Herausgegeben von Etienne, Michael Friedländer, Max Wien 30.11.1895
font-style:italic; font-weight:bold; Deutsch Transkribus OCR und Lektorat. Transformierung der Daten des Transkribus TEI-Export mit "editions.xsl". Formatierung und Referenzen eingefügt. Letztkorrektur für Zwischenrelease.
Billroth über Musik.

Ed. H. Wer ist musikalisch?“ Nachgelassene Schrift von Theodor Billroth. Herausgegeben von Eduard Hanslick. Berlin, bei Gebrüder Paetel, 1896. „Mein kleines Opus ist hoffentlich kein Klecks auf meinen chirurgischen Namen. Das Publicum kennt viele Kinder aus meiner legitimen Ehe und hat sie über mein und ihr Verdienst gütig aufgenommen; vielleicht wird es neugierig sein, auch dies Kind meiner Alterslaune anzu sehen.“ Diese so bescheiden und humoristisch ausgesprochene Erwartung Billroth’s hat sich jetzt schon reichlich erfüllt. Von seiner nachgelassenen Schrift „Wer ist musikalisch?sind nur Exemplare der zweiten Auflage nach Wien ge langt, so schnell war die erste vergriffen, bevor noch die Zei tungen Notiz von ihr nehmen konnten. Ein erfreulicher Be weis für die Liebe und Verehrung, welche der Name Bill roth überall und nicht blos bei seinen Fachcollegen genießt. Die allgemeine Zuversicht, von dem berühmten Arzte auch über Musik Bedeutendes zu hören, wird durch das Buch keine Enttäuschung erfahren, obgleich es eigentlich ein Torso geblieben ist. Welch intensiv musikalische Natur Bill roth gewesen, das weiß man freilich nirgends so gut wie in Wien. Man mußte ihn selbst Clavier spielen hören, ihn bei seinen häuslichen Musikabenden oder im Concertsaale beobachtet, seinem treffenden Urtheile ge lauscht haben, um sofort zu fühlen, daß man nicht einem Dilettanten gegenüberstand. Billroth’s Verhältniß zur Musik reichte weit hinaus über das fröhliche Genießen und talent volle Reproduciren. Sein energischer, in streng naturwissen schaftlicher Methode geschulter Geist begnügte sich auch in der Tonkunst nicht mit oberflächlichem Erkennen. Durch seine Doppelstellung als gründlicher Musiker und genialer Physiolog schien er auch in ganz einziger Weise berufen, das geheimnißvolle Grenzgebiet zu beleuchten, auf welchem musikalische Wirkungen mit unserem Nervenleben zusammen stoßen. In den letzten Lebensjahren drängte es ihn, seine oft durchdachten Ideen über Musik zu ordnen und zu fixiren. Im Herbst 1890 begann Billroth seine

Anatomisch-physiologischen Aphorismen über Musikniederzuschreiben, welchen er schließlich den Titel „Wer ist musikalisch?“ gab. Die Arbeit, welche immer nur stückweise, in den Universitäts-Ferien, wieder aufgenommen werden konnte, hatte einen sehr rhapsodischen Fortgang. Das letzte Capitel schrieb Billroth kurz vor seinem Tode, wahrscheinlich An fangs Januar 1894, in Abbazia. Es war ihm nicht vergönnt, dem Buche jene Vollständigkeit und formale Abrundung zu geben, die er ohne Zweifel im Sinne hatte. Nur die beiden ersten Capitel hat er selbst als druckfertig bezeichnet; das dritte, vierte und fünfte stehen ihnen jedoch in keiner Weise nach, ja sie scheinen mir noch reicheren Inhalts und frischer, lebendiger in der Ausführung. Die beiden letzten Capitel sind „Skizzen“ — Skizzen von genialer Hand.

Das nachfolgende Resumé, welches den Hauptinhalt, so viel als möglich mit Billroth’s eigenen Worten, reproducirt, kann nicht entfernt einen Anspruch auf Vollständigkeit er heben; es soll dem Leser dieser Zeilen nur als Führer dienen und ihn aneifern, sich mit dem Buche selbst vertraut zu machen. Man wird es nicht ohne werthvolle Belehrung und Anregung aus der Hand legen, nicht ohne Bewunde rung dieses vielseitigen, glänzenden Geistes — und, für uns Wiener darf ich beisetzen, nicht ohne tiefe Bewegung.

Als Billroth sich die Frage stellte: „Wer ist musikalisch?wußte er auch, daß eine gründliche Antwort ziemlich weit zurückgreifen müsse zu den Quellen unserer Tonempfindungen überhaupt. Die beiden ersten Capitel seiner Abhandlung sind demnach vorwiegend physiologischen und anatomischen Inhalts; sie bilden die Brücke zu den im engeren Sinne musikalischen Betrachtungen der späteren Capitel. Billroth behandelt zuerst den Rhythmus als ein wesentliches, mit unserem Organismus innig verbundenes Element des Musikalischen. Rhythmische Bewegungen gehören zu den wichtigsten, zum Leben nöthigsten Eigenschaften unseres Körpers: der Rhythmus des Athmens, des Herzschlages. „Das Herz schlägt von dem ersten Moment seiner Thätig keit an den Tact zu dem Trauermarsch, der uns das ganze Leben hindurch zum Grabe leitet.“ Die ziemlich allgemein verbreitete Annahme, daß jedem Menschen das Gefühl für Rhythmus angeboren sei, hält Billroth für irrig; er weiß aus Erfahrung, daß es Menschen gibt, denen das rhythmische Marschiren ebensowenig beizubringen ist, wie

das rhythmische Singen. Das bestätigen verschiedene von Billroth mitgetheilte Be richte von Officieren deutscher, böhmischer, ungarischer und polnischer Regimenter. Sie stimmen in der Hauptsache darin überein, daß es Recruten gibt, die nie im Tact marschiren lernen; diese sind nur als Wärter, Handwerker u. dergl. zu verwenden oder werden zur Cavallerie transferirt. Es gibt sehr Ungeschickte, welche erst in acht bis zehn Wochen, Ungeschickte, welche erst in vier bis sechs Wochen maschiren lernen, aber in der Truppe immer als schlecht maschirend kenntlich sind und dieselbe verunstalten. Es sind ungefähr 20 bis 30 Percent, zumal unter den Soldaten aus den Gebirgsländern. Menschen, denen das rhythmische Gefühl nicht angeboren und auch nicht beizubringen ist, müssen absolut unmusikalisch sein, denn die Fähigkeit, die rhythmische Gliederung der Töne zu einer Melodie aufzufassen, ist die erste Bedingung zum Erfassen von Musik. Dadurch, daß das aufmerksame Ver folgen von rhythmischen Gehörs- und Gesichtswahrnehmungen und die rhythmische Bewegung des eigenen Körpers den meisten Menschen Vergnügen bereitet, wird der Rhythmus zu einem wichtigen ästhetischen, zumal musikalischen Element. Wir können ihn mit drei Sinnen zugleich wahrnehmen: wir können ihn hören, sehen und in unseren Muskeln fühlen. Billroth übergeht dann auf die Anatomie und Physiologie des Hörapparats des Menschen und gelangt zu dem Schluß, daß zwar das Wesen des Musiksinns im Gehirn liegt, daß aber auf alle Fälle ein gesundes Gehör organ eine wesentliche Bedingung ist für die Entwicklung der Tonempfindungen, des Musiksinns. Sehr früher Ver lust des Gehörs muß den Musiksinn nach und nach voll ständig ertödten. Beim Erlöschen des Gehörs im späteren Lebensalter ist, wenn das Spiel mit den aufgenommenen Klängen einigermaßen lebhaft und intensiv war, die Menge der fest eingeprägten Erinnerungsbilder eine so große und das willkürliche Hervorrufen derselben ein so leicht und rasch vor sich gehender Proceß, daß es der von außen an geregten Tonwahrnehmungen nicht bedarf, um eventuell neue Combinationen von Tonbildern zu gestalten. (Beethoven.)

Von den physiologischen Betrachtungen führt uns das dritte Capitel zum eigentlich Musikalischen, zur Tonkunst. Eine scharfe Grenze läßt sich da freilich ebensowenig wie zwischen Körper und Seele ziehen. Die Seele ist nach unseren heutigen Anschauungen vom Körper nicht zu trennen, und die Vorgänge auf ihrem Gebiete bilden somit einen sehr

wesentlichen Theil der Physiologie. Die Seele ist ab hängiger vom Körper, als der Körper von der Seele. Was wir Wahrnehmen, Denken, Vorstellen, Bewußtsein nennen, kann ohne Gehirn nicht entstehen, nicht bestehen. Als die physiologischen Grundbedingungen für das, was wir jetzt „musikalisch“ nennen, präcisirt Billroth: das Gefühl für Rhythmus und die Wahrnehmungsfähigkeit von verschiedenen Tonhöhen, Tonklängen und Tonstärken, sowie die Unter scheidungsfähigkeit dieser Töne bei raschem Wechsel und beim Zusammenklingen. Aber nicht jeder Mensch, der diese Eigen schaften besitzt, ist deßhalb schon als „musikalisch“ zu be zeichnen. Was das rhythmische Gefühl betrifft, so gibt es Menschen, wenn auch bei Culturvölkern selten, denen es gänzlich fehlt. Viel häufiger findet man Menschen, denen es nicht möglich ist, einen vorgesungenen Ton genau nachzusingen; auch solche, die, selbst für größere Tonintervalle, ja sogar dafür, ob ein Ton im Verhältniß zu einem andern höher oder tiefer ist, keine bewußte Empfindung haben. Ja, es gibt eine vollkommen psychische Gleichgiltigkeit gegen alle Tonwahrnehmungen, zumal gegen Zusammenklänge, eine Art harmonischen Nihilismus, eine harmonische Taubheit. Billroth belegt diese Behauptung mit einigen merkwürdigen Beispielen aus seiner eigenen Er fahrung. Er erzählt: „Einem meiner Freunde, der gern Gesang hört und der seine musikalische Frau auch wol zuweilen in ein Concert begleitet, fehlt jede Empfindung für das Angenehme oder Unangenehme des Zusammen klanges von Tönen. Er hat keinen andern Eindruck von dem Anschlagen eines Dreiklanges, als von dem gleichzeitigen Anschlagen fünf neben einander liegender Töne. Ich spielte ihm nämlich die Melodie: „Wir winden dir den Jungfernkranz“ in Fis-dur auf dem Clavier vor und begleitete sie mit der linken Hand in F-dur „Das ist aus dem Freischütz,“ sagte er; ich behielt nun die F-Begleitung in der linken Hand bei und spielte die Melodie in G-dur „Bemerken Sie keinen Unterschied?“ fragte ich. Er besann sich und sagte: „Ich glaube, das erstemal hat es mir besser gefallen.“ — Wenn man bedenkt, daß es in einem großen Concertsaale hundert oder noch mehr Zuhörer und Zuhörerinnen gibt, welche auf diesem Standpunkt stehen, und daß es noch viel mehr Menschen gibt, welche bis auf eine Terz Alles für einen Ton halten, so daß es für sie innerhalb einer Octave

höchstens vier leidlich unterscheidbare Töne, ein unrein Spielen oder Singen überhaupt nicht gibt, so ist das wol ein etwas schauerliches Gefühl — für die Künstler: Verlorene Liebesmüh’. Bei meinem Freunde war doch ein musikalisches Moment vorhanden, nämlich das Gedächtniß für das Rhyth mische: er erkannte die Melodie, als aus dem „Freischützentnommen, wieder. Aber auch dies Gedächtniß kann ganz fehlen, und doch wird Clavier gespielt. Ein junges Mädchen, das schon zwei Jahre lang Clavierstunden gehabt hatte, übte seit drei Wochen ein Stück von Mozart und hatte es so weit erlernt, daß sie es nun dem Lehrer vorspielen sollte. Sie kam etwas zu spät zur Stunde und fand den Lehrer am Clavier sitzend und spielend. Als er sich nicht stören ließ, fragte sie: „Was spielen Sie denn da?“ Der Lehrer wendete sich verwundert um und sagte: „Das ist ja das Stück, welches Sie mir heute vorspielen sollen.“ — „So, so!“ Sie spielte nun das Stück ohne Fehler vor, und die Stunden wurden fortgesetzt.

Wer ist musikalisch? Billroth gesteht, daß die Antwort auf diese scheinbar so einfache Frage eine schwierige und höchst complicirte ist. Es gibt verschiedene Grade (oder „Arten“) des Musikalischseins, weil die Tonkunst aus ver schiedenen Momenten zusammengesetzt ist, aus dem Rhyth mischen, dem Melodischen und dem Harmonischen, und in jedem dieser Momente wieder rein Technisches und eigentlich Aesthetisches liegt. Je mehr man darüber grübelt, um so verwickelter wird das, was man heute unter Musik versteht. Billroth will der Lösung näher kommen, indem er unter sucht, wie unsere heutige Tonkunst entstanden ist. Wir müssen hier über die interessanten Untersuchungen hinweg eilen, welche Billroth über die Entstehung unseres Musik systems, über Dur- und Moll-Tonarten, über die Entwick lung der Polyphonie, endlich über die Begriffe Consonanz und Dissonanz anstellte. Das vierte Capitel („In welcher Weise wirkt die Musik auf uns?“) bewegt sich inmitten unserer lebendigen Musik. Es charakterisirt verschiedene Ton dichtungen und die hervorragendsten Componisten, dürfte daher das größere musikliebende Publicum am meisten interessiren. Auch tritt uns Billroth, der Mensch, hier am persönlichsten gegenüber, z. B. wenn er sagt: „Die reine Schönheit einer Instrumentalmusik kann auf einen musikalischen Menschen ohne irgend welche Associations-Vorgänge derart körperlich

wirken, daß er, wie etwa bei rührenden Scenen im Theater, nicht mehr im Stande ist, zu sprechen, bis Thränen ihn aus diesem fast peinlichen Zustand eines höchsten Glücks gefühls erlösen. Ich habe das oft an mir erfahren und mich im Concert vor meinen Nachbarn dieser Weichlichkeit geschämt, die ich doch auch wieder nicht missen möchte; man weiß eigentlich nicht, ist es Freud oder Leid, was man dabei empfindet.“ Hier kommt Billroth auf die Programm-Musik zu sprechen, auf die ge druckten Ueberschriften und längeren Erklärungen, welche den „Inhalt“ eines Tonstückes auseinandersetzen sollen. „Alle nicht musikalisch Gebildeten und selbst die Unmusikalischen kommen durch diese Nebenwirkungen der Musik in eine ge wisse Beziehung zu derselben; sie haben einen Berührungs punkt mit einer Kunst gefunden, die ihnen sonst unverständ lich, uninteressant, ja unerfreulich erschien; sie fangen an, sich doch auch für musikalisch zu halten, und fühlen sich nicht mehr als Parias unter den Eingeweihten. So ist es wol gekommen, daß die Mehrzahl der Menschen, welche über haupt Gelegenheit haben, complicirtere Orchestermusik zu hören, die Auffassung gewinnen, Musik habe überhaupt den Zweck, etwas darzustellen oder zu bedeuten, und daß sie noch mehr Genuß davon haben würden, wenn man ihnen immer vorher sagen wollte, was die zu hörende Musik bedeuten sollte. Diese Auffassung habe ich bei unmusikalischen, doch sonst sehr gebildeten Menschen oft gefunden.“ Musik ist im Allgemeinen ernsthaft oder heiter. Aber es gibt streng ge nommen weder eine tragische, noch eine komische, noch eine specifisch religiöse Musik. Ueber die classische Musik, die das Stammkapital unserer heutigen Concerte bildet, folgen einige treffende Bemerkungen. „Mit Haydn, Mozart, Beethoven,“ sagt Billroth, „ist die Generation, der ich angehöre, auferzogen. Ihre Werke waren unsere Jugend nahrung, sie bilden den Maßstab, mit welchem wir bewußt oder unbewußt messen. Haydn und Mozart treten bereits stark in den Hintergrund. Die jüngste Generation, die ihre eigenen Studien mit Beethoven, Schubert, Schumann, Brahms, Wagner, manchmal nur mit dem Letzteren beginnt, muß sich bewußt in eine Art historischer Anempfindung ver setzen, um bei Haydn und Mozart überhaupt aufzumerken; sie sind ihr kaum näher als Bach und Händel, denn nach rückwärts gesehen, verkürzen sich die Entfernungen gewaltig

rasch. Es ist nicht unmöglich, daß man in nicht zu langer Zeit alle Vor-Beethoven’sche Musik als nicht interessant genug beiseite setzt. Auch die Beethoven-Periode mit ihren Epigonen wird einst vergessen sein.“ Billroth erzählt nun, wie er die ihm anfangs unsympathische Musik Schumann’s erst später verstehen und lieben gelernt hat. Ebenso erging es ihm mit Brahms. An seinem eigenen Beispiel zeigt er uns, wie sich Musikfreunde in neuere Musik hineinleben. Vor Allem gehört dazu ein lebhaftes Interesse an der Musik überhaupt, bei einiger maßen fester Grundlage musikalischer Bildung. Je nach dem Vertrauen und der Sympathie, welche man zu diesem oder jenem Künstler oder Kunstkenner hat, wird man unbewußt beeinflußt. Man wird geführt und führt Andere, und wenn man auch nicht aus der Haut heraus kann, die uns ange boren ist und die sich von Jugend an um und mit uns dehnt, so ändert man doch seinen Geschmack im Laufe eines längeren Lebens vielfach, wie man ja auch seine Ansichten über Dinge und Menschen ändert. Ueber Richard Wagner finden wir folgende Bemerkung: „In Hebbel’sNibelun gen“ entwickelt sich Alles zu dramatischem Leben; bei Wagner fließt Alles sich selbst erzählend hin, ohne Abschnitte, außer den Zwischenacten. Jeder Gott und jeder Held spricht in gleicher Weise; die musikalische Zeichnung der Charaktere ist aufgegeben; statt dessen hat jede Figur ein sogenanntes Leitmotiv, welches kaum mehr be deutet als ihr Costüm. Trotz heißestem Bemühen, diesen neuen Styl acceptabel zu finden, vermisse ich, von der immer pathetisch daherwandelnden, breiten und dicken, wenn auch manchmal sehr schönen Musik, meist den Zu sammenhang zwischen Orchester und Sängern. Der Gesang ist da nicht die Hauptsache, und demnach treten die Sänger in den Hintergrund; sie wachsen weder aus dem Orchester heraus, noch in dasselbe hinein, sondern sie stehen nur breitbeinig auf dem Orchesterteppich. Und dann der äußerst seltene, durch Chöre und Ensembles unterbrochene Einzel gesang; es ist noch schlimmer, als viele Arien nach einander. Dazu die endlosen Längen!“

Das Verhältniß des Künstlers zum Publi cum bestimmt Billroth mit folgendem richtigen Ausspruch: „Wissenschaft und Kunst können sich in Einzelnen ohne Theilnahme weder entwickeln noch fortbestehen. Der Künstler

kann nach und nach das Publicum zu sich erheben, doch er muß sich wenigstens auf einen Theil desselben stützen können. Die Entwicklung von Kunst und Wissenschaft, welche Fleisch und Bein vom Menschen sind, ist eine organische, keine Krystallisation um beliebig ausgeworfene Körper.“

Nach diesem längsten Capitel, in welchem Billroth am persönlichsten hervortritt, behandelt das folgende (als „Skizze“ bezeichnete) das Verhältniß der Musik zu den übrigen Künsten. Das Schlußcapitel endlich greift mit verdoppelter Energie zu der Thesis des Ganzen zurück: „Wer ist musikalisch?„Die Frage muß eigentlich lauten: Woran erkennt man, daß Jemand musikalisch veranlagt und daß er musikalisch gebildet ist? Der Begriff Musik ist ein sehr weiter; er beginnt mit dem monotonen Rhythmus und reicht bis zur Symphonie. Die Begabung nur für Rhythmus wird man kaum für eine specielle, musikalische gelten lassen, son dern erst bei dem spontanen Auffassen und Behalten einer Melodie. Was man unter dem „Verstehen“ eines Musik stückes begreift, ist wesentlich die Erkenntniß der Art, wie und aus welchen Stücken es zusammengesetzt wurde. Zwei Momente sind dabei von der allergrößten Wichtigkeit, nämlich das Gedächtniß für das Vorübergezo gene und für die Art seines Zusammenhanges. Eine kurze Melodie immer wieder zu erkennen und sie summend oder pfeifend richtig zu reproduciren, ist der erste Grad des Verständnisses von Musik. Wer das nicht vermag, der ist unmusikalisch. Bei einem höheren Grade werden auch längere Melodien behalten, beim höchsten auch die längsten. Wir können ein Werk nur dadurch verstehen, daß wir die Theile unterscheiden lernen, aus welchen sich das Werk zusammensetzt, das als etwas Zusammenhängen des an uns vorüberzieht, und das wir doch als Ganzes empfinden. Die sogenannte musikalische Bildung besteht in der Erkenntniß dieser Formen. Die musikalische Bildung führt zum specifischen musikalischen Gefühle, was von dem übrigen Gefühle dadurch ver schieden ist, daß letzteres sich immer zu etwas Anderm wendet. Musikalische Schönheit ist ein Ding für sich, nur aus den Tönen als Tonerscheinung auf uns wirkend. Das Gefühl dafür ist ein rein ästhetisches, angeboren in der An lage. „Der in seiner musikalischen Bildung stehen Gebliebene wird die Freude an seiner Jugendmusik, sagen wir an

Haydn und Mozart, nicht verlieren, doch Schumann und Brahms werden ihm unverständlich sein; er genießt von allem uns Erfreuenden weniger als wir, doch dies schmeckt ihm um so besser; er verlangt nicht mehr und ist mit dem, was er hat, glücklich, und das ist doch wie bei allem menschlichen Genießen die Hauptsache in unserem Verhält nisse zur Kunst. Freilich ist die Freudenempfindung aus gedehnter, je mehr von Kunst wir verstehen lernen, sie wird aber nicht intensiver. Ob ich das höchste Glück bei einer Bachschen Sarabande, einem Mozart’schen Andante empfinde, oder bei einem Beethoven’schen Adagio, einem Liede von Brahms, ist schließlich dasselbe; denn über das für uns höchste Glücksgefühl kann das Subject nicht hinaus. Es ist psychologisch interessant, daß der Mensch im Stande ist, in dem reinen Tonspiele den höchsten Genuß zu finden, ein Glücksgefühl, über das hinaus es kein höheres mehr gibt, das in gewisser Beziehung gegenstandslos ist. Man spricht daher wol von überirdischem Glück in der Musik, ein Glück, welches in Sphären liegt, die anderen Menschen nicht erreichbar sind, ein Glück, welches sich durch das Studium der Formen steigert.“

Mit diesem Ausspruch, der uns so recht empfinden läßt, wie innig Billroth in der Musik lebte und webte, schließen seine Betrachtungen. Müde von nächtlicher Arbeit, von anhaltendem Denken und Schreiben, scheint der bereits schwer Leidende hier die Feder aus der Hand gelegt zu haben. Er ergreift sie nur wieder, um ein kurzes, unsäglich rührendes Schlußwort beizufügen, das in sicherer Todes ahnung wenige Tage vor seinem Ende geschrieben ist. Es lautet: „Nacht ist’s; schon lange lautlose Stille um mich; nun wird’s auch in mir still. Mein Geist beginnt zu wan dern. Ein ätherblauer Himmel wölbt sich über mir. Ich schwebe körperlos empor. Es klingen die schönsten Har monien von unsichtbaren Chören, in sanften Wechsel gleich dem Athem der Ewigkeit! Auch Stimmen nehm’ ich wahr, die Worte sind ein leise rauschend Klingen: Komm’, müder Mann, wir machen glücklich dich. In dieser Sphären Zauber befreien wir dich vom Denken, der höchsten Wonne und dem tiefsten Schmerz der Menschen. Du fühltest dich als Theil des Alls, sei nun im ganzen All vertheilt, das Ganze zu empfinden mächtig.“