Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Nr. 11303. Wien, Dienstag, den 11. Februar 1896 Hanslick, Eduard Wilfing, Alexander FWF Der Wissenschaftsfond.
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Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Herausgegeben von Wilfing, Alexander Projektmitarbeiterinnen Bamer, Katharina Pfiel, Anna-Maria Elsner, Daniel Austrian Centre for Digital Humanities and Cultural Heritage Wien 2023

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Maschinenlesbares Transkript der Kritiken von Eduard Hanslick.

Nr. 11303. Wien, Dienstag, den 11. Februar 1896 Hanslick, Eduard Neue Freie Presse Morgenblatt Herausgegeben von Etienne, Michael Friedländer, Max Wien 11.02.1896
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Musik. (Viertes Gesellschaftsconcert.)

Ed. H. Massenet’sEva“, ein elegantes Miniatur- Oratorium, ist vom Componisten als „Mysterium“ bezeichnet. So hießen in Frankreich die geistlichen Schauspiele des Mittelalters. In neuester Zeit scheint diese archaïstische Benennung wieder aufzutauchen, wie der „Christus“ des belgischen Componisten Adolph Samuel darthut, ein Mysterium, welches jüngst den bekümmerten Zuhörern in Köln lieber ein Geheimniß geblieben wäre. Massenet, heute der Beherrscher und rührige Versorger der franzö sischen Opernbühne, hatte nach dem Mißerfolg seiner ersten komischen Oper „Don César de Bazan“ vor 22 Jahren einen leichten geistlichen Anfall verspürt, welcher das Orato rium „Maria Magdeleine“ verursachte. Die günstige Auf nahme desselben zeitigte in Massenet rasch ein zweites ähn liches Werk, die „Eva“. In gleichem Styl wie „Maria Magde leine“ gehalten, nur von geringerem Umfang, errang „Eve1875 einen glänzenden Erfolg in der Pariser Société de l’harmonie sacrée. Demungeachtet trieb richtige Selbsterkenntniß und altes Herzensbedürfniß den Componisten schnell wieder in den Hafen der Oper, wohin die Magnetnadel des französischen Talentes seit jeher gezeigt und mit ganz vereinzelten Aus nahmen (Berlioz, César Franck) alle Franzosen unwiderstehlich nachgezogen hat. Mit seinem nächsten Werk, dem „König von Lahore“, ist Massenet wieder entschieden und erfolgreich zur Operncomposition zurückgekehrt. Director R. v. Perger hatte seinerzeit das holländische Publicum mit Massenet’s Eva“ so gründlich erbaut und entzückt, daß er sie den Wienern glaubte nicht vorenthalten zu dürfen. Wir pflegen uns hier von Pariser Erfolgen gern ein bischen vor einnehmen zu lassen und in Theaterdingen gewiß nicht ohne Grund. Hingegen auf dem Gebiet religiöser und sym phonischer Musik beeilen wir uns durchaus nicht mit der

Bekanntschaft noch mit der Ueberschätzung von französischen Novitäten. In diesem Punkte kann man uns nicht nachsagen, was Prosper Mérimée1854 an seine „Unbekannte“ aus Wien schreibt: „Le monde étant ici gemüthlich, on prend tout ce que dit un Français pour de l’esprit.“ Der „Eva“ gestehen wir Esprit höchstens in der engeren französischen Bedeutung zu; der Geist, der die Bibel begreift und sie mit urkräftigem Leben durchdringt, ist darin nicht zu erkennen. Massenet hat sich auch gehütet, sein feines graziöses Talent zu dem Wuchs oratorischen Styles zu strecken, etwa Händel, Haydn oder Mendelssohn nacheifernd; was er beabsichtigt, ist offenbar nichts Anderes, als eine biblische Idylle, ein paradiesisches Familienstück — leider mit unglücklichem Ausgang. Daß Massenet, wie alle Franzosen, überall theatralisch denkt und fühlt, beweist nicht blos der Charakter seiner Musik, sondern obendrein die scenische Anweisung vor jeder der drei Abtheilungen. So zum Beispiel: „Ausgestirnter Himmel. Milde Sommernacht, berauschend und duftig. In der Einsamkeit des Waldes geht Eva träumerisch“ u. s. w. Insofern es ihm wesentlich um die Schilderung paradiesischer Naturschönheit und schuldlosen Liebesglücks zu thun war, hat Massenet seinen Stoff gewiß nicht schlecht gewählt. Die Landschaft ist verlockend, aber die Staffage ist bedenklich. Welches Wagstück, die ersten Menschen redend oder singend einzuführen! Wenn sie im Augenblick ihres Werdens schon mit Vorstellungen und Begriffen hantieren, die wir erst nach Tausenden von Jahren allmälig erworben haben, so werden sie für unser modernes Bewußtsein leicht komisch. Wie immer sie sich ausdrücken mögen, ihr Gespräch ist unmöglich und viel un begreiflicher als im Märchen die redenden Thiere. Nur eine längst verlorene Naivetät fühlt nicht diesen Zwiespalt in einem ernsten Kunstwerk. Je naiver, roher, holzschnitt mäßiger Adam und Eva auftreten, desto besser für sie und für uns. Wir hören dann ihre Gespräche ungefähr so an, wie wir mittelalterliche kindliche Handzeichnungen vom Sündenfall betrachten. In einem alten geistlichen Singspiel Der geschaffene, gefallene und wieder aufgerichtete Mensch“,

das als Eröffnungsstück der ersten deutschen Oper in Ham burg (1678) denkwürdig bleibt, erwacht Adam, den Gott eben in Gegenwart des Publicums geschaffen, mit folgenden Versen: O, noch nie erblickte Sachen, Die mich ganz erstarren machen: Himmel, Erde, Thiere, Meer, Ja das ganze Gottesheer, Was bekomm’ ich ins Gesicht? Leb’ ich oder leb’ ich nicht?

Das ist nicht viel komischer, als wenn Massenet’s Adam, die Eva erblickend, im galantesten Französisch aus ruft: „Oh, séduisant mystère; quelle forme éclatante a passé devant moi!“ Es thut Einem die Wahl weh. Louis Gallet, der Dichter des Mysteriums, ist vorsichtig be müht, Allem auszuweichen, was streng dogmatisch und unseren Vorstellungen allzu widersprechend wäre; er läßt weder Gott Vater, noch die Schlange singen. Außer Adam und Eva tritt nur noch „der Sprecher“, auf, als Erzähler und Erklärer des Zu sammenhangs; dazwischen ein Chor der Naturstimmen und der Höllengeister. Wunderlich fälscht Gallet die Bibel für seine lyrischen Zwecke: nicht die Erkenntniß des Guten und Bösen, welche Eva der Gottheit gleich machen werde, ver sprechen ihr die Höllengeister, sondern — die Liebe. Die Liebe sei die verbotene Frucht, welche Eva vom Baume pflücken soll. Wozu Eva eigentlich geschaffen wurde, wenn ihr die Liebe verboten blieb, das ist Herrn Gallet’s Ge heimniß. Der Form nach ist Massenet’s „Eva“ ein Ora torium in Taschenformat. Diese gedrängte Fassung hat ihr Gutes; sie läßt uns den Mangel an Handlung und Ab wechslung weniger fühlen. Im Oratorium, sei es aus dem Alten oder Neuen Testament, sind wir an mächtige Be gebenheiten, an große Charaktere, an den gewaltigen Einklang oder Widerstreit ganzer Völker gewöhnt. So sehr auch das Oratorium seit Mendelssohn in den Hintergrund getreten ist, man kann nicht behaupten, daß die Empfänglichkeit dafür nicht wieder aufwachen könne, wenn eines Tags eine mächtige musikalische Kraft sich dafür begeistert. Diese hole

sich getrost Menschen aus der Bibel — nur nicht die beiden ersten.

Massenet’s Mysterium zerfällt in drei Abtheilungen. Die erste („Erschaffung des Weibes“), von einem einfachen, recht hübschen Chor eingeleitet, bringt ein gemäßigt zärtliches Duett zwischen Adam und Eva, meist in Terzen; mehr dankbar für die Sänger, als für die Hörer. Wir hören dann ein fein instrumentirtes Vogelgezwitscher und Blätter rauschen, in welches unsichtbare Geister den Ruf „Eva!“ mischen. Der Chor selbst, Frauenstimmen unisono, ist unbe deutend, wird aber durch die Orchesterfarben belebt. „Die Versuchung“ füllt die zweite Abtheilung. Der vierstimmige Chor a capella in H-dur, überaus wohlklingend, zart und stimmungsvoll, ist das Erfreulichste in dem ganzen Myste rium. Er wurde von unserem „Singverein“ wunderschön gesungen und hat weitaus am besten gefallen. Von da an wird die Geschichte immer opernhafter und — langweiliger, mag auch Eva, von den Geistern der Hölle umgeben, noch so primadonnenhaft ins hohe H hinaufjubeln. Den dritten Theil („Der Fall“) eröffnet eine moralisirende Arie des Sprechers, worauf Adam und Eva ein Liebesduett Nr. 2 singen. In schleppendem Neun-Achtel-Tact sucht es sich fort während in die Höhe zu heben, sinkt immer wieder herunter und entläßt uns schließlich, trotz der Verstärkung durch einen vollstimmigen Chor, enttäuscht wie nach einem schlechten Opern duett. Bis hieher ist die Musik fast durchaus weichlich senti mental, opernmäßig, etwa auf das Diapason von Gounod’s Faust“ gestimmt. Das Liebesduett (wenn es besser wäre) könnten ebenso gut Faust und Gretchen, Romeo und Julie singen. Ja, die Stelle Eva’s „Je posséderai la puissance“ hat ganz genau so Gounod’s Margarethe schon früher ge sungen. Gegen diese Süßigkeiten braucht nun der Componist dringend einen kräftigen Contrast und Gegenschlag. Er hat sich auch thatsächlich für den Epilog „Der Fluch“ eine imposante Reserve an Effecten aufgespart. Zu dem Chor, welcher, unisono oder in Octaven, fortissimo den Fluch auf das sündige Paar schleudert, rasen die Geigen in chroma tischen Accorden, schmettern die Hörner, Trompeten und Posaunen, donnern die Pauken und — was wir zum ersten male erleben — zwei große Trommeln! (Das dürfte in

den Partituren unserer Jüngstdeutschen Nachahmung finden: große Trommeln divisi!) Außerdem läßt Massenet auf einem Tantam ein wüthendes Kettengerassel vollführen. Nach unseren Anschauungen paßt dieser Spectakel ebensowenig zu einem biblischen Stoff, wie die schmachtende Opernverliebt heit der früheren Theile. Freilich der moderne Opern componist, der französische zumal, mag weder auf die neuesten Effectmittel verzichten, noch kann er, selbst bei guten Vor sätzen, aus seiner Haut heraus. Wie aber soll er dann, wird man fragen, Adam und Eva componiren? Antwort: Gar nicht!

Trotz des sorgfältigen Vortrages von Fräulein Mora, Herrn Ritter und dem Berliner Concertsänger Herrn von Zur Mühlen vermochte die von Director Perger musterhaft studirte Novität das Publicum nicht zu erwär men. Massenet’s Paradies dürfte für Wien ein „ver lorenes“ bleiben.

Dicht neben Massenet’s „Eva“, und davon so ver schieden wie möglich, erschien ein Fragment aus Händel’s Oratorium „Sieg der Zeit und der Wahrheit“. Wenn Chrysander darüber klagt, daß dieses Oratorium, welches Händel doch zweier Umarbeitungen werth gefunden, ganz vergessen ist, so erklärt sich das zunächst aus der Dichtung. Da treten als singende Personen ausschließlich nur allegorische Figuren auf: die Zeit, die Weisheit, die Schönheit, das Vergnügen, der Betrug. Was sie einander zu sagen haben, gleicht einer akademischen Disputation oder noch häufiger einem mündlichen Proceß mit Klage und Einrede, Replik und Duplik. Den Richter macht stets „die Weisheit“, eine Acquisition, welche den Neid manches Bezirksgerichtes er wecken mag. Die Analogie mit einem Proceßverfahren ist um so zutreffender, als bei Händel niemals zwei der Parteien sich zu einem dramatischen Duett vereinigen, sich in dem Principienstreit unterstützend oder bekämpfend, was doch musikalisch so nahe lag. Allegorische Dichtungen von solchem Umfang gehören einer ganz überwundenen Geschmacks richtung an; sie lassen uns völlig kalt. Wie ist Händel zu diesem Libretto gekommen? Ein in Poesie dilettirender Cardinal übergibt das Gedicht „Il trionfo del Tempo e del Disinganno“ dem 23jährigen Händel, den er in Rom

(1708) protegirt. Nichts ist einfacher und natürlicher, als daß Händel, froh, einen Stoff für sein nach Be thätigung dürstendes Talent zu bekommen und obendrein seinen mächtigen Beschützer damit zu verbinden, unbe denklich zugreift und das Gedicht componirt. Chrysander jedoch, der die künstlichsten Deutungen liebt, wo es die Vergötterung Händel’s gilt, erblickt eine „große geschicht liche Bedeutung“ darin, daß gerade der junge Händel in Rom aufgefordert wird, „durch seine Kunst den Kampf sitt licher Mächte mit den Reizen des Sinnenlebens, den Sieg der Wahrheit über eitlen Schein zu feiern“. Es sei „ein äußerst merkwürdiges Zeugniß über Händel’s Jugend, daß seine römischen Freunde schon damals etwas ahnten von seiner Mission, das sittlich rath- und haltlos gewordene Leben wieder geordnet herzustellen“. Was für ein Gesicht wol Händel gemacht hätte, wäre ihm also bewiesen worden, welch hochgegriffene moralische Absichten er bei der Annahme jenes Textbuches verfolgt habe! Händel, der ganz Musiker war, und zwar ein sehr praktischer, würde damals aus den Händen des Cardinals wahrscheinlich ein anderes Gedicht als den „Trionfo“ ebenso willig zur Composition übernommen haben. Sein Triumph war die gute Musik.

Aus diesem Oratorium (wohlgemerkt, aus dessen letzter englischer Umarbeitung von 1757) hat Director v. Perger zwei große Musikstücke herausgehoben: den Lobgesang auf die Jagd, einen ungemein frischen, jubelnden Chor, und hierauf die Tenor-Arie mit Chor: „Dryads, Sylvans with fair Flora“. Beide Stücke machten prächtige Wirkung, ins besondere durch die echt Händel’sche Klangschönheit und Fülle des Chorsatzes. Die Tenor-Arie sang Herr von Zur Mühlen (dessen Organ der Klangfarbe nach allerdings ein entschie dener Bariton ist) mit tüchtiger Gesangstechnik und styl gemäßen Vortrag. So hat denn Zeit und Wahrheit auch in dem „gemüthlichen“ Wien gesiegt und der alte Händel den jungen Massenet aufs Haupt geschlagen. Den meisten Beifall entfesselte übrigens, was zwischen den beiden Ora torien inmitten stand: das von Herrn Hugo Heermann meisterhaft vorgetragene Violinconcert von Brahms — der selbe gefährliche Gipfel moderner Geigerkunst, den wenige Tage zuvor der kleine Hubermann ruhmvoll erstiegen hat.