Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Nr. 11331. Wien, Dienstag, den 10. März 1896 Hanslick, Eduard Wilfing, Alexander FWF Der Wissenschaftsfond.
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Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Herausgegeben von Wilfing, Alexander Projektmitarbeiterinnen Bamer, Katharina Pfiel, Anna-Maria Elsner, Daniel Austrian Centre for Digital Humanities and Cultural Heritage Wien 2023

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Maschinenlesbares Transkript der Kritiken von Eduard Hanslick.

Nr. 11331. Wien, Dienstag, den 10. März 1896 Hanslick, Eduard Neue Freie Presse Morgenblatt Herausgegeben von Etienne, Michael Friedländer, Max Wien 10.03.1896
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Musik. (Viertes Gesellschafts-Concert. Siebentes Philharmonie-Concert.)

Ed. H. Das Gesellschafts-Concert gewann ein besonderes Interesse und individuellen Charakter durch die Mitwirkung von Dr. Karl Reinecke aus Leipzig. Er hat Wien zuletzt im October 1885 besucht, wo ihn aber nicht das Concert- Publicum, sondern nur eine Commission von Musikgelehrten zu sehen bekam: die vom Unterrichtsminister Dr. v. Gautsch einberufene „Conferenz zur Herbeiführung eines einheitlichen musikalischen Normaltons“. Reinecke stimmte damals mit uns für die Beibehaltung des französischen Diapasons, und hat so zu dem glücklichen Resultate mitgeholfen, daß nicht, einer mathematischen Schrulle zulieb, die bereits erreichte Uebereinstimmung aller musikalisch hochstehenden Nationen in Bezug auf die Stimmgabel wieder vernichtet wurde. Jetzt ist er in dreifacher Eigenschaft, als Dirigent, Componist und Clavierspieler, vor das Publicum ge treten. Sein Dirigentenruhm stammt bekanntlich von den Leipziger Gewandhaus-Concerten, welche Reinecke seit dem Jahre 1860 geleitet hat, bis er ganz kürzlich sie in die Hände eines jüngeren Nachfolgers, Arthur Nikisch, zurücklegte. Als Componist seit früher Jugend außerordentlich fruchtbar, schrieb er an dritthalbhundert Werke, von denen insbeson dere die in ihrer Art unübertrefflichen „Kinderlieder“, die Alpensee-Phantasie“ (aus Schumann’s „Manfred“) und die humoristische Ouvertüre „Nußknacker und Mäusekönig“, po pulär geworden sind. Reinecke’s Orchester-Ouvertüren zu Dame Kobold“, „Aladin“, „König Manfred“ schmücken das Repertoire der meisten deutschen Concertvereine, auch mehrere seiner Opern behaupten sich auf einigen Bühnen. Als Clavier-Virtuose ist Reinecke in früheren Jahren viel gereist und überall als einer der feinsten, geschmackvollsten Spieler anerkannt worden. Insbesondere sein Vortrag Mozart’scher Compositionen galt als unübertrefflich; Reinecke theilte mit Ferdinand Hiller den Ruhm des besten Mozart spielers in Deutschland. Als Dritten in dieser Veteranenreihe

nennen wir mit gutem Gewissen unseren Julius Epstein. Unter den Jüngeren würden wir diese Kunst als ausgestorben beklagen, hätte uns nicht Marie Baumayer durch ihren Vortrag des B-dur-Concertes eines Besseren belehrt. Mit dem Mozart’schen „Krönungsconcert“ (so genannt, weil es Mozart während der Krönungsfestlichkeiten Kaiser Leopold’s II. in Frankfurt1790 gespielt hat) trat auch Reinecke in dem letzten Gesellschafts-Concert auf. Alle Reize der Composition kehrte er glänzend hervor, zugleich alle Vorzüge seines Spieles, dessen perlende Geläufigkeit, Klangschönheit, Frische und Anmuth das Alter des jetzt 72jährigen Künstlers Lügen straften. Das Concert „floß wie Oel“, wie Mozart zu sagen liebte, und ward für Reinecke zu einem Triumph, wie man ihn so großartig in diesen Räumen selten erlebt hat. Das Concert, ein Prüfstein für das Stylgefühl, die Anmuth und Zierlichkeit des Spieles, ist es heute nicht mehr für die Bravour, da seine Technik sich auf Scalen, Arpeggien und Triller beschränkt. Welche Kluft liegt zwi schen den virtuosen Anforderungen dieses Concerts und jenes Rubinstein’schen, das wir kurz zuvor von Busoni gehört! Zwischen diesen Concerten — beide sind „fin de siècle“ — liegen genau hundert Jahre. Wo wird in aber mals hundert Jahren die Clavier-Virtuosität angelangt sein? Es ist kaum auszudenken. Reinecke hat seiner einsichtsvollen Verehrung für Mozart’s Claviermusik nicht nur sein Beispiel, sondern auch Worte geliehen in einer lesenswerthen Broschüre: „Zur Wiederbelebung der Mozart’schen Clavierconcerte.“ Auch eine zweite kleine Schrift von ihm verdient genannt und warm empfohlen zu werden: Rathschläge und Winke für die musikalische Jugend.“ Als Componist betheiligte sich Reinecke an dem Programm mit einer von ihm selbst diri girten neuen Symphonie in G-moll. Die G-moll-Symphonie von Mozart umgibt eine Art Heiligenschein, der die be deutendsten Componisten thatsächlich bisher abgehalten hat, eine Symphonie in G-moll zu schreiben. „Dir, der Un berührbaren“ mochte Keiner dicht an die Seite treten. Reinecke, der Mozartianer vor Allen, sucht sich der Ver gleichung dadurch zu entziehen, daß er seinerG-moll- Symphonie einen wesentlich verschiedenen Charakter auf

prägt. Es wallt kaum ein Mozart’scher Blutstropfen darin, und doch gehört dieser zu Reinecke’s ursprünglicher Natur. Diese scheint der Componist in seiner neuesten Sym phonie verleugnen und sich als Fortschreitender zeigen zu wollen. Aber nicht jeder Fortschritt nach jeder Richtung führt zum Heile. Sehr wahrscheinlich schätzt Reinecke diese größer angelegte modernere Symphonie höher, als seine erste in A-dur, die wir im Jahre 1866 unter Dessoff’s Direction hier zu hören bekamen. Ich empfinde gerade umgekehrt und gebe dem anspruchsloseren älteren Werke unbedingt den Vorzug. Der Componist nahm darin keinen hohen Flug, aber die Flügel waren ihm angewachsen. In der neuen Symphonie sind es künstliche Ikarusflügel, die wir angsterfüllt an mehr als Einer Stelle schmelzen sehen. Wie sich von einem er probten Meister wie Reinecke von selbst versteht, ist auch seine G-moll-Symphonie ein wohlgeformtes, musikalisch sehr tüchtiges Werk, stellenweise anmuthig, stellenweise kräftig. Sie verdient manches Lob, nur das Eine nicht, das wir seinerzeit der A-dur-Symphonie gezollt: daß Reinecke es verschmäht, sich größer zu strecken, als er gewachsen ist. Die trotzigen, zackigen Themen des ersten und letzten Satzes, der mit Posaunen- und Pauken donner erkünstelte Heroismus, die weit über die Bedeutung des Inhalts hinausgedehnte Form, dies Alles verräth, daß der Componist sich angestrengt hat, die Gaben, die er von der Natur erhalten, gewaltsam zu vermehren, anstatt, wie ehemals, damit vernünftig Haus zu halten. Als ein im Alter geschaffenes Werk erzwingt Reinecke’s G-moll-Symphonie allerdings unsere Anerkennung, ja Bewunderung. Ueppig quellende Erfindung und jugendlichen Reiz hatten wir ja kein Recht, davon zu erwarten: Tondichter, die als Siebziger noch jugendlich blühende Musik schreiben, wie Haydn in den „Jahreszeiten“, sind seltene Ausnahmen. Das Publicum hat übrigens Reinecke’s Symphonie beifällig auf genommen und den hochverdienten Meister durch wieder holten Hervorruf geehrt.

Einen seltenen Genuß verdanken wir den beiden, vom „Singverein“ so trefflich ausgeführten a capella-Chören: Abendständchen“ von Brahms und „Regenlied“ von

Goldmark. Nur die ungewöhnlich lange Dauer des Concertes hat wol Herrn Director v. Perger veranlaßt, uns mit den Vocalchören so knapp zu halten. BrahmsChöre und Quartette bieten eine reiche, schöne Auswahl und sind der Mehrzahl nach sehr selten gehört. Wir legen sie dem Director ans Herz; er wird den Zuhörern mehr Freude damit bereiten, als mit manchem modernen Orato rium. Das Concert schloß würdig mit dem dritten Theil von Schumann’sFaustmusik. Das Werk war sorgfältig studirt, namentlich in den Chören, von denen uns nur das „Gerettet, gerettet“ zu überstürzt im Tempo vorkam. Von den Solosängern hatten Frau v. Türk-Rohn und Herr Sistermans die bedeutendsten Aufgaben und den meisten Erfolg. Die feine, zarte Stimme der Frau v. Türk gelangte besser zur Geltung, als man vermuthen mochte. Herr Sistermans, dessen kräftig schönes Organ diesmal angestrenger, auch häufiger tremolirend klingt, als bei seinem ersten Wiener Besuch, gab als Doctor Marianus eine ge schickte Copie seines Meisters Stockhausen, ohne die Poesie des Originals zu erreichen. Für Herrn Director v. Perger bedeutet der Abend einen entschiedenen Erfolg.

Im siebenten Philharmonie-Concert ist vorerst Gold mark’s lebensvolle, glänzend ausgestattete „Frühlings- Ouvertüre“ stürmisch applaudirt worden. Einen ebenso be neidenswerthen Erfolg fand die Violin-Virtuosin Fräulein Gabriele Wietrowetz, die, bereits wiederholt in Wien erwartet, jetzt zum erstenmale hier aufgetreten ist. Sie erwies sich als würdige Schülerin Joachim’s, als eine von den österreichischen Künstlerinnen, welche den musikalischen Ruhm des Vaterlandes im Auslande aufrechterhalten. Ur sprünglich hatte sie das Brahms’sche Concert zum Vortrage gewählt: nachdem es ihr jedoch von Heerman und sogar zweimal von dem jungen Hubermann vorweg genommen war, mußte sie sich zu Mendelssohn entschließen. Wer hätte es dem Brahms’schen Violinconcert nach seiner ersten Auf führung prophezeit, daß es über das Beethoven’sche und Mendelssohn’sche hinweg diese Höhe der Popularität er steigen würde? Ich nicht. Zur Stunde das allerschwierigste Violinconcert, würde es dem Fräulein Wietrowetz eine virtuosere Aufgabe gestellt haben, als das Mendelssohn’sche.

Trotzdem konnte sie in letzterem doch ihren unvergleichlich süßen, reinen Ton, ihre fein ausgemeißelte Technik und edle Vortragsweise in helles Licht rücken. Ernst und tiefe Em pfindung charakterisiren, zu ihrer ganzen Erscheinung stimmend, das Spiel dieser Künstlerin. Daß sie beim Eintritte des Passagenwerkes im ersten und dritten Satze das Tempo auf fallend beschleunigte, schien weniger beabsichtigt, als durch momentane nervöse Unruhe veranlaßt. Nach ihrem Erfolge im Philharmonischen Concert darf Fräulein Wietrowetz jeder zeit des besten Empfanges in Wien gewärtig sein.

Ein hochinteressantes Werk, in welchem eigenartiges Talent mit tüchtig erworbener musikalischer Bildung fast gleichen Schritt hält, ist Tschaikowsky’sE-moll-Sym phonie Nr. 5. Sie könnte füglich ebenso gut wie die jüngst gehörte in H-moll-Symphonie die „pathetische“ heißen. Der bald in tiefste Melancholie, bald in wilde Verzweiflung über springende, düster-leidenschaftliche Charakter ist beiden gemein. Auch lauert hier wie dort ohne Frage ein verschwiegenes Programm im Hintergrunde; zu machen befremdenden Contrasten, geheimnißvollen Vor- und Rückblicken fehlt uns der poetische Schlüssel; der musikalische schließt da nicht auf. Die „Pathétique“ steht übrigens gegen die E-moll-Sym phonie im Vortheil einer reicher quellenden Erfindung und gedrängteren Form. Der Einfall, ein und dasselbe Haupt motiv in allen vier Sätzen wiederkehren zu lassen — er beherrscht auch Dvořak’samerikanische Symphonie — scheint in neuester Zeit sich zum System ausbilden zu wollen. Wir finden solche Reprisen, mehr angedeutet, schon bei Mendelssohn; consequent, doch sehr maßvoll verwendet in Schumann’s D-moll-Symphonie. Ein strafferes, einheitliches Zusammen fassen der vier Sätze wird damit allerdings erzielt; die Hauptsache bleibt jedoch immer, daß wir diese Wiederkehr des Themas als eine nothwendige empfinden, nicht als einen willkürlichen launischen Aufputz. Sobald diese Methode, wie wir sie bei Dvořak und Tschaikowsky kennen gelernt, zur Mode würde, wären ihr Zauber und ihre überzeugende Kraft auch gebrochen. In Tschaikowsky’s E-moll-Symphonie ist dieses Leitmotiv eine Art Trauermarsch. Das lange, den ersten Satz einleitende Andante beginnt damit; es mündet in ein Allegro im 6/8 Tact. Das Hauptthema, mehr mürrisch als

heldenhaft oder tragisch, wird durch den daktylischen Rhythmus sehr einpräglich; aber dieser Rhythmus hält den Componisten fest umklammert, läßt ihn nicht los und macht uns endlich ungeduldig, überdrüssig. Der zweite Satz, ein H-moll-Andante im 12/8 Tact, versenkt uns in eine weichlich melancholische Stimmung, der man sich schwer entwindet, ja um so williger hingibt, als ein eigenartig poetisches Licht sie umfließt und manch reizender musikalischer Gedanke auftaucht. Diese beiden ersten Sätze scheinen mir die bedeutendsten, sie haben am meisten überzeugende Logik und relativ auch den meisten melodischen Gehalt. Das Thema des Scherzos, ein „Walzer“ in A-dur, ist nicht weit her, wirkt aber freundlich ab spannend nach der tiefen Schwermuth der früheren Sätze und macht uns fähiger, den Verzweiflungsausbruch des letzten zu ertragen. Es ist der einzige Satz, der ohne eigentliche Heiterkeit doch nicht schroff pessimistisch klingt. Eine gefähr liche Eigenthümlichkeit des Componisten, das unersättliche Wiederholen und Ausführen derselben Figur, stellt sich mehr oder minder ermüdend in jedem der vier Sätze ein. Auch der vierte beginnt mit einem Andante maëstoso; es über geht in ein Allegro vivace, das in trotzigem Kraft gefühl sich nicht genug thun kann. In seiner ersten Hälfte interessirend, auch imponirend, wird das Finale je weiter, desto betäubender und ermüdender. Da erinnert Tschaikowsky vielfach an seinen Lehrer Rubinstein, der in manchen Finalsätzen auch die Kraft bis zur Rohheit, die Klangfülle zum Getöse steigert. Welches Cyklopen-Spectakel in diesem Finale die Trompeten und Posaunen im Sturme gegen den Aufruhr der Streicher und Bläser vollführen, läßt sich nicht beschreiben; man muß es selbst hören, wofern man noch hören kann. Die Forte-Zeichen wachsen in der Partitur vom f. und ff. zum fff. an, und endlich gar zum vierfach gepanzerten ffff.! Abgesehen von dem stellenweise betäubenden Lärm, ist die Instrumentirung der ganzen Symphonie glänzend und charakteristisch. Sie verlangt ein Orchester von Virtuosen, und das hat sie in Wien gefunden. Die philharmonische Elitetruppe und ihr tapferer General Hanns Richter sind mit Ruhm bedeckt aus dieser Ton schlacht heimgezogen.