Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Nr. 11475. Wien, Dienstag, den 4. August 1896 Hanslick, Eduard Wilfing, Alexander FWF Der Wissenschaftsfond.
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Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Herausgegeben von Wilfing, Alexander Projektmitarbeiterinnen Bamer, Katharina Pfiel, Anna-Maria Elsner, Daniel Austrian Centre for Digital Humanities and Cultural Heritage Wien 2023

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Maschinenlesbares Transkript der Kritiken von Eduard Hanslick.

Nr. 11475. Wien, Dienstag, den 4. August 1896 Hanslick, Eduard Neue Freie Presse Morgenblatt Herausgegeben von Etienne, Michael Friedländer, Max Wien 04.08.1896
font-style:italic; font-weight:bold; Deutsch Transkribus OCR und Lektorat. Transformierung der Daten des Transkribus TEI-Export mit "editions.xsl". Formatierung und Referenzen eingefügt. Letztkorrektur für Zwischenrelease.
Hanns v. Bülow’s Briefe.

Ed. H. Die vor mir liegende SammlungBülow’scher Briefe ist ganz eigentlich eine Autobiographie in Corre spondenzform. Hanns v. Bülow: Briefe und Schriften.“ Herausge geben von Marie v. Bülow. Zwei Bände. (Leipzig, Breitkopf & Härtel. 1895.) Zwei starke Großoctavbände von je 500 und 400 Seiten — und doch nur die Zeit von Bülow’s 11. bis zu seinem 25. Jahre umfassend! Also seine Kinder-, Lehr- und ersten Wanderjahre. Erst die folgenden Bände sollen von seiner künstlerischen Reise sprechen und von seinem Ruhme. Hanns v. Bülow hat musikalisch in dreifacher Eigenschaft gewirkt: als Componist, als Clavier-Virtuose und als Dirigent. Sein schöpferisches Vermögen, weder reich noch eigenartig, konnte ihm einen Platz in der Musik geschichte nicht erobern; die wenigen gedruckten Composi tionen Bülow’s sind längst vergessen und haben niemals lebendig gewirkt. Als Virtuose hingegen und als Dirigent entfaltete er ein glänzendes Talent und eine bewunderungs würdige Thätigkeit. Auf diesem Gebiete einer der Allerersten gewesen zu sein, reicht das hin, wird man fragen, zu einem so pyramidalen literarischen Denkmal wie diese, nur den An fang bildenden zwei Bände? Gerade an erstaunlichen Clavier-Virtuosen und genialen Dirigenten ist unsere Zeit nicht arm; sie ist daran reicher, als irgend eine frühere Periode. Welche Ausnahmsstellung gebührte also Bülow gegenüber seinen gefeiertsten Collegen? Die einer geistvollen, hochgebildeten, in allen Lebensäußerungen energischen und interessanten Persönlichkeit. Und darum lesen wir seine Briefe mit so lebhaftem Antheil. Bülow’s ver ehrungswürdige Witwe (eine geborene Wienerin, als Fräu lein Schanzer ein hervorragendes Mitglied des Meininger Hoftheaters) hat durch die Herausgabe der Briefe wie durch ihre vortrefflichen biographischen Erläuterungen dazu sich ein unleugbares Verdienst erworben, nicht blos um das An denken ihres Gatten, sondern auch um die musikalische Specialgeschichte der letzten 45 Jahre. Es ist an diesen Bänden viel zu loben und zu lernen. Eben deßhalb möchte ich ein kleines Bedenken mir lieber jetzt gleich vom Herzen reden, um dann ganz unbeirrt das Gegebene zu genießen. Dieses Bedenken richtet sich gegen die enorme Ausdehnung und Ueberfülle der Briefsammlung. Zwei so dicke Bände,

und das Alles nur Briefe aus Bülow’s ersten 25 Jahren! Das heißt doch, um ein Wort Shakespeare’s anzuwenden, „to make the service greater than the god“. Die Briefe aus Bülow’s Knabenjahren hätten wol wegbleiben dürfen; sie interessiren doch nur seine Familie. Man sehe die Briefe an seine Schwester Isa, mit all den kindischen Fragen und Mittheilungen über das kleine Hündchen, die Circusvor stellungen und dergleichen; man lese die neun Druckseiten füllende Reisebeschreibung des 16jährigen Hanns an seine Mutter, die eingehenden Berichte über die Krankheit des „kleinen Arnoldchen“ u. s. w. Aber auch die späteren Briefe hätten eine strengere Auswahl vertragen. Bülow schildert nämlich dieselben Erlebnisse oft in zwei, auch drei ver schiedenen Briefen: an seinen Vater (in der Schweiz), an die Mutter und die Schwester (in Dresden), an die Freunde Raff, Uhlig, Cornelius; in späterer Zeit an Liszt und an die Mutter. Schreibt er doch selbst einmal aus Weimar an seine Schwester: „Du hast keinen Begriff, wie gräßlich es ist, zweimal dasselbe sagen zu müssen, zudem wenn man über einen langweiligen Gegenstand Mittheilungen macht.“

Wichtiger und interessanter werden die Briefe von 1848 bis 1849. Da finden wir den jungen Bülow als Studirenden der Jurisprudenz an der Universität Leipzig. Es war mehr der Wille der Eltern als sein eigener Wunsch, was ihn zur Juristerei führte. Hatte er doch bereits Proben einer ungewöhnlichen Musikbegabung abgelegt, sogar in Stuttgart schon 1845 öffentlich concertirt. Allein seine Eltern konnten sich mit dem Gedanken nicht befreunden, daß ihr Sohn die so unsichere, obendrein für den Träger eines altadeligen Namens unpassende Virtuosenlaufbahn erwähle. Er hatte es übrigens nicht zu bereuen, sich eine zeitlang mit Jurisprudenz, Philosophie und Sprachen be faßt zu haben — Studien, denen er die Erweiterung seines geistigen Horizonts und damit die Ueberlegenheit über die meisten seiner Fachgenossen verdankte. Der Aufenthalt in Leipzig während des Revolutionsjahres 1848/49 brachte ihm peinvolle Stunden. Bülow war von Herzen demokratisch gesinnt, so gern er in seinem gesellschaftlichen Auftreten den „Cavalier“ merken ließ. Hielt er es doch trotz seiner Mittel losgkeit für unschicklich, von zwei vornehmen Damen in Weimar Honorar anzunehmen für den ihnen ertheilten Clavierunterricht; er habe „großen Widerwillen gegen diesen unadeligen Act“. Aber in der Achtundvierziger-Bewegung stand er mit allen seinen Sympathien auf Seite des Volkes und mußte täglich schweigend, knirschend anhören, wie seine

hochconservativen Verwandten, bei denen er wohnte, jede freiheitliche Regung verdammten. Natürlich wurde da auch Richard Wagner wegen seiner Theilnahme an der Revolution heftig geschmäht, er, den der junge Bülow schwärmerisch verehrte. „Ich wollte dir etwas ver schweigen,“ schrieb er nach dem Dresdener Mai-Aufstande an seine Mutter, „allein es ist mir unmöglich, ich muß damit heraus: ich kann es in diesem Hause nicht mehr aushalten, denn ich bin ein Mensch und keine Maschine. Jede Stunde hier ist eine Qual. Die deutlich ausgesprochene Geringschätzung, ja Verdächtigung in den letzten Tagen ist nicht mehr zu ertragen. Ich wollte, ich wäre kein Mensch, sondern ein dummes unvernünftiges Thier, um nicht die Empfindungen zu fühlen, die mich durchpeitschen! Ich bitte dich flehentlich, schick’ mich anderswo hin — trockenes Brot wäre mir lieber!“ Sein Leipziger Exil dauerte nicht lange. Nach einem für Bülow sehr wichtigen Ausflug nach Weimar, wo er Liszt kennen lernte, übersiedelte er 1849 nach Berlin, um an der dortigen Universität seine Studien fortzusetzen und in Musikzeitungen als enthusiastischer Kämpfer für Richard Wagner aufzutreten. Dieser war sein Ideal in Allem und Jedem; er wehrt sich heftig dagegen, daß man „die HeiligkeitWagner’s“ antaste. Ueber diese „Heilig keit“ hatte Bülow in späteren Jahren freilich recht schmerz liche Erfahrungen am eigenen Leib zu machen. In Berlin hört er zuerst von der geplanten Aufführung des „Lohen grin“ unter Liszt’s Leitung in Weimar. „Käme es zu Stande, so müßte Weimar die Hauptstadt der Welt werden!“ Natürlich reist Bülow zu dieser Aufführung nach Weimar, wo die musikalischen Eindrücke, insbesondere auch der tägliche Verkehr mit Liszt, den entscheidenden Wende punkt in seinem Leben vorbereiten.

Die Sehnsucht, ganz der Musik zu leben, wächst immer heftiger in ihm, im selben Maße die Unzufriedenheit mit dem „gräulichen Berlin“. Was die Gemüthsverfassung des jungen Mannes vollends trüben mußte, war der offenkundig hervorgetretene Zwiespalt zwischen seinen Eltern. Der Vater wie die Mutter, sie Beide waren in ihrer Art vortreffliche Menschen, aber durchaus nicht harmonisch zusammengestimmt. Eduard v. Bülow ließ sich von seiner Frau scheiden und heiratete eine Verwandte, Louise v. Bülow. Mit dieser über siedelte er in die Schweiz, wo er ein kleines Schloß, Oetlis hausen im Thurgau, angekauft hatte. Hanns v. Bülow’s Mutter und sein Schwesterchen Isa blieben in Dresden zurück. Er selbst begab sich nach Oetlishausen zu Besuch

bei seinem Vater und schien dort anfangs wohlauf und zu frieden. Eines Morgens aber war Hanns verschwunden. Er fehlte zum Frühstück, zu Tische, zum Abendessen. Alle Nachfragen blieben erfolglos. Der Vater äußerte sehr bald: Hanns ist gewiß zu Wagner nach Zürich ge gangen. So war es auch. Er hatte in der nächsten Station, Rorschach, die Post genommen und sich nach Zürich gewendet. Anderntags kam er zurück, sehr ergriffen und aufgeregt. Er fiel dem Vater zu Füßen und bat, ihn Musiker werden zu lassen. Der Vater gab nach, unter dem Vor behalt, daß auch die Mutter einwillige. Die beiden Briefe Bülow’s an seine Mutter, worin er seinen Lebensplan aus einandersetzt und ihre Zustimmung erbittet, gehören zu den schönsten Zeugnissen für seine kindliche Liebe wie für die Reife seines Verstandes und Charakters. „Ich versprach dir,“ schreibt er der Mutter im September 1850, „Jurisprudenz zu studiren, und bin auch heute noch gesonnen, mein Ver sprechen zu halten. Aber verhehlen kann ich es dir nicht länger: es mangelt mir ebensowol Talent als Lust und Liebe, um ein guter Rechtsgelehrter, ein Mann der Wissen schaft zu werden. Zum Staatsdienst ist es mir rein unmög lich, mich zu entschließen, ich passe zu wenig in dieses mir unbeschreiblich verhaßte Gebiet.“ Wenigstens ein „Probe halbjahr möge sie ihm bewilligen, um unter Wagner’s Leitung in Zürich sich zum praktischen Musiker auszubilden“. Als die Mutter auf ihrer Weigerung verharrte, schrieb Bülow ihr einen zweiten, langen, rührend liebevollen Brief:

„Lange habe ich geschwankt und gezaudert, dir zu schreiben, denn ich habe dir gegenüber ein böses Gewissen; ich habe eine gewaltsame Verletzung aller kindlichen Pflichten gegen dich begangen und bin mir dessen vollkommen bewußt, da nicht Leichtsinn mich bethört und keine Ueberstürzung stattgefunden hat, denn sonst wäre ihr ja die Reue auf dem Fuße nachgefolgt, und ich wäre nicht mehr hier und unser Verhältniß zu einander nicht gebrochen oder gestört. Ich be reue jedoch die That, die vom Standpunkte meiner heiligen Pflichten gegen dich verwerflich zu nennen ist, nicht und fürchte nun, dein gerechter Zorn habe über die Mutterliebe den Sieg davongetragen; ich fürchte — und Thränen stehen mir bei dieser schmerzlichsten aller Besorgnisse in den Augen — du könntest von deinem Sohne, der sich von seiner Mutter selbst getrennt, nichts mehr wissen wollen; du er kennest ihn nicht mehr als solchen an; du werdest vielleicht auch jedes von ihm gekommene Schreiben ungelesen ver nichten. Ich gab mich keiner milden Täuschung hin; ich

machte es mir klar, daß das Alles natürlich sein würde, daß ich allein die Schuld trage und es nicht anders verdient habe. Und dennoch konnte ich mich nicht darein ergeben, konnte es nicht fassen, und die Furcht, die traurige, unselige Gewiß heit zu erlangen, daß dem so sei, hielt mich vom Schreiben ab. Besteht nun auch heute dieselbe Furcht noch in vollem Maße, so läßt es mir doch keine Ruhe und drängt mich, den Versuch zu machen, dich zu fragen, ob es wirklich wahr sei, daß ich unser Verhältniß unwiderruflich aufgelöst, daß ich mir die Mutterliebe durch meine That rebellischen Un gehorsams auf immer verscherzt habe. Ich vermag nicht zu glauben, daß es wirklich so sein könne, daß deine unbesieg bare Antipathie gegen den Mann, den ich so hoch verehre und der durch die warme, herzliche Theilnahme, durch die väterliche Fürsorge für mich sich die größten Ansprüche auf meine Liebe und Dankbarkeit erworben hat, so allmächtig sein könnte, dir den Sohn ganz aus dem Herzen zu reißen. ... Es ist meine Bestimmung, die entschieden sich an den Tag legende Tendenz meiner Kräfte und Anlagen, Wagner nachzustreben, ohne sklavische, kindische Nachahmung. Ich sage jetzt: besser selbst ein mittelmäßiger Musiker als ein guter, sogenannt tüchtiger Jurist. Wagner glaubt, ich werde ein guter Musiker, ein bedeutender Künstler: es ist an mir, sein Vertrauen im Laufe der Zeit zu rechtfertigen. Diesen Winter absolvire ich hoffentlich mein Brotstudium, ich werde ein guter, routinirter Dirigent, wozu ich — nach Wagner’s Worten — die entschiedenste Anlage durch meine Feinheit des musikalischen Ohres, durch die Leichtigkeit meiner Auffassungsgabe, meiner schnellen Uebersicht, meines fertigen Clavierspiels besitze. Als Dirigent werde ich dann überall mein Brot verdienen können und in den Stand gesetzt sein, ohne Nahrungssorgen zu produciren.“

Sowol R. Wagner wie Liszt suchten in hochinter essanten, ausführlichen Briefen (welche dem ersten Bande beigedruckt sind) Bülow’s Eltern zu überzeugen, wie unrecht sie thäten, wenn sie ihren so genial angelegten Sohn seiner natürlichen Bestimmung, der Musik, entziehen wollten. R. Wagner erklärt der MutterBülow’s unumwunden, daß er ihren Wunsch, Hanns möchte seine juridischen Studien fortsetzen, für verderblich halte. „Verderblich für die fernere Entwicklung des Charakters und der Thätigkeit Ihres Sohnes, verderblich für die Erhaltung eines gedeih lichen, ungestört liebevollen Verhältnisses zwischen Mutter und Sohn. ... Geben Sie willig, gern und schnell dazu Ihre Zustimmung, daß Ihr Sohn nicht einen Augenblick

mehr im Zwange gegen seine wohlbegründete und geprüfte Neigung lebe!“ Die MutterBülow’s blieb ungerührt; der Vater gab endlich nach, als Hanns durch Wagner’s Ver mittlung eine Art zweiter Capellmeisterstelle in Zürich erhielt. Diese Herrlichkeit währte freilich nur zwei Monate. Nach einem scharfen Wortwechsel Bülow’s mit dem Gatten der Züricher Primadonna erklärte diese, unter der Leitung Bülow’s nicht mehr auftreten zu wollen. Die Sängerin war dem Director unersetzlich, und so mußte der junge Capell meister das Feld räumen. Mit beiden Händen ergriff er die ihm angebotene Capellmeisterstelle an dem kleinen Theater in St. Gallen. Was hatte er da Alles zu leisten und zu erdulden! Das kleine, ungeübte Orchester be stand aus lauter Dilettanten, die sehr schlecht spielten, aber sehr höflich behandelt sein wollten. Nach der ersten Probe kommt Bülow „fast“ zu der Ueberzeugung, daß mit diesen Leuten absolut nichts anzufangen sei: „es ging nicht einmal infam, es ging gar nicht“. Seine Briefe erzählen höchst er götzliche Details aus seiner Capellmeisterei in St. Gallen. Jedenfalls hat er dort durch die unbarmherzige Praxis viel gelernt; er wird früh ein eminenter Dirigent. Bei dem Studium des „Freischütz“ gelangt Bülow zu der fortan von ihm festgehaltenen Einsicht und Methode: die Partitur gründlich durchstudiren heißt sie auswendig lernen. „Erst wenn man es mit einer Oper so weit gebracht hat, das heißt mit einer guten Oper, wo jede Note, jede Nuance, jedes Instrument seine besondere Bestimmung und Bedeu tung hat, glaube ich, ist man im Stande, sie gut einzu studiren und zu dirigiren, was nur geschehen kann, wenn man nicht nöthig hat, in die Partitur hineinzublicken.“

Aus diesem qualvoll beengenden Wirkungskreis erlöst ihn Liszt, der, im Einverständnisse mit Bülow’s Eltern, ihn in Weimar bei sich aufnimmt und persönlich seine weiteren Musikstudien leitet. Die Weimarer Periode (1851 bis 1853) wurde für Bülow’s Ausbildung zum Clavier virtuosen der wichtigste Abschnitt seines Lebens. Liszt erwies sich ihm da als genialer Führer und als väterlicher Freund. In Liszt’s Wohnung auf der Altenburg fühlte sich Bülow bald heimisch, gewann auch die specielle Zuneigung von Liszt’s Freundin, der Fürstin Wittgenstein. Es ist eine feine Bemerkung von V. Widmann, daß man alle diese Per sonalien mit verdoppelter Theilnahme liest, weil man sich vergegenwärtigt, welche intimeren Bande diese genialen Menschen später noch enger verknüpfen sollten und welche schicksalsvollen Beziehungen diese Verhältnisse dann durch

Wagner erhielten. Der Leser genießt hier einmal das Ver gnügen einer allwissenden Vorsehung, welche die gegen wärtigen Beziehungen der handelnden Personen zugleich mit der Kenntniß ihrer ihnen selbst noch verborgenen zukünftigen Schicksale überblickt. Die Briefe aus Weimar sind ganz be sonders charakteristisch für Bülow, den ehrlichen, hoch begabten, aber rücksichtslosen und nicht selten anmaßenden jungen Mann. Er lebte nach seiner Devise „honnête et exalté“. Seine Mutter berichtet nach einem Besuche in Weimar über ihn: „Hanns ist sehr fleißig, aber in beständiger Aufregung; er würde sehr viel leisten, aber leider widmet er seine meiste Zeit der Verherrlichung Wagner’s; er ist fanatisirt und opfert sich gänzlich auf, setzt sich und alle seine Zwecke hintan deßhalb.“ Die Exaltation für Wagner macht ihn auch (ganz verschieden von Liszt) ungerecht gegen jede andere Richtung. Daß Auber’s „Fra Diavolo“ in Deutschland noch gerne gehört werde, findet er lächerlich, da doch diese Oper in Frankreich selbst längst beseitigt sei. Aber „Fra Diavolo“ ist heute noch ein Lieblingsstück im Repertoire der Opéra Comique. Er verflucht „die wahrhaft unermeßlich verderblichen Wirkungen, welche der französische und ita lienische Schund seit der Juli-Revolution auf allen deutschen Bühnen ausgeübt hat.“ Als er in einem Orchesterstücke seines Freundes Raff die Pauken schlägt, ärgert es ihn nachträglich, weil er erfährt, Meyerbeer habe einmal Cherubini denselben Dienst erwiesen. Gegen Henriette Sonntag schreibt er einen fulminanten Artikel, „der sich gewaschen hat“; hauptsächlich wegen ihrer „schäbigen Wahl“ (Regimentstochter, Martha) und wegen der Verwerflichkeit des Coloraturgesanges überhaupt. Diese „von Frechheit platzende“ Recension über eine der berühmtesten Künst lerinnen „machte Scandal“, wie Bülow selbst nicht ohne Befriedigung voraussagte. „Meine Unpopularität ist hier grenzenlos,“ schreibt er aus Weimar im Mai 1852 an seine Mutter; „ich freue mich höchlichst darüber, da sie eine Filial-Unpopularität der Liszt’schen ist und das qu’ils me haïssent, pourvu qu’ils me craignent hier anwendbar ist.“

Nachdem Bülow in Weimar (in Joachim’s Quartett- Soirée), dann bei dem Musikfeste zu Ballenstedt als Clavier spieler großen Beifall geerntet, entwirft er mit Liszt den Plan zur ersten Kunstreise. Das Ziel derselben ist Wien. „Meine eigentliche Absicht in Wien,“ schreibt er dem Vater, „besteht darin, so viel Geld als möglich zu machen, denn eine ruhige Unabhängigkeit ist mir vor Allem für ein Künstlerleben und Wirken, wie ich es mir wünsche, voll

kommen unentbehrlich.“ Welch bittere Enttäuschung harrte seiner! Gegen Ende der Saison kommt Bülow nach Wien und gibt am 15. und 19. März zwei Concerte. „Mein erstes Concert brachte neben der Ausgabe von 133 fl. 19 kr. die Einnahme von 28 fl. Ich hatte also 105 fl. darauf zu zahlen! Mit dieser Unsumme hatte ich das Recht erkauft, meinen Namen in mehr als einem Dutzend Blättern auf das unsinnigste heruntergerissen zu sehen ...“ schreibt Bülow an seine Mutter. Liszt’s Empfehlungen hatten ihm nichts genützt, Namen und Bekanntschaften besaß er noch nicht ... dafür befand er sich trotz Liszt’s Generosität — er hatte ihm 200 fl. vorgestreckt — schon nach ein paar Tagen seiner Anwesenheit in schweren Geldcalamitäten. Er sieht sich von lauter Feinden umringt, „cynisch“ und „wie nerisch“ dünkt ihm dasselbe, das Wiener Klima „ruinirend“, er findet, daß in dieser Stadt „die Commodité des Alters ist“ ... kurz, in Wien ist Alles schlecht, abscheulich, miserabel. Die Worte: „... ich hätte am liebsten während des Spieles abbrechen, einige Stühle dem Publicum ins Gesicht schleudern ... mögen,“ zeichnen so ziemlich vollständig seine Stimmung.

In Oedenburg, Preßburg und Budapest erringt er ehrenvollen Beifall, aber so wenig Geld, daß er auf Unter stützung vom Hause angewiesen bleibt. Den Glauben an seinen Beruf vermag aber all das Mißgeschick nicht zu er schüttern. Er schreibt an die Mutter: „Ich mache mir einerseits Vorwürfe und Gewissensbisse, daß ich dir so viel wirklich theures Geld koste, während andererseits das Be wußtsein meines — ich darf es nach den bitteren Erfah rungen, nach den tiefen Entmuthigungen wol sagen — außergewöhnlichen Talents mich wieder Muth fassen läßt und mir die Hoffnung gibt, doch einmal zur Geltung und zu Geld zu kommen.“ In Berlin und Hamburg spielt Bülow mit großem künstlerischen Erfolg; aber der klingende Lohn will sich auch da noch nicht einstellen. Kein Wunder, wenn seine Briefe aus dieser Zeit ein manchmal gereiztes und verbittertes Gemüth offenbaren. Auf einer dieser Kunst reisen lernt er Brahms kennen, dessen Erscheinen er anfangs unter dem Eindrucke der bekannten Prophezeiung Schumann’s mißtrauisch beobachtet hatte. Jetzt schreibt er (aus Hannover, 6. Januar 1854) an die Mutter: „Den Robert Schumann’schen jungen Propheten Brahms habe ich ziemlich genau kennen gelernt; er ist seit zwei Tagen hier und immer mit uns. Eine sehr liebenswürdige candide Natur und in seinem Talent wirklich etwas Gottesgaden thum im guten Sinne!“

Und wieder einen Monat später meldet er der Mutter aus Hamburg (28. Februar 1854), daß er im morgigen Concert „einen Satz aus der Sonate von Brahms“ spielen werde. Das ist, den Briefen nach, der Anfang der Beziehun gen Bülow’s zu dem „dritten B“, das in jenem späteren Ausspruche Bülow’s: „Mit den drei B’s gedenke ich an meinem Lebensabend auszukommen“ — neben Bach und Beethoven gemeint ist.

Eine entscheidende Besserung in Bülow’s Verhältnissen trat erst ein, als er an das Stern’sche Conservatorium in Berlin als erster Clavierlehrer berufen wurde. Von da aus verbreitete sich immer weiter und nachhaltiger sein Ruhm. Auch seine Mutter, mit welcher er in Berlin nach langjähriger Trennung wieder zusammenleben konnte, hatte nun ihr früheres Widerstreben überwunden und wurde eine über zeugte, rückhaltlose Bewunderin ihres geliebten Sohnes.

Hanns hat vollendet gespielt,“ schreibt sie im Jahre 1855, „ganz unirdisch schwebt der Ton in der Luft, und seine Auffassung und Ausführung gibt ein Drama. Mit Blick und Ton weiß er das Publicum zu bannen, daß es nicht zu athmen wagt. ... In dieser Herrschaft, die er über die Hörer ausübt, liegt für ihn der Reiz des öffent lichen Spielens ... Es ist in der That ein eminentes Talent! Etwas Dämonisches! Möge ihm endlich Anerkennung und die Stellung werden, die ihm gebührt!“

Mit diesen Worten von Bülow’s Mutter schließt der zweite Band der uns vorliegenden Briefsammlung. In diesen beiden Bänden, auf deren Fortsetzung man mit Recht gespannt sein darf, finden wir die markantesten Eigenthüm lichkeiten der Bülow’schen Individualität stark und unver kennbar ausgeprägt. „Ein in tiefem Wahrheits- und Gerechtigkeitsdrang begründetes leidenschaftliches Verlangen, jeder bedeutenden Künstler-Erscheinung zu ihrem vollen Recht zu verhelfen, und zwar lange bevor sich eine ihr günstige Strömung in der Oeffentlichkeit bemerkbar macht, und im Zusammenhange damit die rücksichtslose Bekämpfung von Allem, das sich, bewußt oder unbewußt, diesem Recht ent gegensetzt; der persönliche Muth, in solchem Kampfe keine Schwierigkeit zu kennen, keinen Ausdruck und keinen daraus etwa für ihn resultirenden Nachtheil zu scheuen“ — so be zeichnet Frau Marie v. Bülow in einer treffenden Charakteristik die glänzende und sympathische Persönlichkeit ihres Gatten. Wir sehen den folgenden Bänden der Bülowschen Briefsammlung mit Spannung und Begierde entgegen.