Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Nr. 11576. Wien, Samstag, den 14. November 1896 Hanslick, Eduard Wilfing, Alexander FWF Der Wissenschaftsfond.
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Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Herausgegeben von Wilfing, Alexander Projektmitarbeiterinnen Bamer, Katharina Pfiel, Anna-Maria Elsner, Daniel Austrian Centre for Digital Humanities and Cultural Heritage Wien 2023

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Maschinenlesbares Transkript der Kritiken von Eduard Hanslick.

Nr. 11576. Wien, Samstag, den 14. November 1896 Hanslick, Eduard Neue Freie Presse Morgenblatt Herausgegeben von Etienne, Michael Friedländer, Max Wien 14.11.1896
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Concerte. (Die neuesten Compositionen von Brahms und Dvořak.)

Ed. H. Dem Sänger Herrn A. Sistermans ge bührt das Verdienst, Brahms neueste Tondichtung zum erstenmale öffentlich gesungen zu haben: „Vier ernste Ge sänge für eine Baßstimme“ (op. 121). Ernst in der That, bedrückend ernst sind diese lyrischen Monologe, welche unser bibelfester Brahms sich aus der Heiligen Schrift ausersehen hat. Leiden und Sterben, das ist der dumpfe Grundten, auf den die ersten drei Gesänge gestimmt sind. Er klingt am stärksten in dem ersten, resignirt pessimistischen Stück: „Denn es gehet dem Menschen wie dem Vieh; wie dieses stirbt, so stirbt auch er, und haben alle einerlei Odem.“ Von allen vier Gesängen ist dieser erste der ergreifendste, zugleich der ausgeführteste. Zweimal wechselt das düstere Andante mit einem leidenschaftlichen Allegro im Dreivierteltact. Dieses Allegro: „Es fährt alles an Einen Ort“, bringt zu dem verzweifelten Inhalt des ersten Theiles nicht etwa einen Gegensatz, sondern eine leidenschaftliche Steigerung. Die wild aufstürmende Triolen- Figur, fast immer in Gegenbewegung zur Singstimme, be ruhigt sich nur vorübergehend einmal zu dem ersten Zeit maß. Der Gesang schließt trostlos mit der dem altjüdischen Glauben entsprechenden Verneinung einer Fortdauer nach dem Tode. Das zweite Stück (aus demselben Salomonischen Buche der Prediger) klagt, daß die Gerechten Unrecht leiden unter der Sonne und haben keinen Tröster. „Da lobte ich die Todten, die schon gestorben waren, mehr als die Leben digen; und der noch nicht ist, ist besser als alle Beide.“ Der Gesang schreitet in gleichmäßig schweren Athemzügen klagend einher; die Begleitung wird an einigen nachdrück licheren Stellen bewegter, einschneidender. Nach Salomon spricht an dritter Stelle Jesus Sirach, der schon 200 Jahre vor Christus ganz im Geiste so vieler protestantischer Kirchenlieder den Tod als eine Wohlthat preist. Zu dem in Moll stehenden Anfang („O, Tod!“) bringt der Mittelsatz

in E-dur ein lichteres Gegenbild; dort ward der Tod als bitter beklagt von dem Menschen, „der gute Tage und ge nug hat und ohne Sorge lebet“, hier als Erlöser begrüßt „von dem Dürftigen, der in allen Sorgen steckt und nichts Besseres zu hoffen noch zu erwarten hat“. Der vierte und letzte von Brahms’ „Ernsten Gesängen“ ist der einzige, der nicht vom Tode handelt; er tritt aus dem engen Kreis trostlos pessimistischer Lyrik, ein Stückchen Himmelsblau, das sich aus dem schwarzen Gewölk hervorkämpft. Es ist die oft citirte Stelle aus Paulus erstem Korinther brief: „Wenn ich mit Menschen- und mit Engels zungen redete und hätte die Liebe nicht, so wär’ ich ein tönendes Erz oder eine klingende Schelle.“ Auffallend heftig beginnt die Rede, etwa als wolle sie mit „Ihr Halsstarrigen!“ anheben, echt Brahmsisch sind die zornig herabspringenden Bässe. Der eifrige, stellenweise zu leichterer Figuration sich belebende Predigerton mildert sich zu sanfter Betrachtung in dem Adagiosatz: „Wir sehen jetzt durch einen Spiegel“ und vergönnt sich sogar zu den Worten: „Die Liebe ist die größte unter ihnen“ einen wärmeren melodischen Abschluß.

Kein Zweifel, daß diese neuesten Gesänge von Brahms zu seinen tiefstempfundenen und künstlerisch vollendetsten ge hören. Populäre Concertnummern oder Lieblingsstücke unserer Dilettanten zu werden, das bleibt ihnen wol ver sagt; sowol durch die niederdrückende Traurigkeit der Texte, wie durch den herben Ernst der Musik und ihre strengen Anforderungen an den Sänger. Ihr Styl erinnert zu nächst an das Deutsche Requiem und das Schicksalslied. Dieser Styl ist Brahms’ unbestreitbares Eigenthum, wenn gleich seine Wurzeln zutiefst in Bach ruhen. Dasselbe gilt ja auch von Mendelssohn’s geistlichen Tonwerken; und doch, wie sehr unterscheiden sich auf den ersten Blick der Psalter Mendelssohn’s von jenem Brahms’! Sebastian Bach, dort nachwirkend in einer weichen, sanften Individualität, hier in einer starken und herben. Von den „Vier ernsten Gesängen“ könnte jeder seine Stelle in einem Oratorium finden, und so wecken sie in uns ein stilles Bedauern, daß Brahms sich zu einem Oratorium niemals entschlossen hat.

Seit Mendelssohn sind es doch nur Talente zweiten Ranges, welche sich im Oratorium bethätigt haben und deren (wirk licher und vermeintlicher) Glaubenseifer uns nur zu oft ersetzen soll, was ihnen an musikalischer Schöpferkraft fehlt. Die ganze Kunstgattung ist entschieden gesunken: die Chorvereine müssen nach allen Versuchen mit Hiller und Löwe, Schneider und Meinardus, Massenet und Tinel doch immer wieder auf Bach, Händel und Mendelssohn zurückgreifen. Brahms allein wäre im Stande gewesen, das Oratorium wieder zu heben; er allein besitzt neben der großen Kunst auch die große Autorität, von welcher ein etwas verweltlichtes Publicum selbst sehr Strenges und Herbes vertrauensvoll aufnimmt. Eine Probe davon, in kleinerem Umfange allerdings, hat der Vortrag der vier ernsten Gesänge durch Herrn Sister mans geliefert. Welch athemlose Stille und Andacht in dem gedrängt vollen Saale! Welch gerührter Beifall nach jedem Stück! Und, das Allermerkwürdigste: der dritte Gesang „O, Tod!“ mußte auf anhaltendes Drängen wiederholt werden. Ein besonders heiteres, angenehmes Stück ist das gewiß nicht. Brahms hat sich sein Publicum schon erzogen; er hat (um eine französische Wendung zu brauchen) sich ihm imponirt.

Die neuen Brahms-Gesänge stellen, wie erwähnt, große Anforderungen an den Sänger. Sie verlangen eine aus giebige Stimme von beträchtlichem Umfange, vollkommene Beherrschung des Athems, der Aussprache, der Declamation, also, ganz abgesehen von der geistigen Potenz, eine meister hafte Gesangstechnik. Herr Sistermans, bekanntlich ein würdiger Schüler Stockhausen’s, hat seine ganze Kunst für das ihm sympathische Werk aufgeboten. Vielleicht wäre der Geist der Composition noch echter hervorgetreten, ohne so übermäßigen Aufwand an Stimme, wie er namentlich in dem vierten Gesange auffiel. Herrn Rückauf’s Clavier begleitung erhob sich neben dem Gesange zu einer gleich werthigen Kunstleistung.

Ein ungewöhnlich glücklicher Anfang der Concertsaison gab uns an zwei aufeinanderfolgenden Abenden ein neues Werk von Brahms und ein neues von Dvořak zu hören. Sein jüngstes Streichquartett in As-dur (op. 105)

zeigt uns Dvořak in der Fülle seines Talents, im schönsten Gleichgewichte seiner Fähigkeiten. Gesund, klar und ein präglich, ohne banal zu werden, geistreich ohne eitle Bi zarrerie, gehört dieses Werk zu den besten dieses Autors. Erstaunlich und erfreulich nennen wir die Fruchtbarkeit Dvořak’s, der, spät in die Oeffentlichkeit getreten, doch schon über hundert Werke publicirt hat, fast genau so viel wie der um ein Jahrzehnt ältere Brahms. Dieser ist die tiefere und reichere Natur, Dvořak die naivere und leichter produ cirende. Man hat manchmal die Empfindung, als ob Beide einander ergänzten; der optimistische und volksthümliche Grundzug in Dvořak und der tiefsinnig pathetische, exclu sivere in Brahms. Uns ist die eine Tonart so unentbehrlich wie die andere. Unter den so rasch sich drängenden Com positionen Dvořak’s können nicht alle gleich inspirirt, nicht alle gleich ausgereift sein; trotzdem darf man freudig zu gestehen, daß seine neuen größeren Werke sich auf gleicher Höhe erhalten, ja bei ungeschwächter Erfindung eine Verfeinerung des Geschmacks aufweisen. Die amerikanische Episode in seinem Leben mag Dvořak persönlich als Prüfung und Entbehrung empfunden haben; ein Nachtheil für seine musikalische Entwicklung war sie nicht. Er hat auch aus den wunderlichen Naturproducten Amerikas musikalischen Honig gesaugt und bereitet. Seine Symphonie „Aus der neuen Welt“, sein reizendes Streichquintett op. 97, sein F-dur-Quartett op. 96 erquicken uns als köstliche Früchte seines amerikanischen Aufenthaltes. Dennoch halten wir es für eine glückliche Fügung, daß Dvořak seit Jahr und Tag wieder bei Frau und Kindern auf heimischem Boden schafft, in dem zärtlich geliebten Lande, das nur in Shakespeare’s Wintermärchen am Meere liegt. Man glaubt dieses sichere wohlige Behagen aus dem As-dur-Quartett herauszu hören. Nicht als ob czechische Motive sich wieder vordrängten — davon scheint sich Dvořak ziemlich emancipirt zu haben — aber es ist auch nichts Amerika nisches mehr zu verspüren. Ein sehr kurzes, dabei ungemein stimmungsvolles Vorspiel führt zu dem feinen, liebens würdigen Allegro in As-dur, durch das eine zierliche Quintolen-Figur sich neckisch schlängelt. Es folgt ein in kecken Octavensprüngen sich erlustigendes F-moll-Scherzo;

mit einem entzückend gesangvoll Mittelsatz in Des. Dem Adagio (F-dur 3/4) möchte ich den Preis zusprechen unter den vier Sätzen. Nur bei Brahms findet man noch Adagios von so entschieden idealem Zug. Welch süßer, ruhig sich ent faltender Gesang in der Oberstimme; wie einheitlich die Stimmung und doch nirgend ermüdend! Das Finale, ein rascher Zweivierteltact, strömt ohne leidenschaftliches Pathos, frisch und anmuthig dahin. Die Erfindung steht nicht ganz auf der Höhe der früheren drei Sätze; die Durchführung zeigt hin und wieder Lücken, die von etlichen kleinen Fugato- Anfängen mehr verrathen als verdeckt werden.

Den Herren Rosé, Siebert, Steiner und Hummer danken wir für die Bekanntschaft des neuen Dvorak’schen Quartetts und dessen correcte, liebevolle Aus führung. Es hat ungemein gefallen und wird es noch mehr, wenn einmal Spieler und Hörer sich darin vollkommen heimisch fühlen. Das Quartett Rosé gibt seine diesjährigen Productionen im kleinen Musikvereinssaal, womit ein großer Theil des Publicums gewiß sehr zufrieden ist. Wir wollen dem Bösendorfer-Saal nichts nachtragen, in wel chem wir unvergeßliche Musikabende genossen haben und hoffentlich noch genießen werden. Aber die Unbequemlichkeit der Zu- und Abfahrt, die bedrohliche Wagenburg im Hof raume, vor Allem aber der peinliche Zwang, sich durch ein vollgepfropftes Stehparterre zu seinem Parquetsitze durchkämpfen oder durchbetteln zu müssen — das sind Specialitäten, die wir im Musikvereinssaale mit Wonne vermissen. Was man an der Akustrik neuestens glaubte aussetzen zu müssen, ist jetzt durch eine hinter dem Podium aufgerichtete Wand glücklich getilgt. Und so hoffen wir, es werde Meister Hansen’s schmucker Concertsaal schnell wieder in Mode kommen, wie er es anfangs gewesen, als Joachim, Clara Schumann, Amalie Joachim und so viele andere berühmte Künstler sich dort mit ihren Concerten ablösten. Auf die Novität von Dvořak folgte unter vor trefflicher Mitwirkung des Pianisten Hugo Reinhold das Clavierquartett in A-dur (op. 26) von Brahms. Auch hier zeigte es sich, daß die Akustik des Saales trefflich functionire, wenn nur die Musik vom Himmel und der Beifall vom Herzen kommt.