Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Nr 11405. Wien, Sonntag, den 24. Mai 1896 Hanslick, Eduard Wilfing, Alexander FWF Der Wissenschaftsfond.
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Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Herausgegeben von Wilfing, Alexander Projektmitarbeiterinnen Bamer, Katharina Pfiel, Anna-Maria Elsner, Daniel Austrian Centre for Digital Humanities and Cultural Heritage Wien 2023

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Maschinenlesbares Transkript der Kritiken von Eduard Hanslick.

Nr 11405. Wien, Sonntag, den 24. Mai 1896 Hanslick, Eduard Neue Freie Presse Morgenblatt Herausgegeben von Etienne, Michael Friedländer, Max Wien 24.05.1896
font-style:italic; font-weight:bold; Deutsch Transkribus OCR und Lektorat. Transformierung der Daten des Transkribus TEI-Export mit "editions.xsl". Formatierung und Referenzen eingefügt. Letztkorrektur für Zwischenrelease.
Billroth in seinen Briefen. I.

Ed. H. Briefe von Theodor Billroth. Herausgegeben von Dr. G. Fischer in Hannover. Mit 4 Bildern in Lichtdruck, Hahn’sche Buchhandlung, Hannover und Leipzig. Zweite vermehrte Auflage, 1896. Die Sammlung von 530 Billroth-Briefen, mit deren Anordnung und Herausgabe Dr. Georg Fischer in Hannover sich ein unschätzbares Verdienst erworben hat, liegt soeben in zweiter vermehrter Auflage vor uns. Die überraschend kurze Frist, in welcher die erste Auflage (1895) vergriffen war, beweist die dankbare, ja enthusiastische Auf nahme dieses ganz einzigen literarischen Denkmals. Billroth selbst hat wol nie einen Augenblick an die Möglichkeit solcher Veröffentlichung gedacht; danken wir seinem Collegen Dr. Fischer, daß er durch die Bescheidenheit des Lebenden sich nicht abhalten ließ, so werthvolle Mittheilungen, Urtheile, Schilderungen und Selbstbekenntnisse des Abgeschiedenen für immer der Vergessenheit zu entreißen.

Beim ersten Durchblättern der Sammlung dürfte das nichtärztliche Publicum sich vielleicht etwas enttäuscht fühlen durch das starke Ueberwiegen der speciell medicinischen Stücke. Die an Aerzte gerichteten Briefe füllen mehr als zwei Drittheile des Buches, vollends wenn man die aus schließlich dem Neubau der chirurgischen Klinik betreffenden (an den Architekten Hofrath Gruber) hinzurechnet. Mancher Leser zieht hastig die Fühlhörner zurück, wenn er auf breite Erörterungen über chirurgische Technik, schwierige Operationen, klinische Ein richtungen und Aehnliches stößt, das für uns chinesisch ist. In zahlreichen Briefen beantwortet Billroth specielle An fragen von Fachgenossen und sucht auch wiederum bei Autoritäten Aufklärung über einzelne ihm zweifelhafte Punkte. Wie jeder ehrliche, von Selbstvergötterung verschonte Meister hat Billroth niemals aufgehört zu lernen, sich nie genirt, zu fragen. Beim Anblicke so zahlreicher Briefe an ärztliche Collegen kam mir anfangs der Zweifel, ob es nicht vielleicht besser gewesen wäre, dieselben, abgesondert von den übrigen, herauszugeben. Eingehendere, gesammeltere Lectüre heilte mich jedoch von diesem Bedenken. Fürs erste würde durch diese Ausscheidung oder Zweitheilung die chronologische An ordnung des Ganzen zerstört, welche Billroth’s Lebenslauf hier von seiner Studentenzeit bis zu Ende so schön und vollständig vor uns entfaltet. Nur so gewinnen wir ein

Bild von seiner unvergleichlichen Vielseitigkeit. Wie in Bill roth’s Leben, so wechseln in den Briefen fortwährend medi cinische und musikalische, allgemein wissenschaftliche und humanitäre Interessen. Wie hübsch ist es, wenn er z. B. einen Brief chirurgischen Inhalts an Professor Baum mit den Worten beginnt: „Meine Finger zittern augen blicklich, weil ich eine Stunde lang Bach gespielt habe. Das strengt die Finger gewaltig an; denn nicht nur jeder Tact, das Ganze muß dastehen wie ein gothischer Bau, steinern, hoch und groß; ich habe mich heute Morgens mit einer Art Leidenschaft dieser Musik hingegeben.“ Hierauf spricht er über die Krankheiten der Brustdrüsen. Oder wenn er einem andern medicinischen Briefe die Mittheilung anhängt: „Ich habe eben alle meine musikalischen Compositionen ins Feuer geworfen; es stank fürchterlich!“

Mit der ärztlichen Correspondenz wäre ferner vieles Werthvolle und für Billroth Charakteristische der allgemeinen Kenntniß und Theilnahme entzogen geblieben. In Billroth hing der Mensch, den wir Alle so innig geliebt haben, untrennbar mit dem Gelehrten, dem Arzt, dem Künstler zusammen. Die meisten seiner medicinischen Briefe enthalten Stellen, aus welchen der umfassende Geist, das weiche, theil nehmende Gemüth Billroth’s wohlthuend auf uns Alle überströmt. Ein Beispiel aus dem Sommer 1886: Billroth verschiebt seine ihm so nothwendige Erholungsreise nach St. Gilgen, um dem 74jährigen schwer erkrankten Augenarzt Professor Arlt beizustehen. Er schildert in einem Briefe an Dr. Gersuny ausführlich Arlt’s Krankheitszustand, welcher eine Amputation des Beines nothwendig machen werde. „Er hat,“ schreibt Billroth, „die wahnsinnigsten Schmerzen im Bein; es ist herzzerreißend, das Leiden des standhaften Mannes zu sehen! Aengstlich mit allen Narcoticis, wie alle alten Aerzte, habe ich ihm heute endlich selbst eine volle Spritze einer fünfpercentigen Morphinlösung applicirt. Dabei sagte er: „Gott ist mein Zeuge! Ich bin dazu gezwungen.“ Und dabei diese Selbstlosigkeit! Wir blieben bei ihm, bis die Morphinwirkung eintrat. Und er sagte: „Kinder, ihr habt den ganzen Tag gearbeitet, quält euch nicht mit mir, geht!“ Ist das nicht großartig? Welch ein Mensch!“ Dieser aufopfernde Antheil Billroth’s und dieses tiefe Mitgefühl mit dem alten Kranken — zeigt es uns nicht das Gegentheil von dem Bilde, das man sich oft von unseren amputirlustigen Chirurgen macht? Ist

das nicht großartig? „Welch ein Mensch!“, der Ausruf Bill roth’s paßt auf ihn selbst. Ein anderes Beispiel von Billroth’s zartfühlender, überall mitleidender Seele: Er schreibt an Professor Dittel im Mai 1889, wie sehr ihn der lang same Verfall seines Collegen Dr. Breisky schmerze und wie er es beklage, daß dessen Arzt der Frau des unrettbar Er krankten die volle Wahrheit gesagt habe. „Ich gebe zu, daß dies unter Umständen nothwendig ist; doch hier halte ich es nicht für nothwendig. Wie soll die arme Frau ohne eine Spur von Hoffnungsschimmer noch die Wochen ertragen, bis der Erlöser aller Leiden sanft an ihren Mann heran tritt! Wir müssen ihr immer Muth einflößen und dem armen Kranken Morphium. Eine harte Arbeit! Doch be denken wir wohl, daß jeder Hausarzt Hunderte von Malen in dieser Situation ist und seine unheilbaren Kranken täglich oft sehen muß. Ahnte der Jüngling diese moralischen Qualen, wenn er begeistert in den Tempel Aeskulap’s tritt, — er würde gewiß oft umkehren! Dem unverschleierten Bilde von Saïs gegenüberzustehen, dazu gehört die ganze unerschrockene Resignation, die wir uns nur langsam in unserem Berufe erkämpfen.“

Wer denkt da nicht unwillkürlich an Nothnagel’s schönen Ausspruch: „Nur ein guter Mensch kann ein guter Arzt sein!“ Billroth selbst citirt dieses Wort als ein wahres: „Es ist die Grundbedingung für den inneren, ja meist auch für den äußeren Erfolg der ärztlichen Thätigkeit. Ich möchte zu dem „guten Menschen“ noch hinzugefügt wissen und „gut erzogen“, d. h. in einer Familie, in der ein wohlwollender Geist gegen alle Menschen lebt. Er muß einen unwidersteh lichen Drang zum Helfen anderer unglücklicher Menschen haben, zunächst angeboren und anerzogen; dann kommt er später auch auf dem Wege geläuterter Empfindung und Lebenserfahrung durch Reflexion zu der Ueberzeugung, daß, so viel der sittlich erzogene Mensch auch nach Glück jagen mag, er doch schließlich das Glück wesentlich darin findet, Andere nach Kräften glücklich zu machen. Nur in diesem Punkte darf er egoistisch sein, ich meine, sich selbst glücklich machen, und zwar so viel als er kann. So wie dies aus sittlicher Erziehung entspringt, so wird es auch immer wieder neue Quelle innerer Läuterung, Stärkung des Pflichtgefühls, Befestigung eigener Sittlichkeit. Trifft ihn ein Unglück, so wird er in der Hilfe Anderer, die noch unglücklicher sind

als er, Trost und Stärkung zu neuem Aufschwung nehmen.“ Das sind goldene Worte, die man jedem angehenden Mediciner auf das erste Blatt seines Stammbuches schreiben sollte. Billroth selbst war sehr vorsichtig darin, junge Leute in ihrer Sehnsucht nach dem ärztlichen Stand zu bestärken. Er that es nur, wo er In telligenz, Willensstärke und Begeisterung zweifellos vorfand. Gewissenhaft, fast schonunglos betont er die Mühsal und Verantwortlichkeit des ärztlichen Berufes. Die höchsten An sprüche stellt Billroth an sich selbst; je berühmter sein Name, je glänzender seine Leistungen werden, desto un genügender dünkt ihm sein Wissen und Können. Im Juli 1873 schreibt er an Frau Professor Seegen nach Karls bad: „Viele Operirte und mehrere zu Operirende hängen noch mit ganzer Seele an mir von Jahr zu Jahr mehrt sich ihre Zahl, die Last wird schwerer und schwerer. Vor einer Stunde verließ ich eine vortreffliche Frau, die ich gestern operirte, eine schreckliche Operation. Mit welchem Blick sie mich heute ansah! „Werde ich leben?“ Ich hoffe, sie wird leben; doch unsere Kunst ist so unvollkommen! Ein Jahrhundert stets sich steigernden Wissens und Er fahrens möchte ich haben, dann könnte ich vielleicht etwas thun! Doch so wie es nun einmal ist, geht es doch recht langsam mit unseren Fortschritten, und das Wenige, was der Einzelne erreicht, ist so schwer auf Andere übertragbar, ebenso wie sich die Cultur von einem Volke zum andern doch auch nur unvollkommen überträgt; der Empfangende muß doch das Beste noch dazu thun.“

Zwei schöne Charakterzüge, die bei großen Gelehrten nicht immer beisammen wohnen, leuchten aus der langen Reihe der Billroth’schen Briefe erquickend hervor: die un zerstörbare Verehrung und Dankbarkeit gegen seine Lehrer, sodann seine warme, werkthätige Liebe zu den Schülern. Seinem Lehrer, dem Professor Baum in Göttingen, schreibt und berichtet Billroth von Paris, von Berlin, Zürich, Wien — von überall her, wo er nach absolvirter Universität seine wissenschaftlichen Studien fortsetzt und ins praktische Leben eintritt. Einer der werthvollsten dieser Briefe datirt aus Berchtesgaden vom 9. August 1877. Darin dankt er dem greisen Meister für sein Bild. „Ich betrachte es mit inniger Dankbarkeit für alles Gute und Schöne, was ich Ihnen schulde. Sie waren doch der Erste, der den

Funken der Begeisterung für das Große und Erhabene in der Wissenschaft in meine damals noch schwankende Seele und noch schwankenderen Charakter warf. Sie ließen mich Ziele sehen, die ich wol nie zu erreichen hoffte, doch deren Anstrebung mich erhob und nach und nach die Energie und den Ehrgeiz in mir weckten, zu erproben, wie weit meine Kräfte wol reichten. Ich sah in Ihnen auch, daß es mög lich sei, Wissenschaft und Kunst vereint zu bewältigen, ja daß künstlerische Bildung dazu dienen könne, die wissen schaftliche Lehrkraft zu steigern.“ Er berichtet dann über seine Lehrmethode und Grundsätze. „Ich trachte in meinen Schülern die möglichst vorsichtige naturwissenschaftliche Me thode der Beobachtung und die schärfste Selbstkritik selbst mit etwas Pessimismus auszubilden, um sie vor Ueber hebung und allzu frühem Fertigsein zu bewahren; sie sind durch die Jugend genugsam vor Depressionen geschützt. ... Vorwärts geht es wahrlich in unserer deutschen Chirurgie; doch wenn wir keine Rückschritte machen wollen, müssen wir sehr bedächtig den Weg auf seine Sicherheit nach allen Rich tungen prüfen. Ich gehörte früher wol mehr der leichteren Cavallerie und den Pionnieren in der Chirurgie an und versuchte manchen kühnen Sprung; jetzt bin ich ganz zum schweren Geschütz übergegangen und hoffe nun auch eine Stelle im Generalstab zu verdienen.“ Wie glücklich fühlte sich Billroth, als er später das von Professor Baum Empfangene ihm an dessen Sohn Wilhelm vergelten konnte, welcher sein Schüler ward.

Seine Schüler dürfen wiederum stolz sein auf das rühmliche Zeugniß, das Billroth nicht müde wird, ihnen auszustellen. Wie oft erklingt in seinen Briefen das Lob seiner Schüler und Assistenten Czerny, Wölfler, Gussenbauer, Gersuny, Mikulicz, Menzel, Salzer, Eiselsberg, Frisch, Winiwarter und Anderer! Immer und immer wieder ermuntert, lobt und ermahnt er sie. So schreibt er an Dr. Rosthorn1891: „Fahren Sie fort, nur Tüchtiges und wohl Ueberdachtes dem wissenschaftlichen Publicum darzubringen, und denken Sie bei Ihren Arbeiten immer nur an ein solches. Halten Sie sich immer in geistigem, historischem Contact mit den großen Forschern und Aerzten aller Zeiten. Wenn wir immer im Bewußtsein bleiben, wie viel Großes und Gewaltiges der Mensch sich schaffen mußte, bevor er da stehen

konnte, wo wir stehen, so werden wir nicht gar so großartig davon denken, daß wir in einigem Detail etwas mehr wissen. Ob über die Lebensprocesse im Ganzen und Großen unsere Kenntnißnahme einen so sehr großen Zuwachs in den letzten Decennien erhalten hat, ist mir zweifelhaft.“ Ab hold wie der Zukunftsmusik ist Billroth auch der hoch müthigen „Zukunftschirurgie“. Er bekennt dies in einem der schönsten Briefe an Professor Baum (1879): „Ich kann Ihnen nicht sagen, wie dankbar ich Ihnen bin, daß Sie gleich beim Beginn meiner Studien den historischen Sinn und die höchste Achtung vor unseren Vorfahren in mir geweckt haben. Es gibt nichts, was mehr vor Ueberhebung unserer Leistungen schützt, als wenn man sich immer nur im Rahmen des Ganzen denkt. Es gibt jetzt so viele Leute, auch unter unseren Besten, die glauben, sie haben die ganze Chirurgie erfunden, und mit denen sich nur verkehren läßt, wenn man ihnen dies a priori zugibt. Die Geschichte der Wissenschaften macht keine Sprünge. Wenn Einer sich ein bildet, er habe einen großen Sprung gethan, so muß er ihn gewiß zu drei Vierteln wieder zurückthun. Eine solche kritische Zersetzung zerstört freilich unsere schönsten Illu sionen, doch bewahrt sie uns auch vor Selbstüberschätzung und Stagnation.“ In gleichem Sinne richtet Billroth an Professor Winiwarter, der eine neue Auflage seines Lehrbuches vorbereitet (1879), die Mahnung: „Machen Sie das Buch nicht viel dicker! Denken Sie immer daran, daß es für Studenten ist, und daß man ihnen das Lernen im Anfang möglichst erleichtern soll. Erhalten Sie in dem Buch auch womöglich den historischen Geist, den Zusammen hang mit der Vergangenheit. Goethe sagt irgendwo: Und was man ist, das blieb man Andern schuldig!“

Geradezu classisch in ihrer Schärfe und Einfachheit sind die Winke, welche Billroth seinem Schüler Professor Mikulicz gibt für die Abfassung eines Compendiums der speciellen Chirurgie: „So etwas muß man machen, wenn man jung ist, später wird man so von des Gedankens Blässe angekränkelt, daß es immer schwieriger wird. Mein Rath ist: Wenn Sie überhaupt Neigung dazu haben, so thun Sie es jetzt! Halten Sie sich an das häufig Vorkommende; die Raritäten deuten Sie nur an, sie haben keinen Werth für die Studenten. Breiten Sie sich gehörig aus, wo Sie aus eigener Erfahrung reden; Anderes er

wähnen Sie nur beiläufig. Die Vollständigkeit eines Lehr buches bleibt immer eine Illusion. Neue Auflagen müssen immer mit neuem Leben wieder in die Welt geschleudert werden. Schreiben oder dictiren Sie flott hinter einander; drei Monate nach dem zuerst Geschriebenen lesen Sie den Anfang wieder und streichen Sie unbarmherzig, wenn auch mit blutendem Herzen. Seien Sie stylistisch sehr streng gegen sich; streichen und corrigiren Sie so lange, bis Alles sich kinderleicht liest. Der Leser muß immer die Empfindung haben, die Chirurgie sei eigentlich sehr einfach und leicht. Treiben Sie keine Polemik! Schmeicheln Sie Keinem; doch sprechen Sie von Jedem, der ernst arbeitet oder gearbeitet hat, immer mit dem Hut in der Hand. Wenn Sie auch seine Meinung nicht theilen.“

Auch pädagogische Grundfragen streift Billroth in einem Briefe an Professor His mit einigen bedeutenden Worten: „Im Ganzen bestärkt sich bei mir immer mehr die Anschauung, daß das Wesentliche der Erziehung fast nur im Beispiel der Umgebung, im häuslichen Ton liegt. Da kommt Vieles von selbst in die Kinder hinein und aus ihnen hinaus, was nie durch Vorschrift oder Lehre zu er reichen ist. Hat man Gelegenheit, der Vergangenheit roher Menschen nachzuspüren, man wird die Quelle meist in dem häuslichen Ton finden und ganz vorwiegend in dem Mangel an mütterlichem Einfluß. Selten überlegt man wol in der eigenen Jugend, daß man nicht nur ein Mädchen zur eigenen Freude, sondern auch die Mutter für die späteren Kinder heiratet; es ist auch fast zu viel von einem jungen Menschen verlangt, das vorzudenken. Es ist in unserer socialistisch an gehauchten Zeit wol ein altes zopfig Wort: „Aus gutem Hause sein“, und doch liegt eine ganze Weltweisheit darin.“ ...

Diese wenigen Beispiele — sie ließen sich leicht verzehn fachen — dürften hinreichend darthun, daß Billroth’s Briefe an Mediciner keineswegs blos für Mediciner interessant sind, vielmehr jedem gebildeten Leser, der im Ueberspringen einiger exotischen Zeilen nicht ungeschickt ist, Lehrreiches und Anziehendes bringen. Wir haben uns heute nur an Billroth, den Arzt und Forscher, gehalten; die reichlichere Ausbeute, welche die Briefe des Musikers und Kunstfreundes gewähren, soll uns ein nächstesmal beschäftigen.