Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Nr. 11662. Wien, Dienstag, den 9. Februar 1897 Hanslick, Eduard Wilfing, Alexander FWF Der Wissenschaftsfond.
Georg-Coch-Platz 2 1010 Wien Österreich Wien
Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Herausgegeben von Wilfing, Alexander Projektmitarbeiterinnen Bamer, Katharina Pfiel, Anna-Maria Elsner, Daniel Austrian Centre for Digital Humanities and Cultural Heritage Wien 2023

Sie dürfen: Teilen — das Material in jedwedem Format oder Medium vervielfältigen und weiterverbreiten

Bearbeiten — das Material remixen, verändern und darauf aufbauen und zwar für beliebige Zwecke, sogar kommerziell.

Der Lizenzgeber kann diese Freiheiten nicht widerrufen solange Sie sich an die Lizenzbedingungen halten. Unter folgenden Bedingungen:

Namensnennung — Sie müssen angemessene Urheber- und Rechteangaben machen, einen Link zur Lizenz beifügen und angeben, ob Änderungen vorgenommen wurden. Diese Angaben dürfen in jeder angemessenen Art und Weise gemacht werden, allerdings nicht so, dass der Eindruck entsteht, der Lizenzgeber unterstütze gerade Sie oder Ihre Nutzung besonders.

Keine weiteren Einschränkungen — Sie dürfen keine zusätzlichen Klauseln oder technische Verfahren einsetzen, die anderen rechtlich irgendetwas untersagen, was die Lizenz erlaubt.

Hinweise:

Sie müssen sich nicht an diese Lizenz halten hinsichtlich solcher Teile des Materials, die gemeinfrei sind, oder soweit Ihre Nutzungshandlungen durch Ausnahmen und Schranken des Urheberrechts gedeckt sind.

Es werden keine Garantien gegeben und auch keine Gewähr geleistet. Die Lizenz verschafft Ihnen möglicherweise nicht alle Erlaubnisse, die Sie für die jeweilige Nutzung brauchen. Es können beispielsweise andere Rechte wie Persönlichkeits- undDatenschutzrechte zu beachten sein, die Ihre Nutzung des Materials entsprechend beschränken.

Maschinenlesbares Transkript der Kritiken von Eduard Hanslick.

Nr. 11662. Wien, Dienstag, den 9. Februar 1897 Hanslick, Eduard Neue Freie Presse Morgenblatt Herausgegeben von Etienne, Michael Friedländer, Max Wien 09.02.1897
font-style:italic; font-weight:bold; Deutsch Transkribus OCR und Lektorat. Transformierung der Daten des Transkribus TEI-Export mit "editions.xsl". Formatierung und Referenzen eingefügt. Letztkorrektur für Zwischenrelease.
Zum Schubert-Jubiläum. III. (Die Festconcerte.)

Ed. H. Die Festwoche ist zu Ende. Könnte man die Stunden zusammenzählen, welche da nur von Schubert’scher Musik widerhallten, und die Schubert’schen Compositionen verzeichnen, die klein und groß in allen Wiener Concert sälen, Vereinen, Privathäusern gesungen und gespielt worden sind — es gäbe ein Resultat, das sich in Schubert’s kühnsten Traum nicht hineingewagt hätte. In seinem ganzen Leben hat der Mann, dem diese Festwoche galt, sich nicht so häufig und so gut aufführen gehört. Falls künstlerische Ver sündigung der Vorfahren wirklich von den Nachkommen gesühnt werden kann, so ist es durch die Wiener von 1897 reichlich und vollbewußt geschehen. Nicht vermögen wir all die Schubert-Concerte aufzuzählen, die, gleichsam zu einem ungeheuren Accord vereinigt, jeden fremden Ton, jedes fremde Wort weit von sich abwehrten.

Mit der Opernvorstellung der „Verschworenen“ und des „Vierjährigen Postens“ begann am 30. Januar das große Wiener Schubertfest, das, durch zehn Tage fort gesetzt, erst am 8. Februar mit einer Production des Conser vatoriums abschloß. Alle unsere Concertinstitute, die Phil harmoniker, die Musikfreunde, der Männergesang-Verein, der „Schubertbund“, die Quartettgesellschaften Rosé und Hellmesberger sind in großer Gala aufmarschirt, um mit ihrer Kunst ausschließlich Schubert zu verherrlichen. Und von den fremden Concertgebern hat keiner unterlassen, wenigstens Ein Schubertstück, Eine duftige Blume zu dem mächtigen Jubiläumskranz beizusteuern; die geistreiche, an muthige Französin Clotilde Kleeberg, der hinreißend temperamentvolle Emil Sauer, der abgeklärte große Meister d’Albert. Wer vermöchte alle die einzelnen Künstler und Vereine zu nennen, die hier in Be geisterung für Schubert wetteiferten! Ein einziges besonderes Moment möchte ich doch hervorheben, das unsere Schubert- Feier von ähnlichen Musikfesten unterschied: das Volks thümliche. Weder das hundertjährige Jubiläum Mozart’s (1856) noch das Beethoven’s (1870), geschweige denn

C. M. Weber’s (1886) haben in Wien eine so gewaltige, allgemeine, bis in die Tiefen des Volkes nachzitternde Be wegung hervorgerufen, wie die Schubert-Feier. Ich erinnere nur an die vielen am 31. Januar unentgeltlich veranstalteten und massenhaft besuchten Volksconcerte im IX., X., XI. und XV. Bezirk, an Dr. H. Schenker’s historischen Vor trag im III. Bezirk und die Festrede des hochverdienten Schweizer Musikhistorikers A. Niggli im „Schubertbund“. Schade, daß unser ausgezeichneter Schubert-Forscher Max Friedländer der Rednerbühne ferne blieb, für welche sein interessanter Aufsatz im letzten Heft der „Deutschen Rundschau“ so willkommenen Stoff geboten hätte. Auch das Quartett Rosé hat zu sehr herabgesetzten Preisen Schubert gespielt und damit eine außerordentlich zahlreiche, dankbare Hörerschaft erfreut. Diese liberale Propaganda Schubert’scher Musik und ihre starke Wirkung auf breite empfängliche Volksschichten ist in der Wiener Schubert- Feier als ein neues hocherfreuliches Element zu bezeichnen.

Die Aufgabe, ein großes Musikfest ganz aus Schubertschen Werken zusammenzustellen, ist nicht ganz so leicht. Es fehlt da an einer hinreichenden Zahl groß aufgebauter und mächtig wirkender Tonschöpfungen von classischer Vollendung, wie sie für ein Bach- und Händel-Jubiläum, ein Mozart- oder Beethoven-Fest sich darbieten. Monumentale Werke wie die C-dur-Symphonie stehen ziemlich vereinzelt in der langen Reihe Schubert’scher Werke, deren Bestes (Lied und Kammermusik) überwiegend intimen Charakter trägt. Schubert ist bei aller Genialität eine behagliche, bequeme Natur, die sich gerne gehen läßt und unbefangen wiederholt. Ein ausschließlich Schubert’sches Musikfest ist unmöglich ohne starkes Uebergewicht des rein Lyrischen, Liedmäßigen, des melodisch-homophonen Satzes. Die Wirkung Schubert’scher Musik wird durch anhaltende Alleinherrschaft nicht größer, sondern kleiner. Einzeln be zaubern seine Stücke durch ihren echt Schubert’schen Duft; in Reih’ und Glied gestellt, schaden sie einander durch ihre starke Familienähnlichkeit. Breitet sich gar diese ausschließ liche Schubert-Herrschaft, wie es der Festgedanke erheischte, über volle zehn Tage aus, so werden wir aufmerksamer und empfindlicher für gewisse Schwächen Schubert’s — obwol oder gerade weil sie so enge mit seinen bezaubernden Vorzügen verwachsen sind. Zehn Tage reichen hin, um uns

für die Reize eines ewig blauen Melodienhimmels über breiter grüner Ebene ein wenig abzustumpfen.

Gleich Mozart hat Schubert sich in allen musikalischen Kunstgattungen bethätigt. Er besaß dieselbe Vielseitigkeit, dieselbe wunderbar leichte und rasche Production wie Mozart, mit welchem er überhaupt mehr persönliche Eigen schaften gemein hat, als mit Beethoven. Die Wiener Feste haben Schubert in allen Musikgattungen repräsentirt. Am knappsten natürlich in der Oper, wo mit voller Beruhi gung doch nur den „Verschworenen“ ein wirklicher Erfolg zu versprechen war. Der Symphoniker glänzte durch die große C-dur-Symphonie und die unvollendete in H-moll, deren Schönheiten durch die Philharmoniker unter Hanns Richter’s Leitung zu entzückender Wirkung ge langten. So anhaltend jubelnden Beifall haben diese Stücke noch nie erlebt. Die Aufführung strahlte wirklich in solcher Vollendung, daß man die unleugbaren Längen beider Werke kaum zu empfinden schien. „Länge“ in der Musik ist ein relativer Begriff: ein Beethoven’sches Adagio oder Finale, das genau so viele Minuten dauert wie das Adagio oder das C-dur-Finale von Schubert, erscheint uns nicht zu lang; denn auch die melodiösesten Symphoniensätze Beethoven’s entbehren niemals einer kräf tigen polyphonen Musculatur, eines festen contrapunktischen Rückgrates; auch vergessen sie nie auf contrastirende Epi soden, wo die Gefahr lyrischer Monotonie eintritt. Schu mann’s Entzücken über die „himmlische Länge“ der C-dur- Symphonie möchten wir als einen liebenswürdigen Charakter zug im Bilde Schumann’s nicht missen; in der Sym phonie selbst finden wir Alles himmlisch, nur gerade die Länge nicht. Dieses schwelgerische Ausgenießen einer Melodie, dieses unersättliche Wiederholen derselben Themen wird noch auffallender in Schubert’s Kammermusik, weil hier die Mannigfalt der Klangfarben entfällt.

Durch den künstlerischen Wetteifer unserer Quartett vereine bekamen wir die köstlichsten Früchte Schubert’scher Kammermusik zu genießen: bei Hellmesberger das D-moll-Quartett, das C-dur-Quintett und das Octett; bei Rosé das (jüngst von Joachim aufgeführte) G-dur- Quartett, das B-dur-Trio und abermals das Octett. Den Clavierpart des B-dur-Trios spielte Fräulein Caroline Geißler-Schubert, eine Enkelin Ferdinand Schu

bert’s. Das Erscheinen der bescheidenen, lebenswürdigen jungen Dame, die als Clavierlehrerin in London ansässig und angesehen ist, brachte in den allgemeinen Schubert-Enthusiasmus noch einen persönlichen gemüthlichen Familienzug. Franz Schubert hatte vierzehn Geschwister, sein Bruder Ferdinand nicht weniger als 28 Kinder — seltsam genug, daß von dieser so ausgebreiteten Familie ein einziges Glied, nämlich Caroline Geißler-Schubert, musika lisches Talent gezeigt und sich künstlerischem Beruf gewidmet hat. Wieder ein Beitrag zu den Streitschriften für und gegen die Erblichkeitstheorie. Fräulein Geißler erwies sich im Vortrag des B-dur-Trios und der sogenannten Phantasie-Sonate“ in G-dur, op. 78, als eine correcte und feine Pianistin. Hinreißend wirkte ihr Spiel keineswegs und hätte das, selbst bei schärfer ausgeprägter Individualität, kaum vermocht in unserem großen Musikvereinssaal. Zarte, intime Musik zerflattert, zerstäubt ja machtlos in diesen Räumen. Schon das Trio erreichte nicht die Hälfte seiner in kleinerem Raume sicheren Wirkung, geschweige denn die Claviersonate mit ihrer zierlichen Anmuth und idyllischen Vergnügtheit. Wer Tags zuvor im Operntheater die „Ver schworenen“ gehört, der wird die Melodie „Ich möchte so gerne sie kosen und herzen“ Note für Note in der G-dur- Sonate wiedergefunden haben.

Uebergehen wir zur Vocalmusik, so begegnen wir Schubert zuerst auf dem von ihm so reich und glücklich be dachten Gebiete des Chorgesanges. In den officiellen Festconcerten wetteiferten darin der Wiener Männergesang- Verein mit dem Schubertbund. Ersterer sang unter Kremser’s Leitung drei der bekanntesten Chöre („Nur wer die Sehnsucht kennt“, „Gondelfahrer“ und „Gesang der Geister über den Wassern“) mit gewohnter Vollendung. Der von Herrn Kirchl dirigirte Schubertbund hatte gleichfalls den „Gesang der Geister“ gewählt, dann die Nachthelle“, „Der Entfernten“ und den „Nachtgesang im Walde“. Gerne hätten wir eines dieser schönen, aber sehr bekannten Stücke hingegeben für die kraftvollen, selten ge hörten Maurenchöre aus „Fierrabras“, deren unsere Ver eine sich gar nicht mehr zu erinnern scheinen. Wie lange ist’s her, daß Herbeck mit Gesangstücken aus „Fierrabrasdas Publicum entzückt hat. Auch die Damen haben tapfer und rühmlich mitgewirkt als Solistinnen und im Ensemble. Ihr

Verdienst war unter Anderm: der Genienchor aus der Zauberharfe“ (Wiener Sing-Akademie und Lehrerinnenchor), das Grillparzer’sche Ständchen mit Alt-Solo (Fräulein Walker und der Singverein), endlich der gemischte Chor Gott in der Natur“, dirigirt von Herrn R. v. Perger.

Es lag in dem Charakter der Jubiläums-Concerte, daß Schubert als Liedercomponist nur spärlich vertreten war, also numerisch am schwächsten in dem Zweige, der sein Genie am stärksten, originellsten und fruchtbringendsten zeigt. Ueber die Kurzsichtigkeit, welche in Schubertnur den großen Liedercomponisten erblicken wollte, ist unsere Zeit längst hinaus. Wahr bleibt aber, daß Schubert im Liede alle seine Vorgänger und Zeitgenossen übertroffen, in der Musikgeschichte ohne Nebenbuhler emporragt. Das Lied ist die einzige Musikgattung, die erst nachBeethoven zu voller Entfaltung und hohem Range gelangte, und das war die That Franz Schubert’s. ... Mit dem Vortrage Schubert’scher Lieder hat Frau v. Türk-Rohn lebhaften Beifall geerntet. Sie kann dessen stets sicher sein, wenn sie ihrer Individualität gemäße Lieder wählt. Ihre liebliche, aber kleine, einfärbig helle Stimme und ihre im Zierlichen reizende, aber starker Leidenschaft unzugängliche Vortrags weise sind an ziemlich enge Grenzen gebunden. „Mirjam’s Siegesgesang“ (einst eine Glanznummer der Wilt) ver langt eine umfangreiche, kraftvolle Stimme, die in jubeln dem Aufschwunge Chor und Orchester durchdringt; gegen solche Aufgaben reagirt das Organ und die ganze Persön lichkeit der graziösen Frau. Nebst Frau v. Türk haben sich die Herren Winkelmann und Reichmann höchst erfolgreich an der Schubert-Feier betheiligt. Opern sänger von eminent dramatischer Richtung sind selten gute Liedersänger; sie glänzen auf diesem Gebiete nur aus nahmsweise und innerhalb streng gezogener Grenzen, von denen freilich der Künstler selbst meistens nichts wissen will. Herrn Winkelmann, welcher „Die Allmacht“ sang, habe ich leider versäumt, hingegen dem Triumph des Herrn Reich mann im großen Musikvereinssaale beigewohnt. Mit drei Liedern voll düsterer Schwermuth — „Doppelgänger“, Wanderer“, „Am Meere“ — hatte er eine richtige Wahl getroffen; sie fanden im Klang seiner Stimme und seinem schweren Pathos den überzeugendsten Widerhall. Nur das Lied An die Musik“ schien uns zu tief in Melancholie getaucht,

zu oft von Seufzern unterbrochen. Ueber Schubert’s Dank an die „holde Kunst“ schwebt keine tragische Gewitterwolke, vielmehr ein Goldglanz von Zufriedenheit und Herzlichkeit. Mit unbeschreiblichem Jubel wurde am nächsten Abend Gustav Walter empfangen. Seit einiger Zeit der Oeffentlichkeit entfremdet, hat er uns wieder mit einigen von den Liedern erfreut, die ihm Keiner nachsingt. („Sei mir gegrüßt“, „Ungeduld“, „Liebesbotschaft“, „Wohin?“) Ja, wenn Einer nicht fehlen durfte beim Schubert-Jubi läum, so ist es unser Walter. Die „Schöne Müllerin“, Die Winterreise“, die zartesten Lieder aus Goethe und Heine, sie erwecken in uns sofort die Erinnerung an Walter’s Gesang. Seit 25 Jahren hat er sie uns ins Herz gesungen, und Keiner hat sie oder ihn daraus verdrängt. Walter’s Liederabende behaupten bereits einen ehrenvollen Platz in der Wiener Musikgeschichte. Wie sehr aber dieser Sänger noch der Gegenwart angehört, noch heute durch seine Gesangsbildung und warme Empfindung entzückend, das hat er in dem Schubert-Festconcerte vom 4. Februar aufs schönste gezeigt.

Als geistlicher Tondichter war Schubert gleich im ersten Festconcerte durch eine Arie aus der Ostercantate „Lazarusrepräsentirt, für deren edlen Vortrag wir Frau Leonore v. Bach verpflichtet sind. Nun fehlte noch zur Vollständigkeit des Programmes, das eine großartige Rundschau über Schubert’s gesammtes Schaffen darzustellen hatte, die eigent liche Kirchenmusik. Die Aufführung der Es-dur- Messe im großen Musikvereinssaale bildete den impo santen Abschluß der vier officiellen, von der Stadt Wien veranstalteten Schubert-Concerte. Hofcapellmeister Richter commandirte ein ganzes Heer von Sängern und Instrumen talisten, welche in gedrängter Aufstellung das ganze Podium füllten: das Philharmonische Orchester, der Singverein, der Wiener Männergesang-Verein. Ein schöner Einfall Richter’s ließ die Sängerknaben der Hofcapelle im Chor mitwirken; die Erinnerung daran, beim Jubiläum Schubert’s, des so groß gewordenen kleinen Hofcapell sängers, mitgesungen zu haben, wird sie noch in späten Jahren erfreuen. Frau Baronin Leonore Bach, Frau Gisela Körner, die Herren Gustav Walter, Dippel und Weiglein sangen die Soli, welche keinem Einzelnen ein dankbares Hervortreten gönnen, mit um so rühm

licherer Hingebung an das Ganze. Die Es-dur-Messe, Schubert’s letzte und größte Kirchen-Composition, war nach ihrer ersten und einzigen Wiener Aufführung in der St. Ulrichskirche (1829) bald nach Schubert’s Tode völlig verschollen; selbst Kreißle (dessen Schubert-Biographie 1864 erschien) kannte sie noch nicht. Brahms, der in Wien zuerst zwei Sätze der As-dur-Messe aus dem Manuscripte zur Aufführung gebracht hat, vermittelte auch die Veröffentlichung der Es-dur-Messe bei Rieter-Bieder mann im Jahre 1865. Wir erlebten Sonntags deren erste vollständige Aufführung — im Concertsaale. Die Ver pflanzung eines Kunstwerkes an einen Ort und in eine Umgebung, wofür es schlechterdings nicht bestimmt war, hat immer ihre Unzukömmlichkeiten. Der Bruch, der im Begriff einer Kirchenmusik liegt, wird uns kaum in der Kirche, aber recht sehr im Concertsaal bemerkbar. In dem Compromiß zwischen der Kirche und dem musikalischen Kunstwerk wird das größere Opfer stets auf Seite des letzteren sein. Auch dem genialsten Tonkünstler sind durch die kirchlichen Vorschriften die Hände gefesselt, sogar zeitweilig eine Maske vorgebunden, hinter welcher man sein wahres Gesicht nicht erkennt. Die liturgischen Gesetze und die musikalische Tradition bringen nothwendig in alle Messen eine gewisse Familienähnlich keit, eine allgemein gleichmäßige Färbung, welche dem kirch lichen Bedürfnisse entspricht, im Concertsaale aber, wo die verstärkende und erklärende Mitwirkung des Gottesdienstes ausbleibt, uns leicht etwas ungeduldig macht. Es mag auf einer Einseitigkeit meinerseits beruhen, daß ein herrliches Lied, ein Symphonie- oder Quartettsatz mir den echten Schubert viel näher bringt, lebendiger offenbart als die große Es-dur-Messe. Das liegt nicht an Schubert, aus dessen kräftigster Zeit sie stammt, sondern an Inhalt und Form des Meßtextes. Man kann Schubert nur bewundern, daß sein Genie diese Hemmnisse in so vielen Theilen dieser Messe siegreich durchbrach und Schönheiten ersten Ranges zu Tage förderte. Da, dem Vernehmen nach, eine Wieder holung der Es-dur-Messe beabsichtigt ist, wird sich Gelegen heit zu einer nachträglichen Würdigung dieser Schönheiten bieten. Für heute haben wir schon auf die Geduld unserer Leser gesündigt, ein zu langes Feuilleton ist niemals „himmlisch“.