Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Nr. 11427. Wien, Dienstag, den 16. Juni 1896 Hanslick, Eduard Wilfing, Alexander FWF Der Wissenschaftsfond.
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Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Herausgegeben von Wilfing, Alexander Projektmitarbeiterinnen Bamer, Katharina Pfiel, Anna-Maria Elsner, Daniel Austrian Centre for Digital Humanities and Cultural Heritage Wien 2023

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Maschinenlesbares Transkript der Kritiken von Eduard Hanslick.

Nr. 11427. Wien, Dienstag, den 16. Juni 1896 Hanslick, Eduard Neue Freie Presse Morgenblatt Herausgegeben von Etienne, Michael Friedländer, Max Wien 16.06.1896
font-style:italic; font-weight:bold; Deutsch Transkribus OCR und Lektorat. Transformierung der Daten des Transkribus TEI-Export mit "editions.xsl". Formatierung und Referenzen eingefügt. Letztkorrektur für Zwischenrelease.
Billroth in seinen Briefen. II.

Ed. H. Siehe Nr. 11405 der „Neuen Freien Presse“. Es ist das denkbar reizendste Portal, das uns zu der langen Reihe der Billroth-Briefe führt: ein vierzehn Druckseiten füllendes Schreiben, worin der zwanzigjährige Student seiner Mutter, der Frau Pastor Billroth in Greifswalde, das Erscheinen der Jenny Lind in Göttingen schildert. Die berühmte Sängerin hatte sich auf Ersuchen des ihr befreundeten Musikdirectors Wehner gern bereit erklärt, in Göttingen ein Concert zu geben. Die stille Universitätsstadt, welcher musikalische Genüsse spärlich zuflossen, gerieth außer sich in glücklicher Erwartung. Vor Allem die Studenten, und unter diesen zumeist der junge Mediciner Billroth. „Fordere nicht von mir, liebe Mama,“ so schreibt er im Februar 1850, „dir unsere Freude, unsere Wonne und unseren Enthusiasmus zu beschreiben. Das ist unmöglich. Die Gefühle der Begeisterung für etwas Großes und Erhabenes lassen sich nicht schildern, sie lassen sich nur fühlen! Dennoch will ich es versuchen, dir eine Schilde rung von den Tagen, die wir mit ihr, mit der einzigen Jenny Lind, durchgelebt haben, zu geben.“ Keineswegs auf die Rolle des passiven Zuhörers beschränkt, bethätigte sich Billroth als unermüdlicher Concert-Arrangeur und Mit wirkender, übernahm zuerst die Vormerkung der Billette, dann die Kasse. „Nie habe ich bisher so im Gelde herum gewühlt, wie diesen Morgen!“ Mit drei anderen Studenten eröffnete Billroth das Concert mit der Ouvertüre zu Jessonda“, achthändig auf zwei Clavieren. Wie herz lich ihnen Jenny Lind dafür dankte! „Sie impo nirte uns aber durch ihre Worte, ihre Grazie und Anmuth so, daß wir ganz erstarrt dastanden und Keiner von uns ein Wort herausbrachte, so daß wir uns schrecklich lächerlich nachher vorkamen.“ Nun tritt sie auf. Billroth beschreibt aufs genaueste ihren Anzug, ihr Benehmen. Und erst ihr Gesang! „In dem einen Augen blicke rollen Einem die Thränen von den Backen, und im andern möchte man laut aufschreien vor Vergnügen! Des Eindrucks, welchen ich von dem Concert nach Hause nahm, bin ich mir nicht klar bewußt; ich träumte wachend und

irrte noch in dem Zaubergarten der himmlischen Töne um her. Da es uns Allen, die wir sie so nahe bei uns gesehen hatten, unmöglich war, in den nächsten Stunden zu schlafen, so setzten wir uns bei einem Bekannten stumm und schwei gend zusammen. Niemand rauchte oder aß und trank. Jeder war in sich versunken. Darin aber stimmten wir Alle über ein, daß etwas Schöneres von Musik nicht denkbar oder für den Menschen wenigstens nicht ertragbar sein könnte.“ Bill roth sollte der Angebeteten noch näher treten; er darf mit mehreren Collegen sie in ihrem Absteigequartier (bei Wehner) besuchen, wo sie ihnen Lieder vorsingt, mit ihnen Thee trinkt und plaudert. „Als wir uns um 10 Uhr entfernten und sie uns nochmals für die Mühe dankte, die wir für sie gehabt hatten, und uns dann die Hand reichte, hätte ich vor Verrücktheit das Wahnsinnigste anfangen können. So taumelte ich denn nach Hause, immer noch ihre Lieder vor mir hersummend, mehr träumend als wachend!“ Aber es kam immer noch schöner. Jenny Lind, die leidenschaftlich gern tanzte, jedoch selten Gelegenheit dazu fand, arrangirt eine kleine Tanzunterhaltung, zu der natürlich auch Billroth geladen wird.

Abwechselnd tanzt er mit der Göttlichen und spielt er zum Tanz. Bei der Damenwahl erhielt er die erste Cotillon schleife aus ihrer Hand. Ein Fackelzug von 400 Fackeln mit allem studentischen Gepränge zieht an ihren Fenstern vorüber. Als sie am andern Morgen abreist, geben ihr die Studenten feierliches Geleite. In 20 Extraposten folgen sie Jenny’s Wagen, acht schmucke Bursche in Studententracht als Vorreiter. In der Station Northeim heißt es Abschied nehmen. Da wird noch Champagner credenzt und ein Quartett gesungen; die Studenten fallen im Chor ein, dazu die Lind mit hohen Trillern. Dann steigt sie auf einen Stuhl und spricht einige rührende Abschiedsworte an die Studenten.

„O, könnte ich dir, liebe Mama, sagen,“ so schließt Billroth den langen Brief, „wie erhaben man sich in dieser allgemeinen Begeisterung fühlte! Worte sind zu schwach und zu todt, um dies lebendige Gefühl auszudrücken. Ich vermag nichts mehr zu sagen, denn sie ist nicht zu beschreiben. Nur singen kann ich mit ihrem Lied: Wie der Gesang zum Herzen drang, vergess’ ich nicht mein Lebelang!“ Ich glaube, ohne diesen köstlichen Brief ist der ganze Billroth nicht vollständig zu verstehen. Die naive, herzenswarme Kunstliebe, der un verbrauchte Schatz von Jugendbegeisterung und Glücksgefühl kann sich nicht wahrer, nicht schöner aussprechen. Der ganze

Aufsatz ist offenbar in Einem Zug fortwährender Wärme geschrieben und doch zugleich mit der ordnenden Anmuth des guten Erzählers.

In diesem Briefe ist der junge Billroth ganz Musiker und Kunstenthusiast. Nun sehe man gleich das nächstfolgende Schreiben, welches ein Jahr später aus Berlin an Professor Baum in Göttingen gerichtet ist. Da spricht wiederum der wissensdurstige, eifrigste Mediciner, und nur dieser. Also dicht neben einander beide Hälften von Billroth’s Janus kopf. Die Musik und die medicinische Wissenschaft, das waren die beiden Flammen, welche Billroth’s Dasein durch glühten und erleuchteten. Wie schön wußte er beide in sich zu vereinen, wie weise sie auseinanderzuhalten! Ein Abbild von Billroth’s Leben, wechseln in unserer Sammlung medi cinische und musikalische Briefe; nur ganz ausnahmsweise fällt ein versprengter Funke aus dem einen Gebiete in das andere. Sehr natürlich, denn nur ganz ausnahmsweise fand er musikkundige Aerzte und medicinisch gebildete Tonkünstler — Menschen, die, wie er selbst, zwei so verschiedene Geistes thätigkeiten mit gleicher Energie der Einsicht und der Liebe umfaßten. Die musikalischen Leser blättern gewiß zuerst nach den Briefen an Brahms. Sie dürften ihre Erwartungen nicht ganz erfüllt sehen. Nur zwei von diesen Briefen behandeln eingehend Musikalisches: der eine über Schumann’s Schriften, der andere über das Vorherrschen von Dur oder Moll in Volks liedern. Sonst fast nur Einladungen für Mittag oder Abend, kurze Verabredungen zu gemeinsamem Theaterbesuch, trocken skizzirte Reiserouten nach der Schweiz oder Italien u. dgl. Bei diesem Anlaß gestatte man mir, eine bescheidene Frage einzuschieben. Sollte für eine dritte, abermals vermehrte Auflage, die kaum lange ausbleiben wird, sich nicht empfehlen, eine Anzahl kürzerer, unwesentlicher Billette wegzulassen, die thatsächlich nur für den Empfänger Interesse gehabt haben? Es ließen sich viele dieser Art namhaft machen. Selbst von den zweiunddreißig Briefen an den Architekten Gruber dürfte ohne Nachtheil die Hälfte wegfallen, da sie alle rein fachmännisch denselben Gegenstand behandeln; den Bau einer Klinik, die heute noch nicht fertig ist. Jede Brief sammlung verliert dadurch, daß der Leser viele Nummern überschlagen darf oder an ihnen ermüden muß. Die kürzlich erschienene, gewiß werthvolle Sammlung von Briefen Hanns v. Bülow’s leidet in noch höherem Grade an dem gleichen Mißstand. Als ein Muster erscheint hingegen die von Ed. Zeller veröffentlichte Auswahl von Briefen Fr. D. Strauß;

es ist eben eine Auswahl, in welcher wir kein einziges Stück entbehren möchten.

Warum gerade an Brahms so wenige musikalisch interessante Briefe in der Sammlung erscheinen, während er deren bekanntlich so viele besitzt? Daran ist nur BrahmsBescheidenheit schuld, jene echte Bescheidenheit, welche von der bescheiden thuenden Eitelkeit so vieler Künstler wesentlich absticht. In den Briefen an Brahms’ ließ Billroth seinem Enthusiasmus über dessen Compositionen gern freien Lauf. Es widerstrebte Brahms im Innersten, solche Verherrlichung in die Oeffentlichkeit zu schicken; gesprochenes oder gedrucktes Lob weckt überhaupt kein Echo in seiner Seele, noch weniger mag er selbst den Rufer machen. Man muß das anerkennen und sehr bedauern. Was aber Brahms’ Bescheidenheit zu hindern nicht vermocht hat, ist die Veröffentlichung von Briefen, in denen Billroth gegen andere Personen sein Brahms-Herz ausschüttet. So in den zahlreichen Zuschriften an Professor Wilhelm Lübke, welche, ein unverhoffter, neu hinzugekommener Schmuck der zweiten Auflage, überwiegend musikalischen Inhalts sind. Bevor Lübke als Professor der Kunstgeschichte nach Stuttgart kam, docirte er einige Jahre gleichzeitig mit Billroth in Zürich. Mit diesem theilte der geistreiche Schriftsteller und liebenswürdige Gesellschafter die Liebe zur Musik, und so kam es, daß Billroth seine musika lischen Erlebnisse aus Zürich, später aus Wien, größtentheils an Lübke mittheilt. Unter Anderm zwei Aussprüche von Brahms, die für diesen als Künstler und als Menschen höchst charakteri stisch sind. Nach einer Aufführung von „Figaro’s Hochzeitsagt Brahms: „Jede Nummer in Mozart’s „Figaro“ ist für mich ein Wunder; es ist mir absolut unverständlich, wie Jemand etwas so absolut Vollkommenes schaffen kann; nie ist wieder so etwas gemacht worden, auch nicht von Beethoven!“ Mit solcher Verehrung für unsere Clas siker verbindet Brahms die freudigste Anerkennung und För derung jüngerer Talente; wohlgemerkt, wenn sie wirklich Talent haben und recht viel, wie z. B. Dvořak. „Wenn N. N.,“ erzählt Billroth, „von Dvořak etwas mitleidig spricht, sagt Brahms: ich verstehe Sie nicht; ich möchte vor Neid aus der Haut fahren über das, was dem Menschen so ganz nebenbei einfällt.“ Die persönliche Bekanntschaft Brahms’ macht Billroth im Frühjahre 1866 in Zürich. Da spielt Brahms mit Th. Kirchner auf zwei Clavieren symphonische Dichtungen von Liszt. „Horrible Musik,“ wettert Billroth, „Dante, Mazeppa, Prometheus, lauter Höllenmusik, nicht mehr Musik zu nennen; dazwischen wieder

höchst raffinirte harmonische, pseudomelodische Sätze. Beim Dante kamen wir bis zum Purgatorium; ich legte dann vom medicinischen Standpunkte ein Veto ein, und wir purgirten uns mit Brahms’ neuem Sextett, das eben herausgekommen ist. B. und K. spielten es vier händig. Ich weiß noch nicht, was ich darüber denken soll; doch kommt es mir vor, als wenn die melodische Kraft geringer oder von der Keuschheitskunstgedanken-Blässe an gekränkelt wird; die thematische Entwicklung dagegen stei gert sich zu Bach’scher Höhe.“ Was uns an Billroth’s musikalischen Aussprüchen sofort gefangen nimmt, ist deren köstliche Frische, Unbefangenheit und ungenirte Aufrichtig keit. Ohne sein Urtheil Jemandem aufdrängen zu wollen, hat Billroth im brieflichen wie im mündlichen Verkehre seine Eindrücke immer voll und unabgeschwächt zum leben digsten Ausdrucke gebracht. Dabei sind freilich Liszt und Wagner nicht am besten weggekommen.

Aus München schreibt er (1869) an Lübke über eine Aufführung des „Rheingold“: „Das Gedicht kennen Sie: die Charakterlosigkeit der sogenannten Götter, die Unmög lichkeit der deutsch sein sollenden Sprache, die furchtbare Geschmacklosigkeit der Göttercostüme — alles das ist nun leider durch die übermäßig langweilige Musik nicht zu retten, und so fiel denn das Ganze glänzend durch. Nur Einmal (als Alberich überlistet und gefangen wird) glaube ich die Empfindung eines fünfzehn volle Minuten zusammenhängen den Musikstückes gehabt zu haben. ...“ Im Jahre 1872 ersucht er Lübke, gelegentlich einen tüchtigen Hieb auf die Wiener Deutsche Zeitung zu führen, zu deren Gründung Billroth 1000 fl. beigesteuert und in deren „politischen Beirath“ man ihn gewählt hatte. „Vorgestern passirte etwas, was dem Fasse den Boden ausgeschlagen hat. Der Redacteur des Feuilletons läßt sich von der hiesigen Wagner-Clique veranlassen, einen Artikel von Cornelius über Wagner auf zunehmen, und setzt darunter: „Da die Sache Wagner’s nicht mehr von der deutschen Sache zu trennen ist. Die Redaction.“ Von meiner Wuth über diese Anmerkung können Sie sich gar keine Vorstellung machen. Oeffentlich konnte ich nichts machen, da ich ja selbst Unternehmer der Zeitung hin; doch der Redaction habe ich einen Brief ge schrieben, der nicht von schlechten Eltern war. Dem Präsi denten des politischen Beirathes habe ich heute erklärt, daß ich mich somit als ausgetreten betrachte, da ich nicht mehr zu einer Redaction stehen kann, welche die Perspective er öffnet, daß sie nächstens etwa erklärt, die Sache der Herren

Liszt (bei dessen Christus-Oratorium Alles aufhört) oder Mosenthal oder Makart etc. nicht mehr von der deut schen Sache trennen zu können. Man lasse die Musik ganz aus dem Spiele. „Wagner’s Götterdämmerung!“ Und die soll von der deutschen Sache nicht zu trennen sein? Ei, da schlag’ doch der Deibel drein!“

Billroth läßt sich auch von den stolzesten Namen nicht imponiren, wenn ein Werk ihm geradezu widerstrebt. Nach dem er Beethoven’s große D-dur-Messe zum drittenmal gehört, gesteht er: „Für mich ist diese Musik viel todter, als das Schwächste von Bach oder Händel. Nicht, daß es besonders obstrus wäre! Nein, langweilig; unbedeutend in der Erfindung ist es; gequälte, ausgetiftelte Musik. Beet hoven kann nicht für Chor schreiben, es klingt eben Alles nicht. Wenn die Menschen ehrlich sein wollten, so würden die meisten reden wie ich. Für den Musiker von Fach ist dies wie Michelangelo’s Sixtinische Capelle für den Maler.“ Ein andermal nennt er Beethoven’s D-Messe „ein groß artiges Werk, doch ebensowenig rathsam nachzuahmen, wie etwa Michelangelo. Es gibt in der Messe schon recht be denkliche Widerhaken, an denen Liszt und Wagner hängen geblieben sind und noch zappeln.“ Am wärmsten wird Bill roth, wenn er von Brahms spricht. „Sein Triumph lied ist hier mit Orgel und colossalem Chor zu einer wunderbaren Wirkung gekommen; es gehören große Massen dazu, es ist monumentale Musik. Die Wirkung fortgesetzte musikalische Gänsehaut jeglicher an genehmer Art, dabei Alles so einfach übersichtlich, im groß artigsten al fresco-Styl. Es unterliegt keinem Zweifel, daß seit Händel nichts auch nur annähernd so Bedeutendes ge schaffen ist.“ Einen unbeschreiblich tiefen Eindruck nimmt Billroth aus Schumann’sManfred-Musik mit sich fort. Manfred! Ach, daß du ihn nicht hörtest und sahst! Was nützt da alle Reflexion, man kommt ja gar nicht dazu; Vollblutpoesie und Vollblutmusik! Man ist sinnlich betäubt, man träumt, man schwimmt in lauer Luft, ohne sich zu rühren. Die Scene mit dem Geiste der Astarte treibt mir jedesmal das Wasser in die Augen; ja jetzt, wo ich nur daran denke, schauert es mich durch und durch. Die Musik! „Verzeihst du mir? Manfred, lebe wohl!“ Ich sage dir, es ist um toll zu werden. Ist es ein Glück, so etwas zu empfinden, oder ein Unglück?“

Im ersten Winter seines Wiener Aufenthaltes bekommt Billroth eine große Menge vorzüglicher Concerte zu hören; er zählte deren neunzehn in zwei Monaten. „Was sagen Sie

dazu!“ apostrophirt er Lübke. „Ich habe mir vorgenommen, diesen Becher, selbst mit Wermuth versetzt, bis auf den Grund zu leeren in diesem Winter. Wenn jedes Jahr so viel Interessantes kommt, was mir neu ist, so kann man es schon aushalten. Wenn Brahms und Joachim zu sammen Beethoven, Bach, Schubert spielen, so werden nicht die Noten à la Bülow photographirt, sondern die Con ceptionen erscheinen wie lebende Tonbilder vor dem Ohr; sie erscheinen und verschwinden wieder. Mir war es immer sonderbar, daß man dazu klatschen sollte.“ So stark der deutsche Charakter auch in Billroth’s Musikgeschmack vor herrscht, er macht ihn nicht unempfänglich oder ungerecht gegen Fremdes. So schreibt er (1875) über Verdi’s Requiem. „Er ist immerhin ein sehr eigenartiges starkes Talent. Wenn man sagt, das Requiem sei opernhaft, so trifft das nicht ganz zu; es ist eben modern empfundene italienische Musik und ist eben Verdi’sche Musik. Die Aufführung war von blendender Vollendung; man genoß die rein objective Musik, die dem inneren und äußeren Ohr zugleich klingende Partitur. Es sind nicht mehr Verdi’sche Trivialitäten darin, wie Schubert’sche Trivialitäten in einer Schubert’schen Messe; nur daß wir gegen letztere nach sichtiger sind, weil sie uns selbst angehören. Einzelne Num mern sind von köstlicher, reiner Schönheit, andere von vor wiegend äußerlicher Wirkung. Wenn man kein versimpelter Musikgelehrter ist, wird man sich der Wirkung nicht ent ziehen können, zumal beim ersten Hören.“ So viel und liebevoll auch Billroth über Musik nachgedacht hat, er läßt sich nicht durch kritisches Grübeln den unmittelbaren Genuß eines Kunstwerkes verderben. Es zeigt sich darin seine echte, naive Künstlernatur. „Betrachte ich,“ schreibt er (1886) von Brahms, „welchen Werth die genaueste Analyse für unser glückliches Kunstempfinden haben könnte, so möchte ich den selben nicht gar zu hoch anschlagen. Die Freude an der Erkenntniß aller Vorgänge in der Natur und in uns selbst (die wir doch auch nur ein Stück der Natur sind) ist wol auch etwas Schönes; doch die Anschauung des Schönen mit meiner Phantasie macht mich glücklicher. Vieles Wissen und Können befriedigt unsere Eitelkeit, so daß wir uns dann wol großartig auf diesem kleinen Planeten vorkommen; doch sollte ich das Ahnen und Sehnen und Schwärmen darüber missen müssen, ich möchte dann lieber nicht leben!“ Die innige Verschmelzung von Künstler und Gelehrtem in Billroth offenbart sich auch in seiner sehr richtigen Schätzung der Phantasie, als einer

schöpferischen Kraft nicht blos im Künstler, sondern auch im wissenschaftlichen Forscher. Er nennt Jacob Grimm, Alexander v. Humboldt, den Physiologen Johannes Müller, den Physiker Gauß große Gelehrte, nicht nur durch ihre Verstandesmacht und ihr Wissen, sondern durch ihre mächtige Phantasie. „Wenn sich der Forscher nicht vor stellen kann, was er erforschen will, wenn er nicht eine anfangs vielleicht noch ganz unklare Vorstellung von der Bedeutung dessen hat, was er erforschen will, so bleibt er ein Handlanger der Wissenschaft und wird nie ein Meister. Ich habe noch nie einen großen Forscher kennen gelernt, sei es persönlich, sei es aus seiner Biographie, der nicht im Grunde eine Art von Künstler gewesen wäre, mit reicher Phantasie und kindlichem Sinn.“

Die Briefe aus dem letzten Jahrzehnt zeigen ein besonders lebhaftes Interesse Billroth’s an der Gesangskunst. Hervor gerufen ist es hauptsächlich durch das schöne Talent seiner Tochter Else, mit der er leidenschaftlich gerne studirt und die er zur Weiterbildung an Julius Stockhausen in Frank furt empfiehlt. Dahin berichtet er ihr auch aus Wien vor zugsweise von musikalischen Erlebnissen. Ganz entzückt schreibt er über die Patti, sehr scharf über Mascagni’s Rantzau“. Ein ausführlicher, gedankenreicher Brief an Else behandelt das Verhältniß zwischen dem Worte und der Musik im Gesange. „Das moderne Publicum will beim Gesang auch das Wort und den Wortgedanken, umsomehr, je weniger musikalisch das Publicum ist. In der zunehmenden Größe des unmusikalischen Publicums liegt das Geheimniß des Wagnerianismus, des Verschwindens der Chormusik, der Arien, Duette, des Ensemble-Gesanges etc. Der Lieder sänger hat Wortgedanken, in Worte gefaßte Stimmungen, Erzählungen für ein Publicum zum Ausdruck zu bringen und wird dabei durch Töne unterstützt. Diese Töne sind dem Gedicht entsprechend rhythmisch und melodisch geordnet; in einem guten Liede haben diese Töne eine Form für sich, welche neben und über dem Texte steht. Für den Musikalischen ist die Tonform die Hauptsache, die Worte geben nur Stim mung im Allgemeinen. Für den weniger Musikalischen und Unmusikalischen ist der Text die Hauptsache; er will ihn vorerzählt haben mit allerlei mimischen Bewegungen; der Stimmton ist ihm nicht mehr, als eine die Worte erläuternde Klangmimik. Moderne, dramatische, wenig musikalische Sänger gewöhnen sich auf den großen Bühnen eine so groteske körperliche und Klangmimik an, daß sie für den Concertsaal nur Caricaturen bieten, zumal wenn sie ein

fache Lieder singen. In dem dramatischen Gesange ist ihr geringer Sinn für einfache musikalische Schönheit auf gegangen. Selbst „Erlkönig“, von N. N. gesungen, ist mir fürchterlich; sie vergessen ganz, daß eine Ballade nicht ein darzustellender dramatischer Vorgang ist, sondern nur eine theilweise dramatisirte Erzählung. Es gehört mehr In telligenz und Bildung dazu, um diese Unterscheidung zur Geltung zu bringen. Der Sängerkünstler muß eine Empfin dung für das haben, was man Styl nennt. Jenny Lind hatte diese Empfindung; sie hatte einen dramatischen, einen Lieder-, einen Oratorien-Styl, ebenso Stockhausen.“ Außer diesen begegnen wir in Billroth’s Briefen nur Helene Magnus und Gustav Walter als musterhafte Lieder sänger gelobt. Ueber den Zustand der Gesangskunst in Wien und die geringere Empfänglichkeit des Publicums dafür ver nehmen wir manches Wort der Klage. „Wenn anstands halber ein oder zwei Oratorien gegeben werden müssen,“ schreibt Billroth im Jahre 1888, „so muß man fremde Sänger und Sängerinnen kommen lassen. Das Interesse und das Verständniß für alles Feinere und Edlere in der Gesangskunst ist durch die Wagnerei, wenn auch nicht zerstört, so doch ganz in den Hintergrund gedrängt. Nun blüht die Wagnerei nirgends üppiger als hier und trägt die sonder barsten Früchte.“ Trotzdem ist er dagegen, daß der berühmte Sänger „N.“ (es ist wol Stockhausen gemeint) sich in Wien niederlasse; er würde alle Gesanglehrer am Conservatorium und anderen Privat-Musikschulen sofort zu einer mächtigen Coalition bringen. Billroth ergänzt diese Mahnung in einem anderen Briefe durch eine sehr praktische Bemerkung. Er schreibt: „Stockhausen sollte wenigstens jetzt in Frankfurt definitiv bleiben. So wie das Geheimniß einer großen Praxis des Arztes darin liegt, immer am gleichen Ort zu bleiben und die anderen Aerzte zu überleben, so ist es ähnlich auch mit den Gesanglehrern. Der Künstler muß mit dem Ort ganz verwachsen; das ist auch der einzige Schutz gegen alle Schick salswendungen im höheren Alter.“

In der sehr bereicherten neuen Auflage der Billroth- Briefe glänzen noch zahlreiche treffende Aussprüche über Musik und Musiker, verstreute Perlen, an welchen der Leser sofort erkennt, daß der Meister in der Chirurgie kein bloßer Dilettant in der Musik gewesen. Das bezeugt auch die bei gebundene rührende Composition Billroth’s „Ich möchte hingeh’n wie das Abendroth“; ein Herwegh’sches Gedicht, das ihn stets mit bedeutungsvoller, gewaltiger Sympathie bewegt hat.